Efeu - Die Kulturrundschau

Ein Traum von erfüllter Liebe

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09.03.2019. Die Berliner Zeitung gruselt sich mit Sasha Waltz' Choreografie "Rauschen" auf das angenehmste vor der digitalisierten Welt. In Monopol erklärt Rein Wolfs, Leiter der Bundeskunsthalle, warum er an der geplanten Michael-Jackson-Ausstellung festhält. Die FAZ fragt skeptisch, wie das kuratorisch völlig unerfahrene Künstlerkollektiv Ruangrupa die Documenta stemmen will. Die NZZ lässt sich von dem russischen Dramatiker Artur Solomonow erklären, "Wie wir Josef Stalin beerdigten". In der taz fragt Zafer Şenocak, warum die deutsche Literatur die Geschichte der Einwanderer in den 50er bis 70er Jahren ignoriert. Die Musikkritiker feiern Kirill Petrenkos Tschaikowsky.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.03.2019 finden Sie hier

Bühne

Szene aus Sasha Waltz' Choreografie "Rauschen". Foto: Julian Röder

Kapitalismuskritik, Kritik an der Digitalisierung - Sasha Waltz' Choreografie "Rauschen", die an der Volksbühne Premiere hatte, bot alles, was einem heute im Theater lieb und teuer ist. Alexandra Henning (Berliner Zeitung) jedenfalls kann diese Kritik gut nachvollziehen: "Grundmotiv der Arbeit also ist der Einzug der Digitalisierung in fast all unsere Lebensbereiche. Diese kommunikative und soziale Revolution geht mit verordneter Transparenz, mit unsichtbaren Kontrollmechanismen und Schranken einher, deren Auswirkungen noch lange nicht zu erfassen sind. Was steht eigentlich alles auf dem Spiel? Waltz beschäftigt sich mit der Angst vor der Auflösung und vor dem Autonomieverlust des Körpers. Wo bleibt der Widerstand, wo bleiben die echten zwischenmenschlichen Begegnungen jenseits von Likes und Statusmeldungen? So zeigt 'Rauschen' über weite Strecken verlorene, isolierte und aufbegehrende Individuen - zwischen der Abwesenheit von Gefühlen taumeln sie in einem undefinierten, haltlos wirkenden Raum."

In der taz fragt sich Katrin Bettina Müller, ob man das nicht alles schon zu oft gesehen hat: "Wie etwas nicht mehr zu fassen ist, das doch eben noch das Leben schien, dafür findet die Choreografin mit ihrem Ensemble einige starke Bilder. Dennoch denkt man auch bei diesem Teil an 'Körper' zurück, das Stück, mit dem Waltz 1999 eine neue Spielzeit an der Schaubühne eröffnete ... Wie 'Körper' von der Kapitalisierung des Menschen und vom Zerfall von Gemeinschaft erzählte, war für Berlin eine Innovation im Tanz und im Tanztheater. 'Rauschen' hat wieder viel von den damaligen Qualitäten. Aber die Erzählung von der Unbehaustheit in der eigenen Haut, von der gestörten Beziehung nicht nur zu den Nächsten, sondern auch sich selbst, ist jetzt schon viele Male gehört und gesehen worden."

Tatjana Montik trifft sich für die NZZ in Tbilissi mit dem regimekritischen russischen Bühnenautor Artur Solomonow, der wohl zu Recht befürchtet, dass sein jüngstes Stück "Wie wir Josef Stalin beerdigten" in Russland nicht aufgeführt werden kann. Es geht um eine Theatertruppe, die ein Stück über Stalin aufführen will und dabei den immer wieder neuen Wünschen eines "Mannes aus dem Ministerium" folgen muss: "Solomonow sagt, ihn habe am meisten 'dieser Prozess der allmählichen Selbstvergottung' interessiert. In seinem Stück werden die Schauspieler und der Regisseur allmählich 'stalinisiert': Der eine erklärt sich zum Herrgott, aus dem anderen wird ein Denunziant, noch ein anderer fühlt sich zur Rolle des Henkers berufen. Dem Autor ging es darum herauszuarbeiten, wie leicht jemand zum Tyrannen wird und wie schnell die duckmäuserische Umgebung mit ihm paktiert."

Weitere Artikel: Daniela Tomasovsky unterhält sich für die Presse mit Aron Stiehl, der an der Wiener Volksoper Wagners "Fliegenden Holländer" inszeniert. Juan Martin Koch schreibt in der neuen musikzeitschrift zum 200. Geburtstag von Hector Berlioz.

