Efeu - Die Kulturrundschau

Auf's absolute Minimum verknappt

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25.01.2019. Epochal! jubeln Standard und Presse über die Wiener Ausstellung "Stadt der Frauen", die vergessene Künstlerinnen der Wiener Moderne zeigt. In der NZZ ärgert sich der Historiker Philipp Blom über eine selbstzufriedene Linke, die den oppositionellen Gestus des Theaters institutionalisiert habe. Seweryna Szmaglewskas Erinnerungen an ihre Zeit in Birkenau verdienen endlich eine deutsche Übersetzung, fordert die FAZ. Die Welt wirft einen ersten Blick in Ilya Khrzhanovskys DAU-Projekt. Und die SZ lässt mit den Türen die Hundeseele baumeln.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.01.2019 finden Sie hier

Kunst

Helene Funke, Träume, 1913. Foto: Johannes Stoll © Belvedere, Wien
Unbedingt anschauen!, ruft Anne Katrin Fessler hingerissen im Standard, nachdem sie sich im Wiener Belvedere die Schau "Stadt der Frauen" angesehen hat, die den einst gefeierten Künstlerinnen der Wiener Moderne gewidmet ist, deren Karrieren 1938, mit dem "Anschluss" Österreichs, jäh endeten: "Fulminant ist bereits der Auftakt mit der lebensgroßen Figur einer Hexe, die sich mit einer Gartenschere ihre Zehennägel manikürt. Eine provokante Arbeit, geschaffen von Teresa Feodorowna Ries. Sie war ein Phänomen, ist sie doch zu einer Zeit in die Männerdomäne Bildhauerei eingedrungen, als Frauen in Wien nicht einmal an den Kunstakademien zugelassen waren. Hauptargument war stets das Aktstudium: Mit Nacktheit konfrontiert zu sein galt für eine Frau als unschicklich."

"Epochal!", schwärmt auch Almuth Spiegler in der Presse und meint, neben den Lebensläufen der Künstlerinnen sind jene von Klimt, Schiele und Kokoschka fast "langweilig". "Allein Friedl Dicker-Brandeis, die Kommunistin, Innenarchitektin und visionäre Malerin, die von ihrem verheirateten Partner zu Abtreibungen gezwungen wurde, vor den Nazis floh, ihren Cousin heiratete, in Auschwitz mit Kindern malte, sich wissentlich zur Ermordung meldete. Ihr Schicksal ist so intensiv wie ihre Bilder, die man selten in dieser Qualität versammelt hat. Im Nebenraum eine Amazone anderen Formats: Stephanie Hollenstein, die lesbische, pathetisch-expressive Malerin, die als Mann verkleidet in den Ersten Weltkrieg zog, enttarnt zur Kriegsmalerin wurde und dann früh der NSDAP beitrat."

Weitere Artikel: Als wahre "Schatzkammer" und gutes Mittel gegen "rassistische Stereotype" über Sinti und Roma empfiehlt Susanne Lenz in der Berliner Zeitung das seit Donnerstag zugängliche RomArchive, das Kunst aller Gattungen, wissenschaftliche Texte, historische Dokumente, Videos und Musikaufnahmen versammelt. "Plakativ und subtil zugleich" erscheinen Bernhard Schulz im Tagesspiegel die Porträts des New Yorker Künstlers Alex Katz, dem das Münchner Museum Brandhorst derzeit die erste deutsche Retrospektive widmet. Von einem absurden Streit zwischen Frankreich und Italien, die anlässlich von Leonardo da Vincis 500. Todestag erneut über die Ausleihbedingungen diskutieren, berichten Annette Reuther und Sabine Glaubitz in der Presse.

