Efeu - Die Kulturrundschau

Das Schöne als Antwort auf das Mächtige

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19.02.2019. Die SZ geißelt nach dem DAU-Debakel in Paris Immersion als Ideologiefalle, die Räsonnement und Kritik außer Kraft setze. Der Tagesspiegel berichtet, dass der Prozess gegen  Kirill Serebrennikow in Moskau von vorn beginnt. In der NZZ möchte T.C. Boyle Steuern auf sein Marihuana zahlen als Abgaben an die Mafia. Monopol kostet auf der Biennale von Kerala ein Curry aus alten Reissorten.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.02.2019 finden Sie hier

Bühne

Für Peter Richter hat sich das Stalinismus-Spektakel DAU in Paris als totales Debakel erwiesen. In der SZ nimmt er das zum Anlass, ganz generell mit immersiver Kunst abzurechnen. Er nennt sie eine Ideologiefalle, Mitmachkunst, die den Betrachter zum Eintauchen und Einfühlen animieren, dabei jedoch als kritisches Gegenüber ausschalte: "Die letzten Male, als Räsonnement und Kritik dermaßen vehement zugunsten von Erlebnis, Gefühl, Affirmation und jubelndem Aufgehen in der Masse verabschiedet wurden, herrschten in Deutschland noch die Kulturregimes von Diktaturen. Der Romantizismus schwelgerischen Aufgehens und Einswerdens mit den Dingen hat nun einmal seine Konjunkturen. Dass er jetzt häufig auch mit postkolonialistischem Anstrich wieder hervorgekramt wird, ist allerdings nur eine leidlich komische Pointe." In der Berliner Zeitung trommelt Tom Tykwer dagegen unverdrossen für das Projekt, das er gern auch in Berlin gezeigt hätte: "Ich bin wirklich selten in meinem Leben von etwas so begeistert gewesen. Vor allem von dieser Steinbruchhaftigkeit, die das Ganze hat, von dieser unglaublichen Betonung, sich im Unfertigen ständig neu und selbst zu boykottieren."

Im Tagesspiegel meldet Frank Herold, dass der Prozess gegen den russischen Regisseur Kirill Serebrennikow in Moskau noch einmal von vorn beginnt. Herold sieht darin ein gutes Zeichen, denn jetzt wird doch noch mal grundsätzlich geklärt, ob es sich bei einer Inszenierung um einen Staatsauftrag handele: "Ist jede Kunst, die der Staat subventioniert, Auftragskunst? Und hat der Staat das Recht, an eine Inszenierung die gleichen finanztechnischen Maßstäbe anzulegen wie an Lokomotiven oder Kampfflugzeuge, die er bestellt? Auch Künstler, die bislang nicht als Bedenkenträger im Verhältnis zum Kreml auffielen, spürten: Das könne ihnen einmal gefährlich werden."

Weiteres: Tobias Müller berichtet in der taz vom "Cities Festival Damascus" im Brüsseler Kulturzentrum Moussem. Der Standard bringt ein paar Namen ins Spiel, denen Bruno Ganz den Iffland-Ring vermacht haben könnte: Joachim Meyerhoff, Jens Harzer und Lars Eidinger und Nicholas Ofczarek.

Besprochen werden Yuval Sharons Inszenierung von Mozarts "Zauberflöte" als Puppentheater an der Berliner Staatsoper (Tagesspiegel, SZ), Christoph Marthalers Nestroy-Inszenierung und Karin beiers Bernhard-Sampler in Hamburg (NZZ, SZ, FAZ), Calixto Bieitos Inszenierung von Mendelssohns Elias-Oratorium mit Christian Gerhaher (FAZ).
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Kunst

Eine Arbeit von Santha KV. Courtesy Kochi Biennale Foundation

Auch der südindische Bundesstaat Kerala hat seine Kunstschau, die Kochi-Muziris-Biennale, und zwar eine politische sehr engagierte, wie Elke Buhr auf Monopol berichtet. Hier soll Gemeinschaft entstehen, nicht Gesellschaft gespalten werden: "Am Eröffnungswochenende flitzen die kleinen Jungs aus der Nachbarschaft durch die voll besetzten Reihen, während vorn zwei Amerikanerinnen mit Gorilla-Masken über die Benachteiligung von Frauen im Kunstbetrieb reden: die Guerrilla Girls, mit denkbar ungünstigem Outfit angesichts der klimatischen Bedingungen im tropischen Kochi, aber einer Botschaft, die auf fruchtbaren Boden fällt, nicht nur weil just am Eröffnungswochenende Vorwürfe sexueller Belästigung gegen einen der größten indischen Kunststars, Subodh Gupta, öffentlich wurden. In dem idyllischen Garten vor der Tür des Debattenpavillons wird Curry aus einer alten Reissorte serviert - auch dies ein Kunstprojekt."