Besprochen werden Florian Fiedlers Inszenierung von Dominik Buschs Stück "Das Recht des Stärkeren" am Theater Oberhausen (nachtkritik) und "Was ihr wollt - der Film" am Schauspielhaus Wien (Standard).
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Literatur

Es gibt kein Gedächtnis der migrantischen Erfahrung in der Bundesrepublik, sagt der Schriftsteller Zafer Şenocak im taz-Gespräch: Für ihn eine glatte "Verdunkelung" einer Facette deutscher Geschichte, lediglich "ein Korn" sei überliefert. "Wie will man die Industriegeschichte Deutschlands in den 50er, 60er oder 70er Jahren schreiben, wenn man das nicht thematisiert? Wie war es möglich, dass Tausende von Menschen ungelernt, darunter viele Analphabeten, innerhalb kürzester Zeit in Betriebe eingebunden wurden und daraus Produktivität geschaffen wurde? Das wird so hingenommen, aber das war eine Riesenleistung von allen Seiten. ... Was hat die deutsche Literatur der Gegenwart darüber erzählt? Das bisschen Migrantenliteratur dazu ist viel zu wenig. Es ist eine große gesamtgesellschaftliche Erfahrung."

Weitere Artikel: Lernt Programmiersprachen, beharrt darauf zu wissen, ob ihr es bei digitaler Literatur mit Texten eines Menschen oder einer Maschine zu tun hat, ruft die Schriftstellerin Ulla Hahn den FAZ-Lesern im literarischen Wochenend-Essay angesichts des digitalen Fortschritts entgegen. Sonja Longolius und Janika Gelinek ist es binnen eines Jahres als neue Leiterinnen des Literaturhauses Berlin geglückt, die Institution von innen heraus zu erneuern und neuen Publikumsschichten zu öffnen, lobt Susanne Messmer in der taz. In der Literarischen Welt ist Wieland Freund skeptisch, ob das vollmundig annoncierte Comeback der Schwedischen Akademie wirklich ein solches darstellt. Iso Camartin schlägt für die NZZ nach, wie es um die Darstellung der Leidenschaften in der Literatur bestimmt ist. Für die Literarische Welt hat Richard Kämmerlings den Schriftsteller Juan S. Guse in Hannover besucht. Hanns Zischler präsentiert in der Literarischen Welt die Bücher, die seine Biografie prägten, darunter Vladimir Nabokovs "Erinnerung, sprich" und Jorge Luis Borges' "Die germanischen Literaturen des Mittelalters". Wieland Freund erzählt in der Literarischen Welt, wie David Foster Wallace bei einem Brotjob einmal buchstäblich einen Slapstick-Stunt hinlegte, um sich aus einer peinlichen Situation zu retten. In der "Freitext"-Reihe von ZeitOnline liefert die Schriftstellerin Katja Oskamp neue Anekdoten aus Berlin-Marzahn. Außerdem bringt die Literarische Welt einen Auszug aus Herta Müllers neuem Buch "Im Heimweh ist ein blauer Saal".

Besprochen werden unter anderem Annie Ernauxs "Der Platz" (Literarische Welt), Feridun Zaimoglus "Die Geschichte der Frau" (taz), Julya Rabinowichs "Hinter Glas" (Tagesspiegel), Jagoda Marinics "Sheroes. Neue Held*innen braucht das Land" (Standard), Reinhard Kaiser-Mühleckers "Enteignung" (SZ), Gunther Geltingers "Benzin" (NZZ) und ein Band mit Kunstkritiken von John Updike (FAZ).
Archiv: Literatur

Film

Freude, Familie, Liebe: Barry Jenkins' Baldwin-Verfilmung "Beale Street"


Kaum ein Medium, das zum Start vom Barry Jenkins' Verfilmung von James Baldwins Erzählung "Beale Street" (mehr dazu hier) kein Interview mit dem Regisseur geführt hätte. Im Filmdienst-Gespräch sieht der Regisseur Parallelen zwischen seinem Kino und Jazz: "Wie ist diese Musik entstanden? Die Instrumente sind aus den Händen der Oberschicht in die Hände der schwarzen Arbeiterklasse gewandert und die Schwarzen schufen den Jazz. Und daraus entwickelten sich Blues, Rock, Soul, alle diese Richtungen. Vielleicht wird das auch mit dem Kino passieren. Die Technologie des Kinos gelangt aus den oberen Klassen in die Hände von Menschen wie mir, die in Armut aufgewachsen sind. Da entsteht vielleicht ein anderes Kino, als wir es heute kennen." In der Welt erklärt er, warum sich seine Filme zwischen den Polen "hoffnungsvoll" und "hoffnungslos" der afroamerikanischen Erfahrungen bewegen. "'Hoffnungsvoll' und 'hoffnungslos' bilden eine Dichotomie, eines ergänzt das andere. Unglücklicherweise sind beide Teil des afroamerikanischen Lebens in den Vereinigten Staaten. Ich strebe nach einem Gleichgewicht zwischen beiden, nicht nach einem Kino der Trostlosigkeit, von dem wir genug hatten. Daher diese Überfülle an Freude, von Familie und Liebe und Zusammenhalt in meinem Film, damit der Zuschauer daran glauben kann, dass diese Figuren nicht von dem Schlimmen überwältigt werden."

