Efeu - Die Kulturrundschau

Die Redundanzen des Rauschs

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10.12.2018. Zum Saisonbeginn an der Scala erleben NZZ und FAZ die spektakuläre Premiere von Verdis "Attila" als  Demonstration des bürgerlichen Mailands gegen das populistische Rom. Der Standard erlebt bei der Premiere von Johannes Maria Stauds und Durs Grünbeins Oper "Die Weiden" in Wien die Verkarpfung der Menschen. Die SZ fängt mit dem Kollektiv "Slavs and Tatars"   Textschmetterlinge. Und in der Welt schunkeln die Beastie Boys zu James Last.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.12.2018 finden Sie hier

Bühne

Verdis "Attila" an der Mailander Scala. Foto: Marco Brescia & Rudy Amisano

Saisoneröffnung an der Mailänder Scala. Riccardo Chailly dirigierte Giuseppe Verdis frühe Oper "Attila". Das stets glamouröseste Ereignis im italienischen Opernkalender geriet unter der Regie von Davide Livermore zum Riesenspektakel berichtet Thomas Schacher in der NZZ, mit Lichtshow, sagenhafter Kulisse und Pferden auf der Bühne. Doch die Sänger waren darüber allesamt erhaben, versichert Schacher: "Insbesondere der Attila von Ildar Abdrazakov verkörpert alles andere als einen seelenlosen Tyrannen. Wenn er in der ersten Szene hoch zu Ross in Generalsuniform heranrückt, ist er noch ein Bösewicht wie im Film. Doch im Verlauf des Geschehens nimmt der Barbar immer sympathischere Züge an. Und beim Bankett, das er nach dem Waffenstillstand für Ezio und die Römer gibt, zeigt er sich als Mann von Kultur. Zudem verströmt seine Bassstimme eine Wärme, die zu Herzen geht."

In der FAZ erlebte Klaus Georg Koch einen Abend ganz ohne Ironie. Mehr als die Inszenierung bewegte ihn jedoch der Empfang, der Staatspräsident Sergio Matarelli bereitet wurde, mit Nationalhymne und langanhaltenden Ovationen: "Jedem im Theater ist klar, was das bedeutet. Mattarella, seit knapp vier Jahren im Amt, besteht auf zivilen Umgangsformen. Auf Respekt gegenüber der Verfassung und gegenüber der Europäischen Union. Nach der Parlamentswahl im Frühjahr forderten die Populisten seinen Rücktritt. Teils waren die Angriffe verletzend - Mattarella hatte einen Bruder, der als sizilianischer Ministerpräsident gegen die Mafia vorging. Er verlor ihn durch einen Mordanschlag; nicht viele zahlen einen solchen Preis für die Prinzipien der Republik. Der demonstrative Applaus ist ein Protest gegen die Regierung. Ein Protest des bürgerlichen und des großbürgerlichen Mailands gegen das populistische Rom."

Johannes Maria Stauds und Durs Grünbeins "Die Weiden". Foto: Wiener Staatsoper/Michael Pöhn

An der Wiener Staatsoper hatte außerdem Johannes Maria Stauds Antipopulismus-Oper "Die Weiden" Premiere, mit dem Libretto von Durs Grünbein und Ingo Metzmacher  am Dirigentenpult. Standard-Kritiker Ljubisa Tosic äußert sich kritisch-wohlwollend über diese "Riveropera" der Identitäts- und Wahrheitssuche" von der Verkarpfung der Menschen, die plötzlich überall nur noch Fremde sehen: "'Die Weiden' werden als mahnendes Erinnerungsstück wichtig bleiben, als aufrüttelnde Geschichte mit aufklärerischen Absicht. Allerdings auch als Stück, das von der gewichtigen und aktuell wichtigen Thematik fast erdrückt wurde - trotz des subtilen Orchesters unter Ingo Metzmacher. Die Staatsoper aber hat sich mit dem Stück als engagierter Zeitgenosse in ungemütlichen Politzeiten zurückgemeldet."