Besprochen werden die Ausstellung "John Ruskin: The Power of Seeing" im Londoner Two Temple Place (Guardian), die Wiedereröffnung des Hauses am Waldsee mit Arbeiten der Bildhauerin Karin Sander (Berliner Zeitung), Till Veltens Installation "Genie & Übermut" in der Zürcher Galerie Nicola von Senger (NZZ), "Philippe Vandenberg. Kamikaze" in der Hamburger Kunsthalle (SZ) und eine Ausstellung mit Arbeiten des Zeichners Riad Sattouf in der Bibliothek des Centre Pompidou (SZ).
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Film

Steven Spielbergs "Schindlers Liste" kommt zum Jahrestag der Befreiung von Auschwitz wieder ins Kino - und damit auch die Feuilletondebatten der Darstellbarkeit der Schoah und des Umgangs des Kinos damit. "Gründlich recherchiert und bis in die kleinste Nebenrolle personalisiert, vermag Spielberg das beste sinnliche Simulakrum des Holocaust zu schaffen, das bisher über die Leinwand lief", erklärt Beatrice Behn in der FAZ. "Dennoch ist kein Film zu diesem Thema ohne Ambiguität. Sobald sich Spielberg vom Geschichtlichen löst, wird es problematisch. Es sind die doppelten Bilder, Zwischentöne und vor allem, dass er den Holocaust als Geschichte der Lebenden, nicht der Toten erzählt. Es ist die Ausnahme, die Idee des guten Deutschen und der Juden, die dem Holocaust entkommen, die das Werk zum Problem machen. Vor allem weil es in seiner Vehemenz, aber vor allem seiner Popularität noch immer für sich allein steht."

Philipp Stadelmaier sichtet den Film für die SZ mit dem heutigen Wissen um die bildpolitischen Kontroversen, die um den Film geführt wurden, neu - und erblickt in Spielbergs zitternder Kamera ein entscheidendes Detail: Der Film "mag eine Fiktion sein, geprägt von einem unerschütterlichen Vertrauen in das Potenzial der Bilder, eine Geschichte zu tradieren und zu erinnern. Aber Steven Spielberg macht auch deutlich, dass er an seine Grenzen stößt, zum erschrockenen Beobachter wird, nur noch mit zitternder Kamera filmen kann. Es gibt Dinge, hat Jacques Rivette geschrieben, die man nicht ohne Furcht und Zittern filmen kann, die jede Meisterschaft zum Teufel fahren lassen. Spielberg zeigt, dass man, gerade heute, durchaus Bilder der Schoah machen und Fiktionen aus ihr entwickeln kann. Wenn man sich, wie er, davon erschüttern lässt."

In Paris wurde, wenn auch unter gehörigem Stolpern, Ilya Khrzhanovskys in Berlin zuvor an den Behörden gescheitertes DAU-Projekt eröffnet, das auf Khrzhanovskys gleichnamigem, langjährigen Filmprojekt in der Ukraine basiert, für das Menschen jahrelang in einer künstlichen Sowjet-Welt ihrem Alltag nachgehen mussten - wobei es eigentlich um ein Biopic über den Physiker Lev Landau ging. "Wer erste Auszüge der Filme gesehen hat, muss den Eindruck gewinnen, dass es sich um ein künstlerisches Milgram-Experiment handelt", erklärt Martina Meister in der Welt. "Das Presseheft präzisiert immerhin: Kein einziger Mensch sei bei dem Dreh gestorben. Entstanden sind 500.000 Meter analoge Filmaufnahmen, 700 Stunden, die zu 13 Spielfilmen und mehreren Serien geschnitten wurden."  Für den Tagesspiegel liefert Eberhard Spreng Hintergründe zu den Pariser Diskussionen um das Projekt. Im Dlf Kultur erinnert sich Nils Menrad, der die Dreharbeiten in der Ukraine als Filmstudent besucht hat.

Weitere Artikel: Für die Welt porträtiert Hanns-Georg Rodek die Schauspielerin Saoirse Ronan. Im Kurier geben Veronika Franz und Severin Fiala Auskunft über ihren Psychothriller "The Lodge", der in Sundance seine Premiere feiert. Tobias Kniebe berichtet in der SZ von der Entstehungsgeschichte von David Wnendts "The Sunlit Night", der in Sundance auf prominenter Position gezeigt wird. Urs Bühler berichtet in der NZZ vom Auftakt der Solothurner Filmtage. Bert Rebhandl (Standard) und Verena Lueken (FAZ) schreiben Nachrufe auf Jonas Mekas (weitere Nachrufe hier).

