Efeu - Die Kulturrundschau

So fahl. So entrückt.

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.12.2018. Die SZ begegnet in den Bildern Lorenzo Lottos der Mittelschicht der Renaissance. Die NYRB schwelgt in Walton Fords illusorisch-üppiger Tiermalerei. Moviepilot fragt, wer den letzten Sargnagel aufs Kino hämmert: Netflix oder Hollywoods Planwirtschaft der Superhelden. Und die taz stemmt sich mit Earl Sweatshirt "Some Rap Songs" gegen das Powerplay der Streamingdienste.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.12.2018 finden Sie hier

Kunst

Walton Ford: Nila, 1999-2000. Bild: Kasmin Gallery

Als großen Naturalisten des 21. Jahrhunderts feiert Lucy Jakub den amerikanischen Maler Walton Ford, dessen Schau "Babary" in der New Yorker Kasmin Gallery gezeigt werden: "Ford interessiert sich nicht einfach für die natürliche Welt, sondern wie Menschen sie sich angeeignet haben, dokumentiert und ausgebeutet, und wie die verschiedenen Arten mythologisiert wurden, selbst als viele von ihnen bereits aus der Wildnis verschwunden waren. Walton Ford malt Bilder über Bilder von Tieren. Seit den neunziger Jahren beschäftigt sich Ford mit der Natur-Obsession des 19. Jahrhunderts, als die Berge vor Löwen wimmelten und der Himmel vor Vögeln. Auch ich mag die Werke dieser Obsession sehr gern, die Versuche anatomischer Präzision, die charmanten Feldbeobachtungen. Die vermittelte Freude, eine Art zum ersten Mal gesehen zu haben. Und doch ist es heute unmöglich, auf diese Bilder zu blicken, ohne auch die Kosten zu sehen: Die gierige Aneignung exotischer Arten und Kulturen, die Jagd nach Profit, und das sorglose Unterschätzen unserer Fähigkeit, ganze Populationen auszulöschen, die zu verehren wir behaupten. Diese Widersprüche gehen bei Ford nicht verloren. Er meistert die üppige Ästhetik seiner Vorgänger, bringt aber auch die Absurdität und den Wahnsinn - und den Sex und die Gewalt - zurück in dieses ansonsten gesäuberte Genre."

Lorenzo Lotto: 'Portrait of a Woman inspired by Lucretia', um 1530. Bild: National Gallery

Die so innige wie melancholische Porträtkunst des Lorenzo Lotto bekommt SZ-Kritikerin Kia Vahland in einer großen Ausstellung in der Londoner National Gallery in London zu sehen. Den Renaissancemaler unterscheidet von seinen Zeitgenossen, wie Vahalnd schreibt, dass er gerade nicht in den großen Zentren malte, sondern von Venedig in die Provinz zog: "Vielleicht hatte Lotto in Venedig nicht dauerhaft Fuß gefasst. Vielleicht aber fühlte er sich in der Provinz freier, seinen eigenen Stil durchzusetzen. Hier nämlich bestimmten nicht Dogen, Kirchenherren, international vernetzte Kaufleute die Agenda der Kunst. Stattdessen kamen Goldschmiede, Mönche, Anwälte in Lottos Atelier. Die Mittelschicht der Renaissance also, die nun, nachdem Porträts auch in Italien in Mode gekommen waren, gemalt werden wollte, für die Ehre und für die Nachfahren... Man wüsste gerne, wie genau die Männer und Frauen reagiert haben, als sie sich plötzlich mit Lottos Augen sahen. So fahl. So entrückt. Und so alleingelassen mit der Welt, die mit funkelnden Halsketten, teuren Textilien, Büchern, Pelzen ausstaffiert ist, und trotzdem suchenden Seelen scheinbar kein Zuhause zu bieten vermag."

