Efeu - Die Kulturrundschau

Ich war jung, ich konnte und wollte es sportiv

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04.12.2018. In der Welt taucht Cecilia Bartoli ohne Sauerstoffgerät in Vivaldi-Arien. Die SZ freut sich über den neue politischen Video-Realismus der Turner-Preis-Kandidaten. Die taz weiß: Wer in Kinshasa dazugehören möchte, trägt nicht Yves Saint Laurent, sondern Comme des Garçons, Yohji Yamamoto oder Issey Miyake. Außerdem verachtet sie ein letztes Mal die Menschheit mit den Schlachtenbildnern von Slayer. Das Schweizer Architekturmuseum in Basel feiert die städtische Verdichtung mit einer Grillparty im Innenhof, die NZZ macht lieber die Fenster zu.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.12.2018 finden Sie hier

Design

Foto aus der Ausstellung "L'Asie rêvée d'Yves Saint Laurent"


Wem es in Paris mit dem Vandalismen der Gelbwesten zu brenzlig wird, kann sich im Musée Yves Saint Laurent in Sicherheit bringen, schreibt Annabelle Hirsch in ihrer Modekolumne für die taz: "Gezeigt wird hier, in den ehemaligen Arbeitsräumen des französischen Couturiers Yves Saint Laurent, wie sich dieser Ende der siebziger Jahre, genauer 1977, also just als die Globalisierung begann und dazu führte, dass wir uns heute mehr nach Gesinnung als nach Weltregion kleiden, an traditionellen Gewändern aus Asien versuchte. Was wir hier durch bunt leuchtende, mit Blumen bestickte Seidengewänder, mit Steinen besetzte und wie Goldregen funkelnde Kleider, Brokat-Kimonos und bauchfreie Saris entdecken, ist das China der Kaiserzeit, Japan und Indien." Hier werde einem rasch "bewusst, wie weit wir uns von dieser Welt, von dieser Idee der Mode als kulturellen Evokationsraum weg entfernt haben."

Sapeurs, Foto aus dem Archiv Henrike Naumanns


In der taz stellt Beate Scheder die Arbeit der Künstlerin Henrike Naumann vor, die sich der Archivierung der Kultur der Sapeurs widmet. Sapeurs, das sind die Mode-Dandys der Achtziger etwa in Kinshasa. Während die meisten von ihnen sich für französische Mode interessierten, entwickelte sich in Kinshasa ein ausgesprochenes Faible für japanische Mode, "seit 1986 zumindest, als der für die Sapeurs stilprägende Musiker Papa Wemba für ein Konzert nach Tokio reiste. Wer in Kinshasa dazugehören möchte, trägt folglich nicht Yves Saint Laurent, Chanel oder Dior, sondern Comme des Garçons, Yohji Yamamoto oder Issey Miyake."
Archiv: Design

Kunst

Two Meetings and a Funeral (2017), Hessisches Landesmuseum, Kassel, documenta 14, Foto: Michael Nast


Die Tate Britain präsentiert die Künstler, die in diesem Jahr für den Turner-Preis nominiert sind. Und Catrin Lorch gefällt in der SZ ausgesprochen gut, was sie da sieht: Naeem Mohaiemen, Eyal Weizman, Luke Willis Thompson oder Jane und Louise Wilson sind alle im Video-Realismus verwurzelt, ihre Arbeiten blicken genau, wenn auch sehr subjektiv auf die Gegenwart: "Doch genau das ist die Qualität dieser Werke. Das Kunstvideo ist keine Nachrichtensendung, und das Museum keine öffentliche Rundfunkanstalt mit paritätischen Aufsichtsgremien. Kunst ist der Raum, in dem gesagt werden darf, was ein Künstler - nur seinem eigenen Werk verpflichtet - über seine Welt, seine Zeit sagen muss. Die Jury, die in diesem Jahr vier Künstler für den wichtigsten Kunstpreis der Welt nominiert hat, die zutiefst der Gegenwart und ihren Traumata zugewandt sind, hat gut gearbeitet. Wer von ihnen nun ausgezeichnet wird, ist nach diesem Statement gar nicht mehr entscheidend." Auch im Guardian feierte Adrian Searle die Schau als "das beste Line-up seit Jahren", Mark Brown sieht "die politischste Ausstellung in der Geschichte des Turner-Preises".

Besprochen wird außerdem die Otto-Mueller-Ausstellung "Maler. Mentor. Magier" im Hamburger Bahnhof in Berlin (FAZ).