Besprochen werden eine  eine Schau der Wiener Künstlergruppe Gelatin in der Wiener Galerie Meyer Kainer (Standard), Ausstellung über Hannibal als mediterranen Mythos im Palazzo Farnese in Piacenza (SZ) und eine Auswahl aus der Sammlung des Fürsten Liechtenstein in der Albertina (Standard).
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Literatur

Passend zu T.C. Boyles neuem Roman "Das Licht" über den LSD-Guru Timothy Leary geht es auch im großen NZZ-Gespräch mit dem Schriftsteller vor allem um Drogen, Drogengebrauch und die gesellschaftliche Handhabe von Drogen. Boyle, Kind der sechziger Jahre, hat selbst eine ansehnliche Drogenbiografie, betrachtet aber heutige Drogenexzesse skeptisch - insbesondere weil die Dosierungen heutiger Schwarzmarkt-Ware überhaupt nicht mehr verlässlich einzuschätzen sei. Er plädiert daher "für die Legalisierung aller Drogen. ... Ja, manche Leute würden das missbrauchen, manche würden daran sterben. Aber sie sterben auch jetzt daran, und wer verdient dabei? Kriminelle, und damit geht kriminelle Gewalt einher. In Kalifornien wurde Marihuana legalisiert, man bekommt es im Geschäft, warum also sollte man es noch auf der Straße kaufen? Schon die Prohibition in den USA hat nur eine Generation von Alkoholikern geschaffen und die Mafia gestärkt."

Weiteres: Der Merkur freut sich über die Zuerkennung des Heinrich-Mann-Preises für Essayistik an seinen Autor Danilo Scholz und bietet eine Zusammenstellung einiger seiner Texte und Interviews. Auf Tell-Review unterzieht Sieglinde Geisel Marie Darrieussecqs Roman "Unser Leben in den Wäldern" dem Page-99-Test. Besprochen werden unter anderem James Andersons Krimi "Desert Moon" (online nachgereicht von der FAZ), Marente de Moors "Aus dem Licht" (SZ) und Roberto Arlts wiederentdeckter Roman "Die sieben Irren" von 1929 (FAZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Design

Gender Calling: Softairgewehr für Mädchen (2011). Bild: Dominique Gehrke
Wir waren auch schon mal weiter, seufzt Laura Weissmüller beim Flanieren durch die Ausstellung "Nicht mein Ding - Gender im Design" im Archiv der Hochschule für Gestaltung in Ulm: Wo heutige Marketingexperten Spielzeug in der Vermarktung als gender-spezifisch zuspitzen, konnten Jungs und Mädchen sich früher noch in trauter Eintracht aus denselben Kisten zum Spielen bedienen. Gerade im Design zeigt sich: Gender wird gemacht, schreibt Weissmüller. "Die Stärke dieser Ausstellung ist ihre Offenheit. 'Nicht mein Ding' will nichts proklamieren, sondern eher zum Gespräch auffordern. Indem die Ausstellung über den Alltag einen Art Filter laufen lässt, macht sie die Trennung zwischen den Geschlechtern sichtbar. Und allein dadurch wird klar, wie viel gewonnen würde, wenn das Thema Gender im Design endlich mehr Aufmerksamkeit bekommt: Wer sich in einem Entwurf mit seinen Bedürfnissen wiederfindet, wird sich wohl akzeptiert, wertgeschätzt fühlen."
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Stichwörter: Gender, Flanieren, Spielzeug