Weitere Artikel: Für völlig unzureichend hält Rüdiger Suchsland in seiner "Cinema Moralia"-Kolumne die gängige Vorstellung, Zuschauerzahlen seien für Fragen der Filmförderung das absolut zentrale Kriterium: Fragen der Marktmacht, der objektiven potenziellen Reichweite und der individuellen Erfolgskriterien bleiben hier völlig unberücksichtigt: "Der zugrundeliegende Publikumsbegriff ist gleichzeitig naiv und totalitär." Sehr skeptisch beobachtet SZ-Redakteur Tobias Kniebe, das ein Institut in Tuchfühlung mit Hollwoods Star-Eliten Filme mit sozialer Wirkungsmacht lancieren will: "Gute Filme sind stets vielschichtig, ihr Kern lässt sich gerade nicht ausbuchstabieren und in ein Telegramm schreiben." Margret Köhler spricht für den Filmdienst mit Jacques Audiard über dessen Western-Parodie "The Sisters Brothers". Markus Keuschniggs empfiehlt dem Wiener Publikum die Nicolas-Roeg-Reihe im Österreichischen Filmmuseum, über die sich an dieser Stelle bereits Christoph Huber und Dominik Graf unterhalten haben. Patrick Holzapfel erinnert im Filmdienst an die Schauspielerin Jennifer Jones, die vor 100 Jahren geboren wurde.

Besprochen wird Park Chan-wooks Amazon-Serie "Die Libelle" nach dem gleichnamigen Roman von John Le Carré (FAZ) und "Mid90s", das Regiebüt des Schauspielers Jonah Hill, der hier insbesondere auch in der musikalischen Untermalung eine äußerst liebevoll gestaltete Hommage an die 90er vorlegt, wie sich Yuki Schubert im Freitag freut.
Archiv: Film

Kunst

Archangel Michael: And no message could have been any clearer. 2009 by David LaChapelle. Courtesy of the Artist. © David LaChapelle


Rein Wolfs, Leiter der Bonner Bundeskunsthalle, erklärt im Interview mit Monopol, warum er an seiner geplanten Michael-Jackson-Ausstellung trotz der Missbrauchsvorwürfe festhalten will: "Im Vordergrund steht, dass wir es mit einer Kunstausstellung zu tun haben, die zu zeigen und zu präsentieren von kultureller Relevanz ist. Natürlich kontextualisieren wir die Ausstellung jetzt neu, und über die Art und Weise führen wir in den letzten Tagen starke Diskussionen. Wie gehen wir damit um? Wir werden am Anfang der Ausstellung in einem Text Stellung beziehen und auch etwas zu den Vorwürfen sagen, die in dem Dokumentarfilm von Dan Reed geäußert werden. Wir machen deutlich, dass die Vorwürfe uns schockieren. Wir erklären aber auch, dass die Reflektion von Künstlern auf das Phänomen Michael Jackson letztendlich nicht aus der Geschichte gestrichen werden kann. Wir gehen auf Distanz zur Figur Michael Jackson, aber zunächst sind wir alle konfrontiert mit Vorwürfen gegen ihn, nicht aber mit einer Verurteilung."

Marco Stahlhut besucht für die FAZ das Zentrum des indonesischen Künstlerkollektiv Ruangrupa in Jakarta. Dort befallen ihn Zweifel, ob das Kollektiv wirklich einen Brocken wie die Documenta stemmen kann: Schließlich habe keines der Mitglieder eine kunstgeschichtliche oder kuratorische Ausbildung. "Ade Darmawan war Geschäftsführer der letzten drei Jakarta-Biennalen (2013 bis 2017), aber er hat sie nicht kuratiert; dafür gab es jeweils ein Expertenteam. Dem gehörte 2015 als Chefkurator Charles Esche an, der nun wiederum in der Findungskommission für die Leitung der Documenta 15 saß. Auch sonst waren weder Ruangrupa als Kollektiv noch eines ihrer Mitglieder jemals für eine international bedeutende Ausstellung federführend künstlerisch verantwortlich. ... Tatsächlich wird das alles wohl beinahe zwangsläufig dazu führen, dass auch die zukünftige Documenta wieder von einem unüberschaubaren, undurchsichtigen Kuratoren-Team im Hintergrund geleitet wird."

