Efeu - Die Kulturrundschau

Ich muss verschwinden und die Frau sein

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.03.2019. Die SZ feiert die hervorragende Schau von Kriegsfotografinnen im Düsseldorfer Kunstpalast. Der Tagesspiegel preist Magdeburg als Pionierin des Neuen Bauens. Die NZZ sieht die neue Freiheit der Kunst in der Zensur von unten.  In der Welt fürchtet der Drehbuchautor Maciej Karpinski eine neue Selbstzensur unter polnischen Filmemachern. Die taz spürt mit der Theatergruppe Gob Squad der Düsternis von Blackpool nach. Und in der FAZ reitet Dietmar Dath eine Attacke auf die Edelkunstkritik, die vor Hatusne Miku und den gerechneten Künsten kapituliert.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.03.2019 finden Sie hier

Kunst

Françoise Demulder: Das Massaker von Karantina, Beirut, Libanon, 1976. © Succession Françoise Demulder / Roger-Viollet

Überfällig, faszinierend und hervorragend kuratiert findet SZ-Autor Alexander Menden die Schau "Fotografinnen an der Front" im Düsseldorfer Kunstpalast, die Bilder von Lee Miller und Gerda Taro über Catherine Leroy und Carolyn Cole bis zu der 2014 in Afghanistan ermordeten Anja Niedringhaus zeigt. Kunstpalast-Direktor Felix Krämer übrigens, informiert Menden, ist der Sohn des 1999 in Kosovo getöteten Stern-Fotografen Volker Krämer: "Die Bilder, die im Kunstpalast gezeigt werden, sind ästhetisch, perspektivisch und was die Distanz oder Nähe, die sie sich erlauben, genauso vielfältig und heterogen wie die der männlichen Kollegen. Bedeutend für ihre Einordnung sind allerdings die Unterschiede im direkten Zugang zu den eigentlichen Kampfhandlungen, im Grad der Gefahr sexualisierter Gewalt, denen die Fotografinnen in den jeweiligen Kampfzonen potenziell ausgesetzt waren, sowie das Maß an Inszenierung, durch die sich die Epochen unterscheiden."

Balthus empört die Feministinnen, John Waterhouse' Nymphen werden aus dem Museum genommen, Eugen Gomringers "Avenidas"-Gedicht wird entfernt. Na und? Philipp Meier kann das nicht aufregen. "Kunst war doch noch nie frei", meint er schulterzuckend in der NZZ: "Kunst hatte die Macht von Fürsten und Kirchenvätern zu repräsentieren. Hochkulturen wie das alte Ägypten nahmen sie in Dienst des göttlichen Pharaonentums. Und nicht einmal bei den Höhlenbewohnern von Lascaux war sie frei. Die Tiermalereien an den Wänden jedenfalls entsprangen gewiss nicht irgendeinem ausgelassenen Selbstverwirklichungs-Workshop, sondern galten dem schamanistischen Jagdzauber. Was wir für die Freiheit der Kunst halten, ist ein junges Phänomen. Mit Kunstfreiheit meinen wir vor allem die Freiheit einer antibürgerlichen Kunst. Diese Kunst war indes keineswegs freier als jene anderer Epochen. Sie stand ganz einfach im Dienst einer neu etablierten kulturellen Macht, nämlich jener der Linken." Am Ende überlegt Meier, ob Zensur von unten schlechter ist als die von oben. Aber auch das findet er nicht, sie sei höchstens unberechenbarer. Und: "Ist es aber nicht vielmehr die Freiheit, die Zensur von unten überhaupt ermöglicht?"

Weiteres: Im Standard berichtet Olga Kronsteiner, dass die Wiener Albertina über Jahre hinweg Warnungen ignoriert hat, dass es sich bei etlichen Werken der Sammlung Batliner um Fälschungen handelte. Tagesspiegel-Kritikerin Birgit Rieger war dabei, als Kurator Ralph Rugoff in Venedig seine Pläne für die Biennale vorstellte. In der Berliner Zeitung berichtet Nikolaus Bernau, dass Berlins Staatliche Sammlungen mit dem Haus Bastian eine höchst wertvolle Immobilie geschenkt bekommen haben. Jürgen Müller sinniert in der FAZ über eine Satyr-Statue, die Fritz Lang schuf, bevor er Filmregisseur wurde und in der Müller jedoch bereits den "Beginn einer Suche nach dem Kino als spezifisch dionysischer Kunstform" erkennt. In der SZ bespricht Till Briegleb Nathalie Djurbergs Psycho-Knetanimationen in der Frankfurter Schirn.
Archiv: Kunst

Architektur

Magdeburger Hermann-Beims-Siedlung, 1927. Foto: Stadtarchiv

Nicht nur mit dem Bauhaus, sondern in mehrfacher Hinsicht verschrieb sich die Weimarer Republik dem Neuen Bauen: Ernst May machte Frankfurt zu einer zentralen Stadt des Siedlungsbau. Aber wegweisend war auch Magdeburg unter seinem Bürgermeister Hermann Beims und Stadtbaurat Bruno Taut, wie Tagesspiegel-Kritiker Bernhard Schulz in einer höchst interessanten Ausstellung dort erfährt: "Magdeburg sollte spätestens nach dieser so dichten Ausstellung im Kunsthistorischen Museum wieder als eine der kulturell herausragenden Städte der Weimarer Republik ins Bewusstsein treten.  Die Siedlungen sind nach Sanierungen in den vergangenen Jahren in durchweg hervorragendem Zustand. Was in der Beims-Siedlung, der Curie-Siedlung oder in Cracau an der Alten Elbe erbaut wurde, ist bei aller - der wirtschaftlichen Not geschuldeten - Einfachheit der Formgebung von großer Geste. Diese Bauten künden von dem Willen, Licht, Luft und Hygiene gerade auch für die Schwächsten der Gesellschaft bereitzustellen."
Archiv: Architektur

