Efeu - Die Kulturrundschau

Position absoluter Macht

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07.02.2019. Die Filmkritiker bereiten sich auf die Berlinale vor und ziehen schon mal Bilanz der Ära Kosslick. Das Van Magazin beschreibt eine Atmosphäre der Angst an der von Daniel Barenboim geleiteten Staatsoper. Die Welt staunt: plötzlich nur noch Künstlerinnen überall. Der Tagesspiegel bewundert uralte Geometrie in einer großen Pariser Ausstellung mit lateinamerikanischer Kunst. Die nachtkritik denkt über politische Bildung im Theater nach.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.02.2019 finden Sie hier

Film

Berlinale-Leiter Dieter Kosslick 2012. Foto: Marc Ohrem Leclef


Heute beginnt in Berlin die 69. Berlinale, die 18. unter Dieter Kosslick und auch seine letzte, bevor im kommenden Jahr Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek den Kampf um die Bären ausfechten lassen. Die Feuilletons ziehen Bilanz: Kosslicks Programmierung war alles in allem "durchwachsen", lautet Tobias Kniebes und David Steinitz' Fazit in der SZ, die in ihrem Rückblick auch einen kleinen Einblick in die Beschwerlichkeiten einer Festivalleitung bieten. Aber: "Hinter der Hallodrifassade, die manchmal auch die Grenze zum Dummschwätzertum überschritt, verbarg sich wiederum ein sehr geschickter Kulturmanager mit ausgeprägten Machtinstinkten, dem die Lokalpolitiker aus der Hand fraßen, der Budget und Einfluss der Berlinale stark vergrößern konnte und für das zahlungswillige Publikum in der Stadt immer neue Reize schuf."

Daniel Haas feiert Kosslick in der NZZ einerseits als großen Erneuerer, der aus Moritz de Hadelns angeblich mäßig besuchter und zu amerikanischer Berlinale überhaupt erst eine Plattform fürs Welt- und  deutsche Kino geschnitzt habe. Von Chatrian wünscht Haas sich zweierlei: Entrümpelung der Sektions-Inflation und ein präziseres Profil des Wettbewerbs: "Wer einen Proporz der Nationen im Wettbewerb herstellen will, fragt irgendwann nicht mehr: Ist der Film gut genug? Sondern: Passt er zur Quote? Ästhetische Kriterien treten bei der Nominierung in den Hintergrund."

Die oft sehr laute Kritik an Kosslick war nicht immer fair, aber der Sache nach durchaus berechtigt, meint Dominik Kamalzadeh im Standard: Zwar "gab es große Filme zu sehen. Aber rundherum dominierte das Mittelmaß - Arthouse-Kino, das die von der Berlinale so gern beschworene politische Aktualität oft nur wie einen Bauchladen umgeschnallt trug. ... Die Hoffnungen, dass [Kosslick-Nachfolger] Chatrian der Berlinale wieder ein deutlicheres Profil verleiht, vielleicht sogar zu einem Ort für Entdeckungen macht, sind, wie übrigens schon bei Kosslicks Bestellung, groß." Die künftige Doppelspitze ist in Andreas Busches Augen "ein notwendiger Schritt" und war wirklich "überfällig", schreibt er im Tagesspiegel. Dlf Kultur hat sich mit Kosslick zum großen Plausch getroffen.

Aber was soll man nun in Berlin sehen? Geht es nach der taz: Vor allem alte Filme. Barbara Wurm empfiehlt in der taz Edith Carlmars "Ung flukt" von 1959 mit Liv Ullmann sowie Bette Gordons "Variety" von 1983, die die Berlinale als Entdeckungen aus den Archiven zeigt. Sara Piazza empfiehlt in der taz die auf der Berlinale gezeigte Restauration von Derek Jarmans "The Garden". Fabian Tietke führt in der taz durch das Programm der Retrospektive. Michael Meyns rät in der taz dazu, auch der "Woche der Kritik" einen Besuch abzustatten, ein von Filmkritikern veranstaltetes Alternativ-Festival. Viele weitere Tipps bieten die Kritikerinnen und Kritiker der SZ und der taz.

Außerdem: Andreas Busche porträtiert im Tagesspiegel die Jury-Präsidentin Juliette Binoche, mit der sich Katja Nicodemus für die Zeit unterhalten hat. Carolina Schwarz meldet in der taz, dass gut 40 Prozent der Wettbewerbsfilme von Frauen stammen und die Berlinale daher im Vergleich mit anderen A-Festivals verhältnismäßig gut dasteht. Nimmt man dann noch die komplett den Frauen gewidmete Retrospektive hinzu, kann die Berlinale sehr stolz auf sich sein, schreibt Tim Caspar Boehme in der taz und verbreitet mit Blick aufs wieder sehr umfangreiche Programm schon mal vorab gute Laune: "Es wird kein schlechter Jahrgang gewesen sein." Detail am Rande: Während sich die Berlinale als Publikumsfestival feiert, läuft dem regulären Kinobetrieb zumindest in Deutschland das Publikum davon, meldet Andreas Kilb in der FAZ. Im letzten Jahr sind 17 Millionen weniger Kinotickets verkauft worden als im Jahr zuvor, während die Zahl der Kinos und Leinwände steigt: "Ein Wachstum, für das es keine wirtschaftliche Grundlage mehr gibt." Detaillierter über diesen historischen Tiefstand berichtet Rudolf Worschech in epdFilm.

