Efeu - Die Kulturrundschau

Ein unbestimmtes Gefühl der Anderswertigkeit

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27.12.2018. Die Filmkritiker feiern die hinreißenden "Ladendiebe" des japanischen Filmregisseurs Hirokazu Kore-Eda. In Berlinartlink erzählt der Fotograf Peter Bialobrzeski, wie seine Städte-Tagebücher entstehen. Georges-Arthur Goldschmidt hofft im Interview mit dem Zeit-Magazin, dass Deutschland nicht vergaulandet. Diedrich Diederichsen outet sich im Freitag als Endgegner des Algorithmus.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.12.2018 finden Sie hier

Film

Ladendiebe: Vater und Sohn.


Mit "Shoplifters" hat der japanische Regisseur Hirokazu Kore-Eda im Mai die Goldene Palme in Cannes gewonnen, jetzt kommt der Film in die Kinos. Die Kritiker können der Cannes-Jury zu ihrer Entscheidung nur gratulieren, denn dieser Film über eine Wahlfamilie von Ladendieben ist schlicht "hinreißend", schreibt Thomas E. Schmidt in der Zeit. Der Regisseur "zeigt ein für westliche Augen ganz ungewohntes Japan, nämlich ganz unten in der sozialen Hierarchie, wo es nicht einmal mehr besonders exotisch zugeht. ... 'Shoplifters' ist ein kleiner Roman. Die Kamera folgt den Figuren wie ein wohlwollender auktorialer Erzähler, und sie folgt auch der Dynamik unter den Verschworenen, welche notgedrungen irgendwann einsetzt." Die Kameraarbeit ist auch tazler Tim Caspar Boehme überaus positiv aufgefallen: Sie "ist oft sehr nah an den Figuren, erzeugt den Eindruck von Unmittelbarkeit und nimmt gern die bodennahe Perspektive der Kinder ein, die, wie Koreeda schon in früheren Filmen wie 'Nobody Knows' von 2004 gezeigt hat, Unglaubliches leisten."

"Die sozialen Missstände in Japan prangert Kore-eda wie nebenbei an", schreibt Christiane Peitz im Tagesspiegel. In Zeiten, in denen Menschen mehr und mehr nach ihrer Kaufkraft (aus-)sortiert werden, "ist selbst ein so kleiner und süßer Film politisch", ergänzt Philipp Stadelmaier in der SZ. "Kore-edas Thema ist die Familie. Diese ist aber nicht, wie bei so vielen anderen Filmemachern, aufgeladen mit Neurosen und Abgründen, sondern ein flexibler Verbund", also "keine biologische, sondern eine politische Angelegenheit."

Behaltet eure DVD-Player, ruft Tilman Baumgärtel in der Zeit. Wer Filmklassiker sehen will, kommt ohne nicht aus. Die großen Streamingdienste haben ein winziges Angebot und Klassiker sind praktisch gar nicht darunter. Wer Orson Welles' "Citizen Kane" sehen will oder Francesco Rosis "Wer erschoss Salvatore G.?" oder John Fords "My Darling Clementine" ist aufgeschmissen: "Was bei Netflix und Co. nicht zu haben ist, wird schon bald nicht mehr existieren - jedenfalls für eine Generation, die mit Film-Streams aus dem Internet aufwächst. Nischenanbieter wie Mubi, realeyz oder Alleskino haben zwar ein ambitioniertes, aber doch begrenztes Angebot; was das Repertoire und vor allem das Marketing und die technische Infrastruktur betrifft, können sie dem gegenwärtig entstehenden Duopol von Amazon und Netflix jedoch nichts entgegensetzen. Als Alternative bleiben bis auf Weiteres die physischen Medien DVD und Blu-ray, auf denen dann doch noch fast jeder Film und jede Serie veröffentlicht wird." (Was Baumgärtel in seinem Artikel nicht erwähnt ist, welche Rolle bei dem schlechten Angebot das Urheberrecht spielt, das zum Teil angeblich noch auf Stummfilmen liegt, die immer wieder aus Youtube entfernt werden.)