Besprochen werden die Macbeth-Inszenierungen von Amir Rezar Koohestani in München und Nürnberg (Nachtkritik, FR, SZ, FAZ), Molières "Eingebildeter Kranke" am Staatstheater Wiesbaden (Nachtkritik), das melancholische Stück "Impression" von Heidelbergs neuem Tanzchef Iván Pérez (FR) und Verdis "Maskenball" am Staatstheater Darmstadt (FR).
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Kunst

Slavs and Tatars "Sauer Power". Installationsansicht Kunstverein Hannover, 2018. Foto: Raimund Zakowski

Linke Wandzeitungskunst ist zwar nicht unbedingt Till Brieglebs Sache, aber der Schau "Sauer Power" des "Slavs and Tatars"-Kollektiv im Kunstverein Hannover kann er sich nicht ganz entziehen, wie er in der SZ kundtut: "Es ist diese Kombination aus Wissensdurst und Schabernack, die das Forschen und Verwandeln von 'Slavs and Tatars' zu einem Prozess werden lässt, der Neugier verdient. Hier gibt es nicht These und Resultat, kein Frömmeln vor Modephilosophen oder Belehrungswut mit linken 'Post'-Präfixen. Es ist ein spröder Humor verschrobener Forscher im Designkleid auf der Suche nach Textschmetterlingen im Dschungel der Zeichen."

Weiteres: Im Standard schreibt der Schriftsteller Mario Schlembach über die in der Otto-Muehl-Kommune am Friedrichshof und in Portugal aufgewachsene Fotografin Vilma Pflaum. Georg Imdahl war für die FAZ auf der Schanghai-Biennale "Proregress: Art in an Age of Historical Ambivalenz". Eva Karcher beobachtet für den Tagesspiegel auf der Art Basel in Miami Beach große Wertsteigerungen bei Arbeiten afroamerikanischer KünstlerInnen.

Besprochen werden die große Ausstellung zu amerikanischr Kunst vor 1945 "Es war einmal Amerika" im Kölner Wallraf-Richartz-Museum (Welt) und die Marcel-Duchamps-Schau in der Stuttgarter Staatsgalerie (FAZ).
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Film

"Tret mich in den Magen, Kleines": Gaspar Noés "Climax"
Eher zwiespältig steht SZ-Kritiker Philipp Stadelmaier zu "Climax" (hier unser erstes Resümee), dem neuen Wurf des französischen Skandalfilmers Gaspar Noé: "Noé träufelt einem LSD in die Augen, während er ihm unablässig Tritte in den Magen verabreicht. So steigert sich das Schocklevel des Films in der zweiten Hälfte von 'nervig' zu 'extrem'. LSD für die Augen - immer gerne. Die Tritte hätte man sich ersparen können." Friederike Horstmann winkt in der Jungle World gleichfalls ab: Der Regisseur "liefert einen ebenso fulminanten wie auch faden Film mit großartigen Tanz- und Kamerabewegungen ab, dessen Dialoge und Texteinblendungen höchst banal geraten und der auch die Redundanzen des Rauschs nicht ausspart."

Weitere Artikel: Für den Standard spricht Dominik Kamalzadeh mit Ulrich Köhler über dessen Film "In My Room". Im Tagesspiegel empfiehlt Esther Buss dem Berliner Publikum die Werkschau Leo McCarey im Kino Arsenal.

Besprochen werden Steve McQueens "Widows" (Freitag, mehr dazu hier), die Netflix-Serie "Dogs of Berlin" (taz) und das auf Heimmedien veröffentlichte Mafiosi-Biopic "Gotti" mit John Travolta in der Hauptrolle (ein "Desaster", ächzt SZ-Kritikerin Sofia Gasl).
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Literatur

Für die Welt fährt Marc Reichwein mit Bertolt Brecht U-Bahn durch Berlin. Besprochen werden unter anderem Yoko Tawadas "Sendbo-o-te" (SZ), Gaito Gasdanows "Nächtliche Wege" (Standard), Ulla Berkéwiczs "Über die Schrift hinaus" (Umblätterer), António Lobo Antunes' "Vom Wesen der Götter" (Standard), Almudena Grandes' "Kleine Helden" (FR) und Lion Feuchtwangers unter dem Titel "Ein möglichst intensives Leben" veröffentlichte Tagebücher, deren sexprotzende Virilität Michael Naumann in der Zeit geradezu angewidert zur Kenntnis nimmt: "Ein überflüssigeres Buch hat es im Jahr eins der #MeToo-Bewegung nicht gegeben."