Weiteres: Im Filmdienst-Blog blickt Lukas Foerster dem klassischen Hollywoodkino ganz tief in die Augen. Wolf-Dieter Vogel porträtiert in der taz die Schauspielerin Yalitza Aparicio, die für ihre Leistung in "Roma" einen Oscar bekommen könnte. Philipp Krohn schreibt in der FAZ einen Nachruf auf den tschechischen Regisseur Václav Vorlicek, den man in Deutschland vor allem wegen "Drei Haselnüsse für Aschenbrödel" kennt. Besprochen werden "Frühes Versprechen" mit Charlotte Gainsbourg (Presse), "The Wife" mit Glenn Close (NZZ) und die auf Netflix gezeigte Serie "Nightflyers" nach einer Kurzgeschichte von George R.R. Martin (FAZ).
Archiv: Film

Architektur

Das Schloss ist noch nicht fertig, da wollen sie in Berlin auch noch die Schinkelschen Bauakademie wieder aufbauen, berichtet Bernhard Schulz im Tagesspiegel: "Vor zwei Wochen, verriet der Staatssekretär für Bau- und Wohnungswesen im Innenministerium, Gunther Adler, bei einer Veranstaltung der Akademie der Künste, habe er die Gründungsurkunde der Bundesstiftung Bauakademie notariell besiegelt. Im Frühjahr solle 'sich der Stiftungsrat konstituieren' und sodann den Vorstand bestellen. Und am Ende dieses Jahres soll der Realisierungswettbewerb für die Architektur des Gebäudes ausgelobt werden. Doch ob die Bauakademie wiedererstehen oder etwas gänzlich Neues, nur mit demselben Namen errichtet werden soll, das ist wohlweislich offengeblieben."
Archiv: Architektur

Bühne

In der nachtkritik denkt Christian Rakow über den Wandel der politischen Bildung im deutschen Theater nach und hält fest: "Mit den 'Experten des Alltags' hat eine umfassende Repräsentationskritik das Theater erreicht. Der Experte spricht nicht stellvertretend für andere, sondern für sich. Er stellt nichts dar, er stellt sich vor. Flankierend dazu gerät die Darstellungskunst unter den Druck des identitätspolitischen Aktivismus, der etwa die Repräsentation von nicht 'biodeutschen' Bevölkerungsgruppen durch etablierte weiße Spieler, von queeren Menschen durch heterosexuelle Cis-Akteure oder von Menschen mit geistigen oder körperlichen Behinderungen durch geübte Verwandlungsprofis moniert. Mit Partizipations- und Inklusionsformaten steuert die neuere politische Theaterkunst dagegen und bringt die betroffenen Gruppen lieber selbst auf die Bühne. So wird nicht nur in den dargestellten Inhalten, sondern auch in der Darstellungspraxis klar gemacht, dass die Frage des Politischen immer eine Frage der Teilhabe ist."

Weiteres: In der Theaterserie "Spielplan-Änderung" der FAZ widmet sich Dietmar Dath "Senecas Tod" von Peter Hacks.

Besprochen werden Modest Mussorgskys "Boris Godunow" am Theater Lübeck (nmz), eine Aufführung der Performance-Truppe EGfKA im Berliner Ballhaus Ost (Tagesspiegel) und Brecht/Weills "Die sieben Todsünden" mit Sängerin Peaches am Staatstheater Stuttgart ("Freie Sexualität für freie LGBTQ-Bürger, dann kann Euch der Kapitalismus nichts anhaben?" FAZ-Kritikerin Wiebke Hüster winkt bei so viel genderpolitischer Korrektheit müde ab)
Archiv: Bühne

Kunst

Astrid Klein, "CUT II" von 1986, digital produziert 1996. Foto: Timo Ohler


An der Zeit war's ja, aber verblüffend ist es doch: Plötzlich werden nur noch Künstlerinnen ausgestellt. Ist das ernst gemeint oder ein Marketingtrick, fragt sich in der Welt Swantje Karich. Jedenfalls ist etwas ist in Bewegung, meint sie, jetzt kommt es darauf an aufzuarbeiten, warum Frauen so lange ausgeschlossen waren. Karich trifft sich mit der gerade in Berlin bei Sprüth Magers ausstellenden Künstlerin Astrid Klein, die sich in der "Männerkunstwelt" der Siebziger und Achtziger durchsetzte: "Betritt man die Schau, erkennt man sofort, wie früh sie war in vielen künstlerischen Formen, wie unnachahmlich ihre Sensibilität und Kraft im Umgang mit dem Material ist. ... Was Astrid Klein aber zu hören bekam, war nicht Lob, sondern: Sie mache Kunst wie ein Mann. Man spürt, was das sein könnte, was da abschreckte: Spannung, Dominanz, Kraft. All das also, was gute Kunst ausmacht. Heute haben sich die Stile emanzipiert! Frauenstil versus Männerstil - das klingt aus der Zeit gefallen. Kleins Werk aber stößt uns in Berlin auch auf andere alte Themen, auf Stereotypen und Machtstrukturen der damaligen Zeit - die sich kaum verändert haben."