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Film

Besprochen werden Rainer Sarnets Gruselfilm "November" (Tagesspiegel), Eva Spreitzhofers Komödie "Womit haben wir das verdient?" über ein Elternpaar, dessen Tochter zum muslimischen Glauben wechselt (Standard), Paul Abbotts Krimiserie "No Offence" (FR) und die auf Sky Atlantic gezeigte Serie "Kidding" mit Jim Carrey (FAZ).
Archiv: Film

Literatur

Erschütternd empfand die syrische, in Deutschland lebende Schriftstellerin Rosa Yassin Hassan die Lektüre von Hannah Arendts 1943 verfasstem Essay "Wir Flüchtlinge", wie sie in der "10 nach 8"-Reihe auf ZeitOnline schreibt. Sie sieht zahlreiche Parallelen zu ihren eigenen Erfahrungen: "Tiefer Schmerz begleitete mich in jener Zeit. Mir ging es genauso, wie du es beschriebst: Wenn wir gerettet werden, beleidigt man uns, wenn uns geholfen wird, sind wir enttäuscht und fürchten uns davor, zu Bettlern zu werden. Das wurde bei mir zu einer fixen Idee, und alles in meiner Umgebung bestätigte dieses Gefühl noch: vom wütenden Gebrummel des Busfahrers bis hin zu meiner deutschen Nachbarin, die mich stets anstarrt, als sei ich ein Wesen von einem anderen Stern."

Die Welt hat ihr großes Gespräch mit der französischen Schriftstellerin Delphine de Vigan aus der Wochenendausgabe online nachgereicht. Insbesondere Virginie Despentes fühlt sie sich verbunden, eine Hauptströmung in der französischen Literatur sieht sie allerdings nicht. "Individualität ist ihr herausragendes Merkmal. Es gibt eine unglaubliche, so noch nie da gewesene Freiheit im Schreiben. Früher gab es all diese Schulen, den Nouveau roman, der viele Codes und Muster zerlegt hat. Das kam uns zugute. Heute ist alles möglich. Man kann sich mit Codes und Genres amüsieren, sich ihrer bedienen, um neue Grenzen auszuloten. Annie Ernaux und Emmanuel Carrère beispielsweise haben wirklich Tore geöffnet. Es ist alles möglich, und doch gibt es nur eine Literatur."

Weitere Artikel: In der Jungle World spricht David Hellbrück mit Herausgeberin Diana Rosdolsky über den Briefwechsel zwischen Paul und Ernst Federn aus den Jahren 1945 bis 1947. Katrin Hillgruber berichtet im Tagesspiegel vom Berliner Symposium "Wörter schlafen nicht".

Besprochen werden Maggie Nelsons "Bluets" (Republik), Martin Walsers "Spätdienst" (NZZ), Ulinka Rublacks "Der Astronom und die Hexe: Johannes Kepler und seine Zeit" (Zeit), Henri Matisse' mit Texten von Botho Strauß versehenes Buch "Estampes" (FR), Juan Gabriel Vásquez' "Die Gestalt der Ruinen" (SZ), Pascal Jousselins Comic "Unschlagbar" (Tagesspiegel) und Nathalie Quintanes Essay "Wohin mit den Mittelklassen?" (ZeitOnline).
Archiv: Literatur

Architektur

Verdichtung als Ausstellungserlebnis: "Dichtelust" in Basel. Foto: SAM 

Gar nicht überzeugt ist NZZ-Kritikerin Daniela Meyer von einer Ausstellung im Schweizer Architekturmuseum in Basel, die Lust auf städtische Verdichtung machen will, um Zersiedelung und Agglomeration aufzuhalten: "Wo viele Leute wohnen, so ungefähr die fröhliche Botschaft, ist auch viel los, dort findet soziale Interaktion statt." Also in die Höhe bauen, Wohnungen verkleinern, und Sportplätze überbauen? "Wo viele Leute auf engem Raum leben, ganz gleich, ob in der Stadt oder auf dem Land, treffen unterschiedliche Bedürfnisse aufeinander. Die Grillparty im Innenhof bereitet den einen Freude, raubt aber dem Nachbarn, der Frühschicht hat, den Schlaf. Dichtestress entsteht auch, wenn wir uns von unserem Zuhause wegbewegen. Die Züge sind besetzt, die Straßen verstopft. Die Vermutung, dass es viel mehr der geteilte Raum außerhalb der eigenen vier Wände ist, wo Nutzungskonflikte entstehen, kommt auf - nicht zuletzt, weil die Modelle in diesem Museum so dicht an dicht stehen, dass man ständig davor Angst hat, eines von ihnen anzurempeln."