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Hubert Spiegel über Michael Krügers "Der Nußbaum, die Zeit":

"Der Nußbaum musste dran glauben,
um die Sehnsucht nach Ordnung zu stillen.
Vor zehn Jahren habe ich einen Trieb
..."
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Musik

Im Welt-Interview gestehen die Beastie Boys Martin Scholz ihre Liebe zu, ausgerechnet, James Last: Es ist vor allem "dieser unglaubliche funky Beat", mit dem Adam Horovitz diese unter hiesigen Pop-Experten per se verbotene Leidenschaft erklärt: "Auch die Cover seiner Alben sahen super aus. 70er-Jahre pur: Ein Mann mit großem Bart, Polyester-Anzug, und dazu dirigierte er in komisch-lässigen Posen und arrangierte Cover-Versionen von völlig verrückten Songs. ... Man erkennt alle Platten von ihm sofort am Cover, es sieht immer aus wie von einem Photoshop-Vorläufer bearbeitet." Und nachdem die beiden Boys am Smartphone "Put Your Hand In The Hand" rausgesucht haben, fällt Scholz vollends aus allen Wolken: "Die Beastie Boys schunkeln zu James Last! Man glaubt es ja nicht." Wir schunkeln mit (und in der Tat: was für ein sensationell scheußliches LP-Cover):



In der Zeit legt uns Mirko Weber Anja Lechners und Pablo Márquez' CD "Die Nacht" mit "extrem feinen" Aufnahmen von Schubert- und Burgmüller-Liedern allerwärmstens ans Herz: Insbesondere Burgmüllers Kompositionen machen diese Begegnung lohnenswert: "Wie auf Zehenspitzen - Burgmüller schrieb auch für die Bühne, fürs Ballett - bewegen sie sich in harmonischer Eleganz irgendwo zwischen Schubert und Mendelssohn. Ohne sich im wirklichen Leben gekannt zu haben, wirken dieser und Burgmüller wie Brüder im Geist: wenn sich an das a-Moll-Nocturne das Adagio-Lied 'Nacht und Träume (D 827)' anschließt, in dessen Viervierteltakt Pablo Marquéz einen befreienden Rhythmus einzieht, ehe Anja Lechner auf den Cello-Saiten so schön zu singen beginnt, dass man keine menschliche Stimme vermisst." Ein "meditativer Moment, der die Zeit anhält, ohne einen in Abgründe zu stürzen." Eine kleine Hörprobe:



Weitere Artikel: Manuel Brug ärgert sich in der Welt darüber, dass der Klassibetrieb die #MeToo-Anschuldigungen gegen Daniele Gatti zu weiten Teilen allenfalls achselzuckend zur Kenntnis nimmt. Im Freitag plaudert Jakob Buhre mit Alligatoah, der mit Goethe-Zitaten auf Platz Eins der Charts gekommen ist und früher viel Georg Kreisler gehört hat. Für The Quietus spricht Robert Barry mit David Hollander über die Geschichte von Library Music, über die er gerade ein Buch geschrieben hat. Malte Hemmerich berichtet für die FAZ vom "Dialoge"-Festival in Salzburg. Im ZeitMagazin träumt Mark Knopfler. Für Pitchfork holt Grayson Haver Black Sabbaths "Paranoid"-Album wieder aus dem Schrank. In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Katharina Cichosch über Merle Travis' und Tennessee Ernie Fords "Sixteen Tons":



Besprochen werden die vom Ersten online gestellte, von Wim Wenders produzierte Dokumentation "It Must Schwing" über die Geschichte von Blue Note Records (FR), ein Konzert der Berliner Philharmoniker unter Valery Gergiev (Tagesspiegel), Angélique Kidjos Konzert in der Hamburger Elbphilharmonie (taz), John Cales Berliner Auftritt (taz, Tagesspiegel), ein Beethoven-Abend in Frankfurt mit der Academy of St Martin in the Fields und dem Pianisten Nelson Freire (FR) und eine 21 CDs umfassende Werkschau des Art Ensemble of Chicago, das damit sein 40-jähriges Bestehen feiert (FAZ). Außerdem gibt Pitchfork die 100 besten Stücke des Jahres bekannt - hier die Nummer Eins:

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