Film

Reichlich genervt hat sich Matthias Dell für ZeitOnline durch die zweite Staffel der von der ARD online gestellten, im Jahr 1943 angesiedelten Serie "Charité" gearbeitet, in der das Berliner Krankenhaus geradezu zum Hort des NS-Widerstands stilisiert wird, wo man fröhlich Sprüche auf Kosten der Obrigkeit reißt, was selbst Goebbels-Gattin Magda zu kessen Auslassungen hinreißt. "Wenn schon die Frau Propagandaministerin zu scherzen beliebt, wer soll dann nicht gegen die Nazis gewesen sein?" Besonders dubios wird das Unterfangen in der Darstellung des Arztes Ferdinand Sauerbruch, dessen Verhältnis zum Nazi-Regime zumindest reichlich uneindeutig war, der in der Serie aber nun als "gutmütiger Patriarch" erscheint, in dessen Hospital womöglich sogar Stauffenbergs Pläne zum Hitler-Attentat herangereift sind. "Es ist der Wunsch nach solchen Eindeutigkeiten, die aus 'Charité' durch die Verbindung von Geschichtspartikeln und dem selbst entworfenen Schmonz ein letztlich antiaufklärerisches Projekt machen."

Annette Tuffs hält der Serie in der FAZ immerhin zugute, neu aufgetauchte Quellen aufgegriffen zu haben, die Sauerbruchs Widersprüchlichkeiten in Ansicht und Handeln gut unterfüttern. Doch zeigt die Serie davon ausgehend "eine Lichtgestalt, die rastlos operiert, Widerstandskämpfern und jüdischen Mitbürgern hilft. Da ist nur wenig Raum für Ambivalenz, umso mehr für Legendenbildung. ... Seine ambivalente Haltung gegenüber dem NS-Regime kommt bei dieser Inszenierung zu kurz. Wo sind die historischen Filmaufnahmen vom Auftritt beim NS-Parteitag, der Ernennung zum Staatsrat, von Sauerbruchs Ehrung mit Hitlers Nationalpreis, von Menschenversuchen, von denen er als führendes Mitglied des Reichsforschungsrates wissen musste?"

Weiteres: Noch etwas nebulös und nicht ganz zu Ende recherchiert scheinen die Zensur-Vorwürfe, die Ai Weiwei gegen die Berlinale erhebt und von denen Spiegel Online berichtet. Silvia Hallensleben berichtet im Tagesspiegel von literarischen Berlinale-Filmen über Rosa Luxemburg, die polnische Dichterin Zofia Bohdanowiczowa und Karl Ove Knausgård. Der Film Bulletin hat Peter W. Jansens 2002 veröffentlichten Essay über Bruno Ganz online gestellt.
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Musik

Aus der pfälzischen Provinz kam Fabian Altstötter einst nach Berlin, sang dann bei Sizarr und legt nun unter dem Namen Jungstötter sehr zur Freude von tazler Lars Fleischmann sein Debütalbum vor, auf dem Altstötters croonende Stimme geradezu bis zur "Hirnrinde" vordringt. Die "Campness trieft bei ihm aua allen Poren. ... Den Männerfiguren in Christian Krachts Romanen ähnlich, weiß man um Insignien der Maskulinität und bricht sie sogleich", was vielleicht auch wirklich mit der Pfalz zu tun hat: "Unweit der Grenze zu Frankreich, dem Wein nun mal näher als dem Bier, hört man hier mehr Chanson-Überformung statt Rock-Banalität, das Schöne als Antwort auf das Mächtige. Willkommen in der Neuen Deutschen Sanftheit." Wir hören rein:



Weiteres: Knut Henkel porträtiert in der NZZ den israelischen Rockmusiker Duda Tassa, der mit seinen auf Arabisch gesungenen Liedern die Charts seines Heimatlands anführt. In der Welt freut sich Michael Pilz über das Comeback der Specials. Bei The Quietus erinnert sich Michael Hann daran, wie es war, als Spätgeborener in den 80ern nicht mit "Never Mind the Bollocks", sondern mit dem "Great Rock'n'Roll Swindle" der Sex Pistols aufgewachsen zu sein.

Besprochen werden neue Klassikveröffentlichungen, darunter eine von Alexander Liebreich und dem Nationalen Symphonieorchester des Polnischen Rundfunks eingespielte Aufnahme von Karol Szymanowskis 1. Violinkonzert, dessen "mal kristallin-glitzernder, mal atmend melodiöser Märchenton" hier gut aufgehoben ist (SZ).
Archiv: Musik