Besprochen werden "Creed 2" mit Sylvester Stallone und Michael B. Jordan (Tagesspiegel, Standard, unsere Kritik hier), Yorgos Lanthimos' Kostümfilm "The Favourite" (Zeit, Presse, mehr dazu hier), Felix van Groeningens "Beautiful Boy" (Tagesspiegel, Standard), Michael Moores "Fahrenheit 11/9" (Jungle World), der Disney-Film "Chaos im Netz" (Tagesspiegel), die Komödie "Womit haben wir das verdient?" mit Caroline Peters (Tagesspiegel) und die Sky-Serie "Der Pass" (Welt, Berliner Zeitung).
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Musik

Ganz wunderbar findet SZ-Kritiker Martin Pfnür "Exoterik", das neue Album von Die Türen, das komplett aus einer mehrtägigen Jamsession auf einem Bauernhof im Brandenburgischen hervorgegangen ist. Herausgekommen sind dabei zwei Stunden lang mit dem Krautrock flirtende, "überwiegend sehr schön komische, auf's absolute Minimum verknappte Mantras. Verpackt als Einblicke in die Hundeperspektive ('Heute ist Welthundetag/ Und wir gehen in den Park / Lassen uns kraulen / Hundeseele baumeln'), als bündig zusammengefasste Künstlernöte ('Miete Strom Gas'), als Demonstration erstaunlich vielfältiger Phrasierungsmöglichkeiten des Wortes 'Oma', oder aber auch einfach als Krisensymptome aller Art ('Keine Zeit, keine Liebe, kein Glück'). Herrje, großer Gaga-Spaß."



Weitere Artikel: Marion Löhndorf beobachtet für die NZZ, wie sich Nick Cave im Netz den Fragen seiner Fans stellt. In der FAZ gratuliert Wolfgang Sandner dem Jazzsaxofonisten Benny Golson zum 90. Geburtstag.

Besprochen werden die Compilation "Third Noise Principle: Formative North American Electronica 1975-1984" (The Quietus), Igor Levits Konzert mit den Wiener Philharmonikern (Standard), das neue Dendemann-Album (ZeitOnline), ein Berliner Klavierabend mit Elena Bashkirova (Tagesspiegel), ein Konzert von Zoot Woman (Tagesspiegel) und The Jack Moves' Album "Free Money", das laut Samir H. Köck in der Presse zwar in den Archiven des Soul vagabundiert, dabei aber "keine simple Retromusik" vorlegt, sondern eine Neuinterpretation darstellt. Auf YoutubeMusic steht das Album online:

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Architektur

Wie man zeitgemäß, sozial und ansprechend baut, lernt Laura Weissmüller in der SZ in dem am ehemaligen Kreuzberger Blumengroßmarkt errichteten und für den Mies-van-der-Rohe-Award nominierten Wohnhaus, das in enger Zusammenarbeit zwischen Bewohnern, Genossenschaft und den Architekturbüros ifau und Heide & von Beckerath entstanden ist und Wohnen, Leben und Arbeiten der Lebensrealität seiner Bewohner anpasst: "Wer die Architekturgeschichte kennt, wird an Le Corbusier und seine Unité denken. Dort wie hier haben die Architekten in genialer Bastelarbeit die unterschiedlichsten Wohnungstypen um den Gang geschlungen. Man fühlt sich aber auch an japanische Baumeister erinnert, die öffentliche, halböffentliche und private Räume derart kunstvoll ineinanderweben, dass eine gebaute Durchlässigkeit entsteht."
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Literatur

Bereits 1945 veröffentlichte die polnische Dichterin Seweryna Szmaglewska ihre in einem manischen Arbeitsprozess zu Papier gebrachten Erinnerungen "Der Rauch über Birkenau" über ihre Zeit in dem deutschen Konzentrationslager. Das Buch wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt, lag bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen als Beweisstück vor - nur eine deutsche Übersetzung ist bis heute nicht in Sicht, obwohl an prominenten Empfehlungen (etwa 1985 in der Zeit) kein Mangel herrschte, wie sich Marta Kijowska in der FAZ wundert. Umso erstaunlicher wirkt das deutsche Zaudern, als in den Neunzigern im Deutschland "ein schmaler, aus sechs Geschichten bestehender Erzählband der italienischen Auschwitz-Überlebenden Liana Millu erschien, der im Original 1947 publiziert worden war und ebenfalls den Titel 'Der Rauch über Birkenau' trug. (...) Die deutschen Medien feierten die Veröffentlichung als literarische Entdeckung. Auf die Idee, bei dieser Gelegenheit auf Szmaglewskas gleichnamiges Buch aufmerksam zu machen, geschweige denn die beiden Werke zu vergleichen, ist damals offenbar niemand gekommen."

