Efeu - Die Kulturrundschau

Voller Trotz und Euphorie

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08.12.2018. Die SZ sieht im belgischen "Afrikamuseum" mit Schrecken, wie man die eigene Kolonialgeschichte als Erfolgsgeschichte deutet. Die taz verabschiedet endgültig das Etikett des "weiblichen Schreibens". In der Zeit ist Astrid Lindgrens Tochter Karin Nyman not amused über Pernille Fischer Christensens Film "Astrid". Im Monopol-Magazin spricht Nobuyoshi Araki über seine Bondage-Fotos. Und die Popkritiker trauern um Buzzcocks-Sänger Pete Shelley.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.12.2018 finden Sie hier

Kunst

Wie man mit der kolonialen Vergangenheit nicht umgehen sollte, lernt Jörg Häntzschel in der SZ im belgischen Tervuren, wo heute nach fünf Jahren das Afrikamuseum wiedereröffnet wird. Allzu viel hat sich nicht geändert, seit Leopold II. sein Museum über Afrika 1898 als Showroom für seine kongolesische Privatkolonie eröffnete, stellt Häntzschel fest: Gebäude und große Teile der Innenausstattung stehen unter Denkmalschutz. Am "qualvollsten" scheint ihm der Saal, der sich mit der Kolonialzeit beschäftigt: "Statt die Geschichte in der Zeit vor der Kolonialisierung beginnen zu lassen, um dann vom Grauen zu erzählen, das Belgien über das Land brachte, beginnt die Erzählung mit dem Grauen, um dann die Entwicklung hin zur Unabhängigkeit 1960 nachzuzeichnen, fast eine Erfolgsgeschichte. Die Gewaltexzesse damals sind alle benannt, man zeigt die Ketten und Folterwerkzeuge und Fotos von den zur Strafe abgeschlagenen Händen, doch es bleibt immer ein Vorbehalt. 'Hunderttausende, vielleicht sogar Millionen starben', heißt es immer wieder, obwohl der Konsens bei um die zehn Millionen liegt, etwa die Hälfte der Bevölkerung. Und lasst uns nicht die Fortschritte im Gesundheitswesen vergessen, und bei der Bildung!"

Zu Unrecht wird der japanische Fotograf Nobuyoshi Araki auf seine Kinbaku-Fotografie, jene Bilder von gefesselten und nackt von der Decke hängenden Frauen reduziert, meint im Monopol-Magazin Silke Hohmann, die sich anlässlich der heute eröffneten Araki-Ausstellung im c/o-Berlin mit dem Fotografen in Japan getroffen hat. In Japan werde Bildern mit erotischen Inhalten schon immer "die gleiche Kunstfertigkeit und Wertschätzung zuteil wie Landschaftsansichten oder Stillleben", schreibt sie. Und Araki erklärt: "Es bin nicht nur ich, der von Kinbaku fasziniert ist, sondern es sind mehr und mehr auch die Frauen, die von mir gefesselt und so fotografiert werden wollen. Lady Gaga zum Beispiel kam zu mir und wollte, dass ich sie fessele. In solchen Situationen denke ich manchmal, dass ich eigentlich von ihnen gefesselt werde."

Weitere Artikel: In der taz erzählt Marlene Militz die Geschichte von "Mandu Yenu", jenes Throns der von Sultan Njoya von Bamun vor 110 Jahren Kaiser Wilhelm II. unter etwas anderen Umständen geschenkt wurde, als das Ethnologische Museum in Berlin glauben machen will. "Großartige" und innovative Kunst von afrikanischen Künstlern kann man indes derzeit bei der Prizm Art Fair in Miami sehen, wie Monica Uszerowicz auf Hyperallergic schreibt.

Besprochen wird eine Tintoretto-Doppelschau in Venedig (Tagesspiegel), die Art Basel (Tagesspiegel, FAZ) und die Ausstellung "Unheimlich real. Italienische Malerei der 1920er Jahre" im Museum Folkwang, Essen (FAZ).
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Literatur

2018 gingen die wichtigsten deutschen Literaturpreise fast ausnahmslos an Frauen, hält Dirk Knipphals in der taz fest - und keine dieser Auszeichnungen erweckte auch nur den Verdacht, bloß eine Solidaritätsgeste im #MeToo-Jahr gewesen zu sein. Der Betrieb wandelt sich: "Gut im Gedächtnis ist noch der Slogan von einem literarischen Fräuleinwunder. Der Spiegel hat mit ihm 1999 eine neue deutsche Autorinnengeneration beschrieben. Wer versucht ist, ihn nun angesichts der aktuellen Preisträgerinnen aus der Mottenkiste zu holen, würde sich als Kritiker schlicht lächerlich machen. Esther Kinsky, Terézia Mora, Inger-Maria Mahlke, Judith Schalansky, das sind gestandene Autorinnen; Verniedlichungen aller Art prallen schlicht an ihnen ab." Auch das Etikett "weibliches Schreiben" verabschiede sich zusehends: "Dieser Begriff passt längst nicht mehr. Zum einen wird man Schwierigkeiten haben, aus den jeweils höchst eigenwilligen Schreibansätzen der Preisträgerinnen überhaupt Gemeinsamkeiten herauszuinterpretieren. Und zum anderen hat der Begriff zumindest eine Schlagseite in die Richtung, männliches Schreiben als Norm zu setzen."