Weitere Artikel: In Monopol beschreibt die Malerin Despina Stokou den Sexismus in der Kunstwelt. Ebenfalls in Monopol können wir ein letztes Interview mit der kürzlich verstorbenen amerikanischen Künstlerin Carolee Schneemann lesen. Philipp Meier stellt in der NZZ den Vier-Jahreszeiten-Zyklus des Schweizer Malers Franz Gertsch vor.

Besprochen werden die Wanderausstellung "Macht der Gefühle" (FR), die vom ehemaligen Spex-Chefredakteur Max Dax kuratierte Ausstellung "Hyper!" über die Beziehung zwischen Kunst und Musik in den Hamburger Deichtorhallen (monopol), eine Installation und eine Ausstellung des ghanaischen Künstlers El Anatsui im Haus der Kunst in München (SZ).
Archiv: Kunst

Musik

Die Musikkritiker zählen die Tage, bis Kirill Petrenko endlich offiziell seinen Posten als Leiter der Berliner Philharmoniker antritt. Schon jetzt sind sie hin und weg von jedem Gastauftritt des Dirigenten mit seinem künftigen Orchester, so auch jetzt wieder nach einem Abend mit Tschaikowsky und Schönberg: "Vorbei die kleinteiligen Programme, die es unter Sir Simon Rattle so oft gab", ruft Christiane Tewinkel in der FAZ, vorbei auch die Experimente, die am Geschmack des Publikums bewusst vorbei zielten: "Es geht zurück auf den Kontinent, zurück zum sogenannten Kernrepertoire." Wie Petrenko die Philharmoniker Tschaikowskys Fünfte spielen lässt, raubt auch Tagesspiegel-Kritiker Frederik Hanssen schier den Atem: "Raffiniert, wie der Dirigent den Anfang ganz neutral spielen lässt und so die Neugier darauf noch steigert, wie sich das altbekannte Stück wohl entwickeln wird. Aus den herrlichen Bläsersoli zu Beginn des Andante cantabile entfaltet sich ein Traum von erfüllter Liebe und erwiderter Leidenschaft, neckisch wirken die knarrenden Einwürfe der Hörner, die Petrenko in der Ballszene heraushebt, zum Naturereignis wird das rasant genommene Finale, kulminierend in blendendem Fortissimo." Beim Dlf Kultur gibt es einen Mitschnitt des Abends.

Der Dirigent Michael Gielen ist gestern im Alter von 91 Jahren gestorben. "Er war ein Fels in der Brandung des Musikbetriebs", erklärt Carolin Naujocks im Dlf Kultur und würdigt ihn als Anwalt der Musik des 20. Jahrhunderts. Er "suchte Wahrheit, nicht nur Hörvergnügen", schreibt Manuel Brug in der Welt. Ähnlich bringt es Wolfgang Schreiber auf den Punkt: "In der Welt nach Auschwitz und Hiroshima bleibt Schillers Ode hohl", zitiert er den Verstorbenen in der SZ. "So gründlich und kritisch kann ein Musiker mit der klassischen Musik umgehen. Michael Gielen wollte die historischen und philosophischen Hohlräume der Musikwerke, die er dirigierte, befragen. Das gehörte zu seiner künstlerischen Wahrheitsliebe."

Weiteres: In der NMZ erinnert Juan Martin Koch an Hector Berlioz, der vor 150 Jahren gestorben ist. Helmut Mauró schreibt in der SZ zum Tod des Pianisten Jacques Loussier. Besprochen werden Little Simz' neues Album "Grey Area" ("eine Machtdemonstration", schreibt Konstantin Nowotny in der Jungle World), neue Alben von Efdemin und Lucy Railton (NZZ), Robert Forsters neues Album "Inferno" (Pitchfork, mehr dazu hier), ein Auftritt von Lucia Cadotsch (Presse), das neue Dagobert-Album "Welt ohne Zeit" (Freitag), Finch Asozials Album "Dorfdisko" (ZeitOnline), Herbert Grönemeyers Berliner Auftritt (SZ, Berliner Zeitung, Tagesspiegel) und Helado Negros auf Pitchfork gefeiertes Album "This is How you Smile". Daraus eine Hörprobe:

Archiv: Musik