Efeu - Die Kulturrundschau

Späte Ächtung

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07.03.2019. Nackte Männer sind genauso Objekte der Begierde in der Kunst wie nackte Frauen, lernt die Zeit in einer Londoner Ausstellung. Der Tagesspiegel freut sich über das optimistische, fast idealisierte Bild der  Schwarzen in Amerika, das Barry Jenkins in seiner Verfilmung des James-Baldwin-Romans "Beale Street" zeichnet. Darf man Michael Jackson noch hören, fragen die Musikkritiker. In Zeit online verteidigt Igor Levit die Akustik in der Elbphilharmonie.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.03.2019 finden Sie hier

Kunst

Antonio Pisanello, Allegorie der Luxuria (recto), ca. 1426. Albertina, Wien. Foto: Google Culture Institute 


Von wegen, nur Frauen waren nackte Objekte der Begierde in der Kunst. Jungen Männern ging es auch nicht anders, lernt Zeit-Kritiker Adam Soboczynski in einer Londoner Schau zur Nacktheit in der Renaissance: "Nun muss man sagen, dass in der Renaissance-Ausstellung vor allem der junge Mann als Studien- und Sexobjekt hemmungslos ausgebeutet wird. Und interessanterweise häufig auch dann, wenn eine Frau abgebildet wird. Antonio Pisanellos Zeichnung 'Luxuria' zeigt eine sich auf einem Laken lockend präsentierende Frau, deren Brüste und Scham nicht, wie sonst üblich, verdeckt sind. Offenkundig scheint in Pisanellos Atelier allerdings ein junger Mann Modell gelegen zu haben: Sie hat muskulöse Beine und Arme sowie breite Schultern. Der lüsterne Blick auf die Frau war in der Renaissance nicht selten der lüsterne Blick eines Mannes auf einen Mann."

Michael Wurmitzer hat sich für den Standard umgehört und -gesehen, was junge Künstler in Österreich heute so umtreibt, und ist - zumindest, was die künstlerischen Positionen angeht - leicht enttäuscht: Es werde vor allem "viel problematisiert. Neben dem Feindbild Bildschirm werden soziale Kälte, die Abschottungspolitik der EU und der USA oder etwa der männliche Blick auf Frauen thematisiert. Bei Lucia Elena Průša dienen Stangen an der Wand als Symbol für gesellschaftliche Normierung. Anna-Sophie Berger hat die Schachteln eines massenproduzierten Klopapiers und einer gewerkschaftlich organisierten Erdbeerfarm kapitalismuskritisch zusammengeklebt. Keine gewagten Behauptungen Man darf natürlich gegen all das sein. Muss man vielleicht sogar. Wo bleiben aber kraftstrotzende Gesten und wilde Behauptungen? Sollte man nicht gerade von Digital Natives auch positive Strategien im Umgang mit dem Internet erwarten können? Man wünscht sich nichts sehnlicher, als dass diese jungen Künstler sich freimachen von all dem Ballast."

Günter Krawutschke, VEB Elektrokohle Lichtenberg (EKL), 1979
Weitere Artikel: Hermione Hobby besucht für den Guardian in New York die Künstlerin Betty Tompkins, deren "Fuck Paintings" gerade hoch im Kurs stehen. Anne Katrin Fessler stellt im Standard das neue Kuratorinnenkollektiv der Kunsthalle Wien vor. Und Ingo Arend stellt in der SZ den brasilianischen, sehr politisch arbeitenden Künstler Rafael Pagatini vor, dessen Ausstellung "Macht der Vervielfältigung" derzeit in der Leipziger Baumwollspinnerei zu sehen ist. Besprochen wird eine Ausstellung im Technikmuseum Berlin der Fotografien Günter Krawutschkes in Ost-Berliner Industriebetrieben (Berliner Zeitung).
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Literatur

Das Zeit-Dossier ist origineller Weise einem Dichter in eher weniger Dichter-affinen Zeiten gewidmet. Moritz Aisslinger schildert das entbehrungsreiche, und doch erfüllte Leben des Nico Bleutge. Der Dichter hat seinen Status verloren, konstatiert Aisslinger. Hoffnung kommt ausgerechnet aus dem bei Dichtern häufig so wenig beliebten Internet. Digital Natives, haben Forscher festgestellt, wenden sich der Lyrik wieder zu: "Man erkläre sich den Erfolg mit zwei Gründen, sagte ein britischer Buchanalyst. Zum einen seien Gedichte aufgrund ihrer Form ideal, um auf dem Handy gelesen und in sozialen Medien geteilt zu werden - der indisch-kanadischen Dichterin Rupi Kaur folgen auf Instagram 3,5 Millionen Menschen. Zum anderen versuchten die Jüngeren in diesen politisch aufgebrachten Zeiten, zu verstehen, was vor sich geht in der Welt. Trump, Brexit, der Hochhausbrand von London. Gedichte seien ein gutes Medium, um Worte zu finden für komplexe, schwer zu fassende Gefühle."