In der FAZ zeigt sich Berlins ehemaliger Baudirektor Hans Stimmann entgeistert über Pläne in Lübeck, ein riesiges Parkhaus hinter das Buddenbrookhaus zu setzen. Und das in dieser "extrem schönen" Altstadt: "Was sich auf der Rückseite der Kulisse des Bürgertums bis zur Beckergrube an Hässlichkeit ausbreitet, schließt jeden Gedanken an irgendeine Art von Unterschutzstellung aus."
Archiv: Architektur

Bühne

In der Welt unterhält sich Manuel Brug mit der verehrungswürdigen Mezzosopranistin Cecilia Bartoli über Barock und Belcanto, über Händel und Rossini sowie die Entdeckung der Vokalstücke des handfesten Vivaldi: "Das war toll, endlich konnte ich als Italienerin mit meinen Landsleuten auch Barockmusik machen. Das hat einen anderen Elan als mit deutschen oder französischen Spezialisten. Aber … Diese Arien waren so unglaublich schwer! Obwohl ich dachte, bei Rossini schon alles an Vokalakrobatik ausprobiert zu haben. Vivaldi hat wohl selbst die Kastraten, die für ihren langen Atem bekannt waren, bis an die Grenzen gefordert. Mir wurde oft schwarz vor Augen, ich fühlte mich wie ein Tiefseetaucher, dem der Sauerstoff ausgeht... Nun, ich war jung, ich konnte und wollte es sportiv."

Weiteres: taz-Kritikerin Astrid Kaminski interviewt die neue Intendantin des Tanztheaters Wuppertal, Bettina Wagner-Bergelt, zu ihrem neuen Posten, den sie  nach dem Rauswurf von Adolphe Binder übernimmt. Besprochen werden Bellinis "Puritaner" an der Oper Frankfurt (FR, FAZ), Richard Strauss' Oper "Ariadne auf Naxos" mit Christian Thielemann in Dresden (FAZ, FR), Ersan Mondtags provokante "Salome"-Inszenierung  im Gorki-Theater (FR), Komödien an Wiener Bühnen (SZ), Anna Bergmanns Inszenierung von Ingmar Bergmans "Persona" in den Kammerspielen des Deutschen Theaters (Tagesspiegel) und Rudolf Freys Inszenierung von Ferenc Molnárs "Liliom" im Landestheater Niederösterreich (Standard).
Archiv: Bühne

Musik



"Und dann heulen die Gitarren auf, die Flammenwerfer pinseln ein Inferno in die Luft", schreibt Jens Uthoff in der taz: Slayer haben auf ihrer Abschiedstour in Berlin haltgemacht und das Berliner Popfeuilleton war geschlossen anwesend. "Sollten Slayer sich tatsächlich verabschieden, wird der Welt auch ein originärer Pop-Entwurf fehlen. Slayer sind ein Musik gewordenes Schlachtengemälde, die Band hat wie keine andere das katastrophische 20. Jahrhundert und das Zeitalter industrieller Massenvernichtung abgebildet - und dem beginnenden 21. Jahrhundert begegnen sie ebenfalls mit Drastik", philosophiert Uthoff im weiteren und Johannes von Weizsäcker pflichtet in der Berliner Zeitung bei: "Die komplette Menschheit ist bei Slayer zu verachten, ihre Geschichte eine einzige Aneinanderreihung von Krieg, Massenmord, Folter und verkommener Religion." Der Abend glich einem "Heavy-Metal-Staatsbegräbnis", meint Maurice Wojach in der Märkischen Allgemeinen, die Fans trugen die Band "angemessen zu Grabe". Tagesspiegel-Kritiker Erik Wenk hätte sich insgesamt mehr Pomp und Gala gewünscht, ihm verlief der Abend "ein wenig zu routiniert".

In Nairobi traf sich die afrikanische Musikbranche zum Acces-Kongress, auf dem laut Max Nyffeler in der FAZ viel positive Energie zu spüren war: "Diskutiert wurde ausgiebig und zielgerichtet. Kein Gejammer über nicht funktionierende Strukturen, sondern Zukunftsoptimismus, keine falschen Erwartungen an ein grenzenlos spendables Europa, sondern Wille zur Veränderung der Verhältnisse."

Weitere Artikel: Stephanie Grimm porträtiert in der taz Gudrun Gut, die mit "Moment" ein neues Album vorlegt (mehr dazu auch bei Byte.FM). Hier eine Single daraus:



Besprochen werden Tobias Lehmkuhls Biografie über Nico (FR), Earl Sweatshirts Album "Some Rap Songs" (SZ), ein Konzert des City of Birmingham Symphony Orchestras unter Mirga Grazinyte-Tyla (Tagesspiegel), neue Wiederveröffentlichungen, darunter die Compilation "Kreaturen der Nacht. Deutsche Post-Punk Subkultur 1980-1984" (SZ), und das neue Album von Jon Spencer (Pitchfork).
Archiv: Musik