Anna Mariani, Xique-Xique, Bahia, Brésil, 1979, Courtesy Fondation Cartier pour l'art contemporain


Höchst angeregt steht Tagesspiegel-Kritikerin Christiane Meixner in der Pariser Fondation Cartier, wo eine große Ausstellung 250 Arbeiten aus Lateinamerika zeigt. Dass Ausstellungen den Dialog mit der westlichen Kunst verdeutlichen, kennt man ja. "Was aber, wenn man die Arbeiten in Beziehung zur Vergangenheit der eigenen Kultur setzt? 'Géométries Sud' tut genau dies, indem sie die Granden einer internationalen, übergreifenden Kunstgeschichte mit den eigenen Wurzeln konfrontiert. Die präkolumbischen Funde der Valdivia-Kultur Ecuadors sind ein Beispiel dafür, mit welcher Raffinesse harter Stein in vorchristlichen Jahrtausenden bearbeitet wurde. Die glatten Oberflächen der sonst schlicht gestalteten Figuren werden von geometrischen Mustern überzogen. Ähnlich wie bei der alten Zeremonienmaske aus dem heutigen Osten Kolumbiens. Sie trägt ein abstraktes All-over aus kleinen, vollkommen perfekt in die Keramik geritzten Kreisen."

Besprochen werden außerdem eine Ausstellung mit dem Werk Ernst Kahls im Caricatura Museum in Frankfurt (FAZ), zwei Ausstellungen zum 50. Todestag der Schweizer Künstlerin Helen Dahm im Kunstmuseum Thurgau und im Helen-Dahm-Museum in Oetwil am See (NZZ) und die Ausstellung "Objects of Wonder - British Sculpture from the Tate Collection 1950s" im Palais Populaire der Deutschen Bank im Berliner Kronprinzessinnenpalais (FAZ).
Archiv: Kunst

Design

Besprochen wird die Ausstellung "Inside Out - Einsichten der Möbelkunst" im Kunstgewerbemuseum Berlin (Tagesspiegel).
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Literatur

Besprochen werden Bücher aus dem Nachlass von Aglaja Veteranyi (NZZ), Simone Meiers "Kuss" (taz), Ruska Jorjolianis "Du bist in einer Luft mit mir" (ZeitOnline), Barbara Zemans "Immerjahn" (Standard), Georg Aeschts Neuübersetzung von Liviu Rebreanus "Der Wald der Gehenkten" (SZ) und Tomas Espedals "Bergeners" (FAZ).
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Musik

Daniel Barenboims Temperament und Launen gelten in der Klassikszene als offenes Geheimnis. In einem VAN-Longread decken Hartmut Welscher und Jeffrey Arlo Brown nun auf, dass Barenboims Wutausbrüche System haben. Er genießt an der Staatsoper "eine Position absoluter Macht, weil niemand da ist, der ihren Missbrauch sanktionieren würde", der Dirigent "entstammt einer Zeit, in der autoritäres Verhalten, Sprunghaftigkeit und Unberechenbarkeit quasi zum Anforderungsprofil eines Maestros gehörten. Die anfangs durchaus produktive Machtfülle, die ihm an der Staatsoper die Gestaltung des Neuanfangs erlaubte, hat sich über die Jahre zu einem System ausgeformt, in dem sich Rollendynamik, Persönlichkeits- und Abhängigkeitsstrukturen auf ungute Art und Weise gegenseitig verstärken. 'Ich nenne es immer eine Atmosphäre der Angst', meint ein aktueller Staatsopern-Mitarbeiter. Wie bei Patriarchen üblich bleibt Barenboim dabei in den Köpfen gegenwärtig, egal ob er physisch anwesend oder abwesend ist."

Weitere Artikel: Für die NZZ wirft Florian Bissig einen Blick ins Programm des Festivals Suisse Diagonales Jazz. Besprochen werden Ambrose Akinmusires Jazzalbum "Origami Harvest" (Presse), Girlpools Punkalbum "What Chaos Is Imaginary" (Presse), ein Konzert der früheren Paula-Sängerin Elke Brauweiler (taz), Jan Böhmermanns Auftritt in Wien (Standard), Moritz Krämers neues Album (SZ) und Boy Harshers "Careful", laut Standard-Kritiker Karl Fluch "ein tolles Synthie-Album".

Archiv: Musik