Besprochen werden die allseits gefeierte Anni-Albers-Ausstellung in der Londoner Tate Modern, die zuvor im Düsseldorfer K20 weithin ignoriert worden war (NZZ), eine Ausstellung "Pieces of You Are Here" der Fotografin Lorna Macintyre in der Dundee Contemporary Arts (Guardian), die Schau "Women Power Protest" im Birmingham Museum (Guardian), die Ausstellung "Berlin in der Revolution" im Museum für Fotografie (FR) und die Ausstellung "Zwischen Ideologie, Anpassung und Verfolgung" zu Kunst im Nationalsozialismus in Tirol im Innsbrucker Ferdinandeum (Standard).
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Film

Für Moviepilot wirft Rajko Burchardt einen umfangreichen Blick zurück auf das Kinojahr 2018, in dem sich zwei große Reizthemen herauskristallierten: Zum einen die "fast planwirtschaftlich anmutende" Präsenz der Superhelden ("sogar das Starsystem wurde dieser Besessenheit geopfert") und die cinephile Gretchenfrage danach, wie man es mit Netflix halten soll: Manche halten Netflix für den letzten Sargnagel, den es braucht, um die Filmkunst aus den Sälen zu treiben, andere sehen darin ein Auffangbecken und Refugium für all jene Filmemacher, die kaum noch darauf hoffen dürfen, ihre Visionen für den Kinosaal umsetzen zu dürfen. Letzteres "hat zweifellos einen romantischen Anstrich, ignoriert aber gleichwohl, was Regisseur David Cronenberg treffend als Evolution des Kinokörpers bezeichnet, nämlich die recht undramatische Zersplitterung der großen Leinwand zu vielen kleinen Bildschirmen. 'Das Kino ist in der Tat dabei, zu verschwinden', stellt auch Netflix-Kollaborateur Werner Herzog fest, für den es außerdem 'überhaupt keine Rolle' spiele, wo Filme auf welche Art gesehen würden, solange die 'Erzählform Kino' nicht an ein bestimmtes Abspielmedium gebunden sei. Dass derart intelligente Regisseure die radikal neuen Entstehungs-, Auswertungs- und Wahrnehmungsprozesse von Filmen mehr als Chance denn Gefahr begreifen, könnte Mut machen. Am Ende fragt sich nur, was attraktiver ist: Ein Weiterdenken des Begriffes Kino oder die Prophezeiung seiner Vernichtung."

Weitere Artikel: Dem Berliner Publikum legt Ekkehard Knörer in der taz die Aufführung von Gillo Pontecorvos Filmklassiker "Schlacht um Algier" heute Abend im Kino Arsenal ans Herz. New Filmkritik stellt zwei in den frühen 80ern in der Zeitschrift Filmkritik veröffentlichten Texte von Susanne Röckel ins Netz, deren Roman "Der Vogelgott" die Kritik in diesem Jahr ziemlich begeistet hat.
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Design

Gleich zwei Ausstellungen tragen derzeit den Titel "Politics of Design", ist SZ-Kritikerin Laura Weissmǘller aufgefallen: Eine im Vitra Design Museum in Weil am Rhein über Victor Papanek und eine von Friedrich von Borries kuratierte Schau der Design-Bestände der Pinakothek der Moderne. Und beide Ausstellungen stellen durchaus kritische Fragen nach dem Design in einer globalen Welt. Weissmǘller zeigt sich darin: "Das Design sitzt offenbar nicht nur auf der Anklagebank, es steckt momentan auch in der Krise. ... Was uns da auf Instagram, in Hochglanzheften und Werbebannern so sanft umschmeichelt, hat das Zeug zum Sündenbock der ganzen Welt." Dass von Borries dieser Sachlage spielreisch-experimentell begegnet, hält Weissmüller dabei für eine klare Stärke der Münchner Schau: "Wer sich nur klug genug mit der jeweiligen Sammlung beschäftigt, kann darin die Welt entdecken."
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Bühne

Im Tagesspiegel unterhält sich Peter von Becker mit Edgar Selge über seine Hamburger Bühnenfassung von Michel Houellebecqs "Unterwerfung", die der Schauspieler jetzt auch an die Berliner Volskbühne bringt.