Weitere Artikel: Auf Fixpoetry nimmt Frank Milautzcki Marlis Thiels Baudelaire-Übersetzung auseinander und macht Gegenvorschläge. Willi Winkler schreibt in der SZ einen Nachruf auf die englische Lektorin und Autorin Diana Athill. Besprochen werden Jürgen Brôcans Lyrikband "Wacholderträume" und der von John Burnside zusammengestellte Band "Natur! Hundert Gedichte" (NZZ), Édouard Louis' "Wer hat meinen Vater umgebracht" (Zeit, Dlf Kultur), eine dem Comicautor Riad Sattouf gewidmete Ausstellung in Paris (online nachgereicht von der FAZ, SZ), die "Peanuts"-Ausstellung in London (online nachgereicht von der FAZ), Felwine Sarrs Essay "Afrotopia" (SZ) und Steffen Richters Studie "Infrastruktur: Ein Schlüsselkonzept der Moderne und die deutsche Literatur 1848-1914" (FAZ).
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Bühne

Im NZZ-Gespräch mit Bernd Noack ärgert sich der Historiker und Schriftsteller Philipp Blom über eine "selbstgefällige" Linke, die den "oppositionellen Gestus, den das Theater stets hatte, in den großen subventionierten Häusern längst "institutionalisiert" habe: "Wenn er von 'wir' spricht, der sogenannten Linken mithin, dann schreibt er dieser zu, sie habe sich in der Vergangenheit 'dumm gesiegt', weil sie in eine gewisse Selbstzufriedenheit gefallen sei. Da habe sich in den oberen Etagen der Kulturindustrie etwas gepaart, das irgendwann habe schiefgehen müssen: 'Die Ehe zwischen Ideen und Macht ist immer problematisch. Und wenn zu viel Macht hinter einer Idee sitzt, die sich auch noch als oppositionell ausgibt, dann kommt es zu Verwerfungen.'"

Nach Stefan Bachmann wird ab Sommer 2021 Carl Philip von Maldeghem, aktuell nicht weiter auffälliger Intendant des Salzburger Landestheaters, die Intendanz des Kölner Schauspielhauses übernehmen, meldet Nachtkritiker Andreas Wilink und fragt sich: Warum der? "Gilt nicht für die Metropole auch eine Art landespolitischer Auftrag? Sollte und müsste die größte Kommune nicht im mindesten den Aspekt mit in ihre Überlegungen nehmen, ein rheinisches Gegengewicht zu bilden gegenüber Johan Simons' sich gerade so spektakulär neu erfindendem Schauspielhaus Bochum, wenn schon die dazwischen liegende Landeshauptstadt derzeit eine so brave Spiel-Adresse abgibt. Die Ankündigung des Carl Philip von Maldeghem, personell etwa mit John von Düffel, der wie am Fließband Bühnenfassungen von Romanen produziert, mit Amélie Niermeyer und Alexandra Liedtke zusammenzuarbeiten, die bereits an seinem Landestheater Salzburg verpflichtet wurden, klingt nicht eben nach Impuls, nach Idee, nach Konzept, nach Aufbruch."

Besprochen werden Coline Serreaus "Hase, Hase" an der Berliner Komödie (Berliner Zeitung, Nachtkritik), Christopher Rüpings Inszenierung von Heinar Kipphardts "In der Sache J. Robert Oppenheimer" am Deutschen Theater Berlin (Nachtkritik), Leonie Böhmes "Yung Faust" an den Münchner Kammerspielen (Nachtkritik) und Karen Stones Inszenierung von Samuel Barbers Oper "Vanessa" am Theater Magdeburg (FAZ).
Archiv: Bühne