Welt-Redakteur Tilman Krause hat Günter Kunert besucht. Der Schriftsteller, der munter Anekdoten von Brecht erzählt, wurde gestern 90 Jahre alt. Für Krause ist Kunert eine Ausnahme in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts: Kein Geraune, keine Tiefsinns-Huberei. Woran liegt's? "Ich bin ein entheimateter Mensch", erklärt Kunert, "meine Idole waren amerikanische Lyriker wie Edgar Lee Masters oder Carl Sandburg. Die sind meine Heimat, wenn Sie das Wort unbedingt hören wollen, das heute wieder so hoch im Kurs steht. Ich halte aber nicht viel davon. Für einen Schriftsteller jedenfalls genügt es, wenn die Literatur Heimat ist. Mehr hat unsereins nicht. Mehr braucht es auch nicht." Für die Berliner Zeitung hat Cornelia Geißer ein Porträt verfasst, Jürgen Verdofsky bespricht in der FR Kunerts Roman "Die zweite Frau", der noch in der DDR verfasst, aber erst jetzt veröffentlicht wurde.

Weitere Artikel: Im Comic boomen Künstlerbiografien, schreibt Christian Gasser in der NZZ. Joshua Schößler spricht für die FR mit dem Lyriker Alexandru Bulucz. Für die FAZ begibt sich Wiebke Hüster mit Büchern von unter anderem Roger Deakin und Pauline de Bok in den Wald auf die Pirsch.

Besprochen werden unter anderem Tanja Raichs "Jesolo" (Standard), Denis Coopers "Mein loser Faden" (SZ), Sheila Hetis "Will ich ein Kind?" (Tagesspiegel), Alexander von Humboldts "Die Russland-Expedition" (NZZ) und Peter Høegs "Durch deine Augen" (FAZ).
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Film

Hoffnungsvoller Naturalismus: Barry Jenkins' "Beale Street" (Bild: Tatum Mangus Annapurna Pictures DCM)


James Baldwin erzählt in seinem Roman "Beale Street" die Geschichte eines jungen schwarzen Mannes, der wegen des Vorwurfs der Vergewaltigung verhaftet wird. Er streitet das ab. Das Opfer, eine junge Latina, hat ihn identifiziert und ist dann nach Puerto Rico geflohen, um alles hinter sich zu lassen. Nach seinem Oscar-Gewinner "Moonlight" hat Regisseur Barry Jenkins nun diesen Roman von Baldwin verfilmt. Bisschen romantisierend, meint Fatma Aydemir in der taz, aber dafür habe Jenkins aufs neue "das Begehren und die Verletzlichkeit von Körpern in einer rassistischen und patriarchalen Gesellschaft" festgehalten. Für Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche, der sich mit dem Regisseur zum Gespräch getroffen hat, sind Baldwin und Jenkins künstlerisch verwandt: Bereits "in 'Moonlight' fand sich vieles von dem, was Baldwins Roman auszeichnete: der feinfühlige Blick auf den afroamerikanischen Alltag, der innere Zusammenhalt der Familie und der äußere Druck, gegen den sich ein hoffnungsvoller Naturalismus behauptet, sowie die persönliche Bilanz einer Epoche über gut zwei Jahrzehnte. Baldwin und Jenkins sind beide mit der Erfahrung als schwarze Minderheit in Amerika aufgewachsen, aber sie zeichnen ein optimistisches, fast idealisiertes Bild." ZeitOnline-Kritikerin sah einen gütigen Film, der zärtlich auf seine verliebten Protagonisten blickt: "Seine Farben werden durch die für den Oscar nominierte Musik von Nicholas Britell vertieft, die von einer einsamen Trompete bis zu bebenden Streichern reicht. Wie bei 'Moonlight' schauen die Charaktere manchmal direkt in die Kamera, in unsere Augen. Und dann, wie eine Ohrfeige, kommen schwarz-weiße Fotografien von Männern, Frauen und Kindern, die von weißen Polizisten brutal behandelt werden."

Weitere Artikel: In der NZZ begräbt Urs Bühler das 3D-Kino, dessen Bilanz zehn Jahre nach seiner Popularisierung durch "Avatar" (hier unsere Kritik von damals) ziemlich mager ausfällt. In der taz empfiehlt Andreas Hartmann die Filmreihe "Sound im Kino" im Berliner Kino Arsenal. Den Wienern legt Dominik Kamalzadeh eine Retrospektive mit den Filmen des russischen Regisseurs Michail Kalik im Österreichischen Filmmuseum ans Herz (mehr dazu bereits hier).