Besprochen werden Andreas Kriegenburgs Inszenierung von Dostojewskis "Spieler" im Münchner Residenztheater (FR), Calixto Bieitos Aufführung von Monteverdis "Marienvesper" in Mannheim (FR), Leander Haußmanns Staatssicherheitstheater an der Volksbühne (SZ), die Gender-Performance "He? She? Me! Free" an der Schaubühne (Berliner Zeitung), Mateja Koležniks Inszenierung von Franz Grillparzers "Medea" am Schauspiel Stuttgart (FAZ), Christof Loys Inszenierung von Webers Oper "Euryanthe" im Theater an der Wien (NMZ, FAZ).
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Literatur

Besprochen werden unter anderem Judith Schalanskys "Verzeichnis einiger Verluste" (Standard), Michael Kleebergs "Der Idiot des 21. Jahrhunderts" (taz), Michael Ondaatjes "Kriegslicht" (Standard), Michael Krügers "Vorübergehende" (online nachgereicht von der FAZ), Roland Webers Biografie über Peter Hacks (SZ). R. G. Waldecks "Athénée Palace" (NZZ), Peter Waterhouse' "Equus. Wie Kleist nicht heisst" (NZZ), die Wiederveröffentlichung von Carsten Niebuhrs "Reisebeschreibung nach Arabien" (FR), Falko Hennigs "Rikscha Blues" (Tagesspiegel) und Stefan Georges Nachlassband "Von Kultur und Göttern reden" (FAZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Musik

Sehr respektabel findet es tazler Johann Voigt, wie sich Earl Sweatshirt auf seinem neuen Album "Some Rap Songs" gegen die Verwertungslogiken des Streaming-Zeitalters sperrt: Im Grunde genommen handelt es sich bei dem Album lediglich um "eine Ansammlung roh produzierter, oft nicht mal zwei minütiger Skizzen. Da ist nichts auf Hitradio-Powerplay poliert, auch für den Club ausgelegte Basslines gibt es keine und Mitgröhlhooklines schon gar nicht. Für die Playlisten von Streaminganbietern hat er sich damit disqualifiziert. Sweatshirt sorgt dafür, dass die von ihm produzierten Beats ruckeln und rauschen. Drumsamples sind neben dem Takt platziert, Vocal-Loops wiederholen sich immer wieder und klingen dabei immer verzweifelter. Das gesamte Album wirkt wie eine Absurditätenschau der Sounds, die im Einzelnen dissonant klingen, aber schaurig-schön, nachdem sie von Sweatshirt miteinander kombiniert wurden." Wir hören rein:



Weitere Artikel: Im Zündfunk-Feature des Bayerischen Rundfunks erklärt Klaus Walter, wie die Alt-Right die Pop-Strategien und -Codes der Linken kapert. Für den Standard plaudert Karl Fluch mit dem österreichischen Sänger Willi Resetarits, der diese Woche 70 wird. In der FAZ stellt Christiane Wiesenfeldt ein philologisches Online-Archiv mit Mozart-Noten vor. Hans-Jürgen Linke schreibt in der FR zum Tod des Musikkritikers Hans-Klaus Jungheinrich. Harry Nutt (Berliner Zeitung) und Wolfgang Niedecken (Tagesspiegel) gratulieren Keith Richards zum 75. Geburtstag.

Besprochen werden Irmin Schmidts "5 Klavierstücke" (Skug), Alexander Scheers Soundtrack zu Andreas Dresens Film "Gundermann" (FR), ein von Andris Nelsons dirigiertes Mahler-Konzert der Berliner Philharmoniker mit dem MDR-Rundfunkchor (Tagesspiegel), das neue Album von AnnenMayKantereit (Die Presse), ein Beethoven-Konzert von Daniel Barenboim (Tagesspiegel), Serious Kleins "You Should've Known" (online nachgereicht von der FAS), La Stampas "Bonjour Trieste" (Tagesspiegel) und Bob Dylans Edition "More Blood, more Tracks", die den Entstehungsprozess von Dylans '75er-Album "Blood on the Tracks" dokumentiert (SZ, mehr dazu hier).
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