Weitere Artikel: Der von Baumgärtel auch erwähnte Streaminganbieter Mubi hat das ziemlich umfangreiche, komplette Transkript eines 1972 in Beverly Hills geführten Interviews mit Fritz Lang online gestellt. In der NZZ glossiert Urs Bühler über die Kinokrise und empfiehlt "starke Stoffe" als Antidot gegen den Publikumsschwund zumindest im deutschsprachigen Raum (in Großbritannien ist das Kino, am Rande bemerkt, so populär wie seit den frühen Siebzigern nicht mehr). Christoph Brumme schreibt in der NZZ über den Erfolg des ukrainischen Schauspielers Wladimir Selinski, der in der Comedy-Serie "Der Diener des Volkes" als fiktiver ukrainischer Präsident so beliebt ist bei der Bevölkerung, dass viele Ukrainer ihn sich tatsächlich als nächsten Präsidenten wünschen. Fritz Göttler (SZ), Andreas Busche (Tagesspiegel) und Tobias Sedlmaier (NZZ) gratulieren Gérard Depardieu zum 70. Geburtstag,  Außerdem kürt das ZeitOnline-Team seine Lieblingsserien des sich neigenden Jahres.

Besprochen werden Jafar Panahis "Drei Gesichter" (taz, Tagesspiegel, unsere Kritik hier), Haifaa Al-Mansours Biopic "Mary Shelley" (taz, FAZ), zwei Filme über die US-Richterin Ruth Bader Ginsburg (ZeitOnline), Caroline Links Verfilmung von Hape Kerkelings Kindheitserinnerungen "Der Junge muss an die frische Luft" (ZeitOnline, Welt, SZ, FAZ), , die Sitcom "The Good Place" (Freitag), die Netflix-Serie "Dogs of Berlin" (NZZ) und die von Harald Schmidt erdachte ARD-Miniserie "Labaule & Erben" (taz).
Archiv: Film

Kunst

Peter Bialobrzeski: 'Cairo Diary,' 2013, Archival Pigment Print // Courtesy of Robert Morat Galerie


Noch bis 12. Januar kann man in der Berliner Galerie Robert Morat die "City Diaries" des Fotografen Peter Bialobrzeski sehen. Bialobrzeski hat bisher 15 Städte fotografiert, von Budapest bis Osaka. Im Interview mit Berlinartlink erklärt er, worauf es ihm dabei ankam: "Für mich ist die städtische Umwelt das Interessante. Alles, was anekdotisch ist: Märkte, Touristenattraktionen, etc., interessiert mich nicht. In gewisser Weise bin ich wie ein Fotograf des 19. Jahrhunderts. Der eigentliche Auslöser war, als ich zum Chodi Mehler Festival in Dhaka, Bangladesch, eingeladen wurde. Ich habe eine Google-Bildsuche in Dhaka durchgeführt und die einzigen Bilder, die Sie finden, sind Farbbilder der Sehenswürdigkeiten und arme Menschen in Schwarz-Weiß. Aber man findet nicht wirklich heraus, wie die Stadt aussieht, und das passiert in vielen Städten. Auf sehr einfache Weise kann ich den Menschen zeigen, was sie nicht sehen können, und gleichzeitig ein Archiv der Stadt erstellen."

Weiteres: Im Blog der New York Review of Books schildert Ratik Asokan, wie sich die moderne Kunst in Indien nach der Unabhängigkeit entwickelte. Thomas Steinfeld stellt in der SZ den bei Rom gelegenen Park von Bomarzo mit seinen Monsterskulpturen vor (mehr dazu hier).
Archiv: Kunst

Bühne

Marc Zitzmann besucht für die FAZ das umgebaute Museum der Marionettenkunst in Lyon. 

Besprochen werden Paul Abrahams Operette "Viktoria und ihr Husar" an der Komischen Oper Berlin (Tagesspiegel), Herbert Fritschs Inszenierung von Marquis de Sades "Philosophie im Boudoir" am Schauspielhaus Bochum (Tagesspiegel), Smetanas "Verkaufte Braut" an der Bayerischen Staatsoper (nmz), Paul Hindemiths letzte Oper "The Long Christmas Dinner" an der HfMdK Frankfurt (nmz) und die Uraufführung von Moritz Rinkes "Westend" am Deutschen Theater in Berlin (SZ).
Archiv: Bühne