Besprochen werden Jacques Audiards Westernparodie "The Sisters Brothers" mit Joaquin Phoenix und John C. Reilly (Tagesspiegel, taz, FAZ), Linus de Paolis "A Young Man with High Potential" (taz), Fritz Langs auf Heimmedien veröffentlichter Film Noir "Human Desire" (taz), Richard Wilhelmers Essayfilm "Anomalie" über psychische Krankheiten (Standard), Robert Redfords Abschiedsfilm "The Old Man and the Gun" (NZZ), Doris Dörries "Kirschblüten und Dämonen" (Berliner Zeitung), Jonah Hills "Mid90s" (SZ) und mit "Captain Marvel" mal wieder ein Superheldenfilm, in dem diesmal mit Brie Larson allerdings eine Frau die Titelrolle übernimmt (Standard, Tagesspiegel, Presse, Standard).
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Bühne

Die Mailänder Scala hat für drei Millionen Euro im Jahr einen Platz in ihrem Verwaltungsrat für Saudi-Arabien eingerichtet, berichtet Klaus Georg Koch in der FAZ. Was steckt dahinter? An Geldmangel leidet die Scala nicht, aber "Abu Dhabi, Dubai, Maskat haben sich 'Opernhäuser' und Musikfestivals zugelegt, Frankreich ist mit dem Louvre in Abu Dhabi repräsentativ vertreten. Diesen Zug auf der Arabischen Halbinsel möchten die Scala und ihre staatlichen Träger nicht verpassen; Saudi-Arabien erscheint als eine der letzten großen Gelegenheiten, im Geschäft zu bleiben. Und vielleicht ist neben Geld ja noch etwas anderes zu gewinnen, vielleicht gibt es neben dem Wunsch nach Kunstherrschaft und Repräsentation ein wirkliches Verlangen nach kulturellem Lernen und einer Europäisierung der Sitten - 'sieh die Menschheit in einem neuen Licht', lautet der Slogan des arabischen Louvre. Jedenfalls ist im Gespräch, dass die Scala mit ihrer hauseigenen Akademie ein kleines Konservatorium in Saudi-Arabien eröffnet, in dem neben Klavier und Violine auch Chorsingen und Tanz für Kinder unterrichtet werden."

Weiteres: Peter Uehling schreibt in der Berliner Zeitung zum 150. Geburtstag des Komponisten Hector Berlioz. Besprochen werden James Sutherlands Choreografie zu Shakespeares "Othello" in Kaiserslautern (FR), Béla Bartóks Oper "Herzog Blaubarts Burg" am Staatstheater Wiesbaden (FR), Frederic Lions Inszenierung von René Kaliskys "Falsch" am Wiener Theater Hamakom (nachtkritik) und Ambroise Thomas' Oper "Mignon" in Halberstadt (nmz).
Archiv: Bühne

Musik

Wie mit Michael Jacksons Musik nach der HBO-Doku "Leaving Neverland" umgehen, fragen sich derzeit viele Medien - die Radios und Fernsehsender genauso wie diverse Feuilletons (etwa hier). Die wirklich pressierende Frage liege aber woanders, schreibt Bernd Graff in der SZ: "Warum entbrennt jetzt, im Jahr 2019, die Kontroverse, die man mindestens ein Vierteljahrhundert lang so mühelos unter den Tisch gekehrt hat? Nur ein Teil der Antwort darauf ist, dass der tote Jackson sich nicht mehr wehren kann. Doch nimmt die Entrüstung jetzt Fahrt auf, man scheint Jackson den Freifahrtschein, mit dem Pop-Genies überall hin reisen dürfen, nun tatsächlich aberkennen zu wollen. Doch die späte Ächtung und neuere 'Überlebenden'-Rhetorik täuschen nicht darüber hinweg, dass der nun unbedingte moralische Furor jahrzehntelang, wie Carl Wilson in Slate schreibt, "olympische Mentalgymnastik" betreiben musste - und betrieben hat! -, um einen Restglauben an Jacksons Unschuld zu behalten."

Ziemlich unfair findet es Igor Levit im ZeitOnline-Gespräch, wie manche auf die Akustik im großen Saal der Elbphilharmonie einhacken: "Was gab es nicht schon für bedeutende Aufführungen in fürchterlichen Sälen - Bruckners Achte unter Celibidache im Münchner Gasteig! Der Abend ist bis heute unvergessen, die, die da waren, sprechen heute noch davon. ... Ja, der große Saal der Elbphilharmonie hat seine Probleme, wie jeder Saal, in dem man hinten und vorn sitzen kann, das weiß man. Und deshalb verstehe ich nicht, worüber wir hier reden: Entweder man entscheidet sich, mit den akustischen Verhältnissen umzugehen, oder man lässt es bleiben."

Weitere Artikel: Für die taz porträtiert Jens Uthoff den früheren Hüsker-Dü-Musiker Bob Mould, den er seit einiger Zeit nach Berlin verschlagen hat, wo er sein neues Album "Sunshine Rock" aufgenommen hat. In der FAZ gratuliert Andreas Rossmann dem italienischen Liedermacher Antonello Venditti zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden Little Simz' Rap-Album "Grey Area" (ZeitOnline) und das Comeback-Album der Rock'n'Roll-Band Royal Trux (Standard).

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