Ayşe Gülen Eyi erzählt in der taz die Geschichte der türkischen Journalistin und Schriftstellerin Suat Derviş, die sich in den frühen 30ern mit Zeilenhonoraren durch Berlin schlagen musste und in der Türkei gerade dank einer neuen Biografie wiederentdeckt wird: "Die Verlegerin Ayla Duru Karadağ erkennt in Suat Derviş' Fortsetzungsromanen aus den 1940er Jahren eine starke feministische Ader: 'In den verfügbaren Texten liest man von Suat Derviş an keiner Stelle den Satz 'Ich bin Feministin'. Aber die Frauen in ihren Romanen sind feministisch, frei und selbstbestimmt.' Dass die Protagonistin in ihrem Roman Fosforlu Cevriye ("Die grelle Cevriye") bereits den Spruch 'Mein Körper, meine Entscheidung!' prägte, sei für ihre Zeit besonders bemerkenswert. 'Wir sind hier in der Türkei eigentlich erst seit etwa wenigen Jahren in der Lage, solche Parolen auf Plakate zu schreiben und laut zu rufen', sagt Karadağ. Nach der Rückkehr in die Türkei beschäftigte sich Derviş vorwiegend mit sozialen Themen und schrieb Reportagen über Obdachlose und Alkoholiker."

Weitere Artikel: Joseph Hanimann freut sich in der SZ über den morgen vergebenen Alternativen Nobelpreis für die Schriftstellerin Maryse Condé, die Cornelius Wüllenkemper in der FAZ porträtiert. Anna Fastabend pilgert für die taz durch die internationalen Buchläden Berlins: In der türkischen Regenbogen Buchhandlung etwa verkaufe sich die Biografie Kemal Atatürks besonders gut. Peter Dausend amüsiert sich im ZeitMagazin darüber, dass der Diogenes Verlag, in der Ansicht, sein Autor würde ja wohl kaum twittern, Martin Suters Twitter-Kanal hat sperren lassen. Beate Tröger schreibt in der FAZ einen Nachruf auf den Lyriker Paulus Böhmer. Die FAZ dokumentiert Judith Schalanskys Dankesrede zum Erhalt des Wilhelm-Raabe-Preises.

Besprochen werden unter anderem Edoardo Albinatis Epos "Die katholische Schule" (SZ), Anneliese Botonds "Briefe an Thomas Bernhard" (Freitag), Andreas Thalmayrs Ratgeberband "Schreiben für ewige Anfänger", hinter dessen Autor Freitag-Kritiker Jan C. Behmann, wie viele seiner Kollegen, Hans Magnus Enzensberger vermutet, der Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Hans Magnus Enzensberger (Welt) und Andrej Kurkows "Kartografie der Freiheit" (FAZ). Außerdem räumt Erhard Schütz im Freitag wieder Bücher vom Nachttisch.

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Musik



Die Popfeuilletons trauern um Punk-Urgestein Pete Shelley, der bei den Buzzcocks sang: Die spielten in ihren ersten Jahren "Songs über die elendige Langeweile oder die Freuden der Masturbation - doch anders als die anderen Punks hatte die Gruppe wenig Zerstörerisches an sich", schreibt André Boße in der Berliner Zeitung: "Die Buzzcocks hatten Bock auf Melodien, als 'Bubblegum Punk' bezeichnete man sie. ... Und genau solche Popsongs wollte er auch spielen, nur schneller. Zum Vorbild nahmt er sich die Northern-Soul-Stücke, die in seiner Geburtsstadt Wigan im dortigen Casino liefen, kurze Verliererdramen voller Trotz und Euphorie."