Literatur

Für das ZeitMagazin hat Herlinde Koelbl kurz, aber intensiv mit dem Schriftsteller und Shoah-Überlebenden Georges-Arthur Goldschmidt über dessen Flucht und Rettung vor den deutschen Naziverbrechern gesprochen. Für Goldschmidts Schreiben hatte diese Erfahrung unmittelbare Auswirkungen: "Ich hoffe, dass Deutschland nicht vergaulandet! Meine Beziehung zu diesem Land ist eine Hassliebe. Ich mochte das Deutsche nicht mehr, weil es die Sprache derjenigen war, die mich tot wollten. Meine autobiografischen Bücher habe ich instinktiv auf Deutsch geschrieben, auch als Provokation, um den Deutschen zu zeigen, dass sie mich nicht totgekriegt hatten. Dieses Land war mir nie gleichgültig, und trotz meiner Weigerung gehöre ich dazu. Ich habe nur ein unbestimmtes Gefühl der Anderswertigkeit. Der eine Teil meiner Persönlichkeit ist zutiefst deutsch, der andere durch und durch französisch."

Weitere Artikel: Die FAS hat Anne Ameri-Siemens' Gespräch mit der nigerianischen Nachwuchs- und Erfolgsschriftstellerin Ayòbámi Adébáyò online nachgereicht. Karsten Krampitz berichtet im Freitag im dritten und vierten Teil seiner Textserie auch weiterhin von seiner Reise nach Korea mit dem Künstler Ulf Wrede.

Besprochen werden unter anderem Judith Schalanskys "Verzeichnis einiger Verluste" (Zeit), Dmitry Glukhovskys "Text" (SZ), Johanna Maxls Debüt "Unser großes Album elektrischer Tage" (Tagesspiegel), diverse Iwan-Turgenjew-Neuauflagen (Zeit) und Denis Johnsons Erzählband "Die Großzügigkeit der Meerjungfrau" (FAZ).
Archiv: Literatur

Musik

Die lange Beerdigung der Print-Spex (online geht es weiter) kommt mit dem großen Roundtable-Gespräch, das Christine Käppeler für den Freitag mit ehemaligen Autorinnen, Chefredakteuren und Mitarbeiterinnen geführt hat, am Höhepunkt an. Es ist auch ein Treffen der Generationen, wenn der frühere Chefredakteur Diedrich Diederichsen zu Protokoll gibt, dass ihm der Empfehlungs-Algorithmus von Spotify rein gar nichts bringe, schließlich gehe dieser "nur nach stumpfen musikalischen Kriterien vor und sucht stilistisch Verwandtes. Und das will ich doch gerade nicht. Im Gegenteil. Der entscheidende Parameter kommt nicht vor: Attitude." Worauf der spätere Chefredakteur Uwe Viehmann widerspricht, das stimme "definitiv nicht. 'Der Algorithmus' untersucht längst mehr als nur Genre-Ähnlichkeiten … Was hören dir ähnliche Menschen, zu welcher Tageszeit und an welchem Ort. Kollaboratives Filtern. Audioanalyse konkret. Aber auch Kontexte im Web an sich - Blogs, Texte, Metadaten etc. Du bist wahrscheinlich auch ein Härtefall. Der Endgegner des Algorithmus."

Weitere Artikel: Barbara Oertel berichtet in der taz von Putins Repressionen gegenüber der russischen Rapszene. Matthias Heine staunt derweil in der Welt darüber, wie akkurat die Stasi in den Achtzigern die neuen Jugend-Subkulturen katalogisiert hat. In der FAZ spricht Irene Bazinger mit Rutbert Reisch über die vor 13 Jahren verstorbene Sängerin Birgit Nilsson, deren Stiftung er noch bis Ende des Jahres als Präsident voransteht. In der NZZ porträtiert Adrian Schräder den Schweizer Rapper Manillio.

Besprochen werden Kristen Gallerneaux' sound- und kulturwissenschaftliche Studie "High Static, Dead Lines" (taz) und das Weihnachtskonzert des Rundfunk Sinfonie-Orchesters unter Vladimir Jurowski (Tagesspiegel). Und Roland Graffé stellt in der Machtdose wieder neue Netzmusik vor:

Archiv: Musik