"Wunderbar" war Shelley, bis zuletzt sang er "wie ein junger Gott", schreibt Ulrich Gutmair in der taz: "Der Sound der Buzzcocks war geprägt gewesen von dieser hohen, hellen, frischen Jungsstimme, die so ganz anders war als die der meisten Punksänger. Nun, mit über sechzig, klang Shelley verblüffenderweise immer noch wie der junge Mann, dem wir einige der schönsten Punksongs überhaupt verdanken." Einer davon: "Ever Fallen in Love", den Gerrit Bartels im Tagesspiegel würdigt: "Der Song über die Schwierigkeiten mit der Liebe und über ihre Irrwege ist einer der besten, berühmtesten, melodiösesten und auch ikonografischsten der Punk-Ära." Wir erinnern uns gern an dieses Stück:



Weitere Artikel: Für die SZ plaudert Jan Kedves mit den verbliebenen Beastie Boys, über die dieser Tage ein (in der taz besprochenes) Buch erscheint. Besprochen werden die von Wolfgang Voigt kuratierte Compilation "Pop Ambient 2019" (Pitchfork), die Ausstellung "68 - Pop und Protest" im Kunstgewerbemuseum in Hamburg (Jungle World), Oren Ambarchis und Jim O'Rourkes Album "Hence" (Pitchfork), ein Konzert des Deutschen Symphonie-Orchesters mit Christoph Eschenbach (Tagesspiegel, nachzuhören bei Dlf Kultur), ein Mahler-Konzert des Orchesters Musicaeterna unter Teodor Currentzis (Tagesspiegel), das neue Album von The 1975 (Tagesspiegel), Hans-Eckardt Wenzels neues Album "Wo liegt das Ende dieser Welt" (Freitag), ein Liederabend mit Christian Gerhaher (Tagesspiegel) und ein Konzert der Wiener Symphoniker unter Manfred Honeck (Standard).
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Film

Astrid Lindgrens Tochter Karin Nyman is not amused über Pernille Fischer Christensens gefeierten Film "Astrid", der die Kinderbuchautorin in jungen Jahren zeigt: "Ihr missfällt, dass aus der extrem schwierigen Zeit im Leben ihrer Mutter ein 'Wohlfühlfilm' gemacht worden sei", schreibt Katrin Hörnlein in der Zeit. Lindgren selbst habe sich über diese Zeit des Aufwachsens stets ausgeschwiegen. Der Film aber "gibt Antworten, die Lindgren selbst schuldig blieb. 'Niemand kann wissen, was meine Mutter damals gefühlt und gedacht hat', sagt Karin Nyman. 'Das kann nicht einmal ich mir vorstellen.' Der Film sei gewiss nicht schlecht, sie sehe ja, dass die Menschen ihn mögen. 'Aber er gibt nicht Astrids Realität wieder, als sie 18 Jahre alt war, weder ihre Erlebnisse noch die ihrer Umgebung.' ... Unbestritten, dass Astrid Lindgren in dieser Welt fehlt. Und ein Film wie Astrid mag ein Trost sein. Wer ihn aber ansieht, um sich ihr nahe zu fühlen, der ist besser beraten, zu ihren Büchern zu greifen."

Im Konfetti-Blog des Filmdiensts verbeugt sich Lukas Foerster tief vor der Sprachkunst des 2008 verstorbenen Filmkritikers Peter W. Jansen. Zwei Stilmittel macht er an einem Satz von Jansen über Kubricks "Lolita" fest: "Zunächst die Invertierung eines adverbial gebildeten Ausdrucks, eine Umdrehung, die nicht einfach eine Umkehrung ist, sondern eher als die Rekombination einer gegebenen semantischen Gesamtmenge beschrieben werden kann: Alle Elemente und auch Allusionen des Ausdrucks werden wiederaufgenommen, aber in ein neues Verhältnis zueinander gesetzt. Anschließend folgen, in der grammatikalischen Form der Aufzählung, eine Reihe von Variationen des Ausgangsgedankens; der sprachgestalterische Freiheitsgrad wächst dabei sukzessive, gleichzeitig bewegt sich das Argument, gleichfalls schrittweise, vom allgemeinen zum Spezifischen."

Weitere Artikel: Harald Mühlbeyer spricht in epdFilm mit Filmemacherin May Spils, deren Kultfilm "Nicht fummeln, Liebling" von 1970 jetzt auf DVD veröffentlicht wurde. Für die Welt hat Elmar Krekeler Regisseur Christian Alvart, der für Netflix gerade die Serie "Dogs of Berlin" gedreht hat, auf dem Land besucht. Barbara Schweizerhof empfiehlt im Freitag Perlen auf Netflix, darunter Tamara Jenkins' "Private Life" und Nicole Holofceners "The Land of Steady Habits". Ronald Pohl vom Standard fällt aus allen Wolken angesichts der Meldung, dass das British Film Institute keine Filme mehr fördern will, in denen Bösewichte Narben tragen.

Besprochen werden David Robert Mitchells "Under the Silver Lake" (SpOn, unsere Kritik hier), Alfonso Cuaróns "Roma" (Freitag, mehr dazu hier), eine Wes-Anderson-Ausstellung im Kunsthistorischen Museum in Wien (Filmdienst) und die Serie "Homecoming" mit Julia Roberts (Freitag).
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Design

In einer epischen taz-Reportage durchleuchten Philipp Daum und Kaspar Zucker den grotesk explodierten Sneakers-Sammler-Hype sowie dessen Geschichte, wie aus einem simplen Nutzgegenstand ein heißes, cooles Sammlerobjekt geworden ist, um das sich ein Insider-Markt, verschworene Netzgemeinschaften mit eigenen Regeln und nicht zuletzt eine zu Veröffentlichungen limitierter Designs vor einschlägigen Geschäften zeltende Kaufklientel gebildet hat. "Vor ein paar Jahren fiel die letzte Grenze. 2009 verpflichtete die Luxusmarke Louis Vuitton Kanye West, den einflussreichsten Rapper seiner Zeit, seine eigenen Sneaker zu designen. Das Aufeinandertreffen von Kanye West und Vuitton wirkt auf den ersten Blick unfassbar, doch es folgte einer Logik. West stand für Menschen, die Street Wear tragen, die aus ärmeren Verhältnissen kommen, eine materialistische Klientel, für die Luxusmarken ein unerreichbares Statussymbol darstellten. Street-Wear-Marken fingen an, die Luxusmarken zu imitieren. Stussy, eine kalifornische Skatermarke, ahmte bei ihrem Logo, zwei ineinander verschränkten S, das Logo von Chanel nach."
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Architektur

Schönheit und Chancenreichtum von Großsiedlungen in Berlin-Marzahn, Rostock-Lichtenhagen oder Neuperlach lernt Gerhard Matzig in der SZ in der von Andreas Hild und Andreas Müsseler herausgegebenen Studie "Neuperlach ist schön" kennen: "Es ist verblüffend, wie einfach in der Ära der Verstädterung und der Wohnungskrise aus einem ungeliebten Kind der Nachkriegsmoderne Futurismus zu machen wäre. Umnutzen ist das Gebot der Stunde. Wobei die Studie ebenfalls deutlich macht, und auch das ist eine Überraschung, dass die Wohnzufriedenheit schon heute vergleichsweise hoch ist in Neuperlach."

Besprochen wird die Ausstellung "Frank Gehry - Hans Scharoun: Strong Resonances" der Stiftung Brandenburger Tor im Max-Liebermann-Haus (taz) und die Ausstellung "Downtown Denise Scott Brown" im Architekturzentrum Wien ("Ermüdend beiläufig", meint Hannes Hintermeier in der FAZ).
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Bühne

Heute findet mit "Die Weiden" die erste Uraufführung seit acht Jahren an der Wiener Staatsoper statt. Es ist die dritte gemeinsame Musiktheaterarbeit von Durs Grünbein und Johannes Maria Staud, die sich hier dem Rechtsruck in Europa und der Flüchtlingsfrage widmen. Im Standard erklärt Stefan Ender den Aufruhr um das Stück, ebenfalls im Standard porträtiert Ljubisa Tosic den Komponisten Johannes Maria Staud. Im Welt-Interview mit Manuel Brug sprechen Staud und Grünbein über ihren Glauben an die Oper und ihre Herangehensweise an das Thema Rechtsnationalismus. Grünbein meint: "Ich bin da ja auch in so einen Strudel geraten, man wird schnell von den Medien positioniert, auch wenn man es selbst noch gar nicht gemerkt hat. Ich möchte nicht immer wieder für die Sachsen sprechen, aber eine gewisse Renitenz, egal welcher politischen Farbe, scheint hier doch im Charakter zu liegen. Und wenn man viele Dinge vor der eigenen Haustür erlebt, dann fallen sie einem natürlich auch im Nachbarland Österreich auf. Natürlich hat so unser beider Herkunft die inhaltliche Zuspitzung verschuldet. Ich lasse mich aber ungern in ein Lager drängen. Ich bin ein Beobachter gesellschaftlicher Prozesse."

Besprochen wird Axel Ranischs Inszenierung von Sergej Prokofjews Oper "Die Liebe zu drei Orangen" am Staatstheater Stuttgart (FR), Nicolas Charauxs Inszenierung von E.T.A. Hoffmanns "Der Sandmann" am Luzerner Theater (nachtkritik), "Disaster" - Ein Theater-Game über Game-Theater von machina eX im Berliner Hebbel am Ufer (nachtkritik) und Davide Livermores Inszenierung von Verdis "Attila" zum Auftakt der neuen Saison an der Mailänder Scala (Dlf-Kultur).
Archiv: Bühne