Bühne

Eva Behrendt unterhält sich in der taz mit Bastian Trost und Simon Will von der deutsch-englischen Theatergruppe Gob Squad über Popkultur und Klasse, Theater und Handwerk und natürlich den Brexit. Simon Will sieht darin vor allem eine Entscheidung gegen das Establishment, Wer zwischen Manchester und Liverpool lebe, habe einfach nichts zu verlieren: "Man muss sich das so ähnlich vorstellen wie im Ruhrgebiet. Nach dem Niedergang der Kohleindustrie trat nicht viel Neues an ihre Stelle. An Orten wie Blackpool spürt man sofort eine Atmosphäre des Verlusts. Und natürlich geben die Leute nicht nur den Politikern die Schuld, sondern den Menschen um sie herum - etwa den Polen, die seit den Nullerjahren bereit waren, für sehr viel weniger Geld als die Briten zu arbeiten. Trotzdem wäre es falsch, Nationalismus oder Rassismus als einzigen Grund für den Brexit auszumachen. Die Vielzahl der Narrative macht es so kompliziert."

Besprochen werden Philipp Löhles Parabel über Ängste und Grenzen in der Provinz "Am Rand" am Staatstheater Nürnberg (SZ), Jörg Widmanns und Peter Sloterdijks revidierte Oper "Babylon" in Berlin (NZZ) und Georges Aperghis' Experimentaloper "Avis de tempête" am Staatstheater Mainz (FAZ).
Archiv: Bühne

Film

Die polnische PiS-Regierung will die Bevölkerung umerziehen und ein Mittel dazu ist unter anderem die Einflussnahme auf die Filmproduktion, sagt Drehbuchautor Maciej Karpinski im Interview mit der Welt. Insbesondere die polnische Geschichte solle im Kino nun mittels eineindeutiger Heldengeschichten neu konstruiert werden. Mit politischen Filmen etwa über Nazi-Kollaborateure oder die Zeit der antisemitischen Hetze in den 60ern brauche Karpinski derzeit jedenfalls nirgends anzuklopfen: Eine konkrete Vorab-Zensur gebe es zwar nicht, doch "die reale Gefahr ist eine andere: dass Menschen aufgrund der herrschenden Atmosphäre sich selbst zensieren. ... Natürlich kann ich solch ein Buch schreiben und zu einem Produzenten gehen. Ich ahne seine Antwort: 'Ja, interessant, aber es ist, glaube ich, momentan keine gute Zeit dafür. Wir würden kein Geld bekommen, brauchen wir gar nicht zu probieren.' Was er nicht sagen würde: Er braucht auch Förderung für sein nächstes Projekt, und das will er nicht gefährden. Eine sehr gefährliche Denkweise."

Besprochen werden der Thriller "Destroyer" mit Nicole Kidman als Bad Cop, was laut ZeitOnline-Kritikerin Barbara Schweizerhof hochinteressante Effekte hat, Jacques Audiards Westernkomödie "The Sisters Brothers" (Standard) und die Serie "Homecoming" mit Julia Roberts (NZZ).
Archiv: Film

Literatur

Bei seinem neuen Buch "Die Geschichte der Frau" handele es sich keineswegs um den Roman eines Mannes über Frauen, beteuert der Schriftsteller Feridun Zaimoglu in der Berliner Zeitung: "Männer, die über Frauen sprechen und schreiben, sind mir suspekt. Das habe ich oft genug gelesen. Ich muss also großen Aufwand betreiben, ich muss verschwinden und die Frau sein. Das ist ein schmerzhafter Prozess. ... Ich habe lange gebraucht, um festzustellen, dass ich eine lächerliche Figur bin. Ich gebe einen feuchten Kehricht auf mein Ich, auf die souveräne Person." Denn "Selbstfindung, Selbstverwirklichung sind für mich nicht wünschenswert. Ich möchte keine Identität von fester Konsistenz." Freitag-Rezensent Eren Güvercin sieht in diesem Roman dabei zu, wie sich "ein Gegennarrativ zu den Lügengeschichten der Männer formt".

Weiteres: Der SWR hat Hubert Fichtes Radioessay "Organisierte Ägyptenrundreise 1969" online gestellt. Besprochen werden Ines Geipels "Umkämpfte Zone" (Freitag), Elisabeth Strouts "Alles ist möglich" (SZ), Daniela Kriens "Die Liebe im Ernstfall" (Tagesspiegel), Richard Flanagans "Der Erzähler" (NZZ) und René Nybergs "Der letzte Zug nach Moskau" (FAZ).
Archiv: Literatur

Musik

Keiner seiner Kollegen mag die digitale Manga-Musikerin Hatsune Miku: In der FAZ beklagt Dietmar Dath daher den Zustand einer Musik-, Pop-, aber auch jeder anderen Kunstkritik, die sich angesichts der Herausforderung der Digitalisierung der Künste auf bloße Geschmacksregungen zurückzieht oder essenzialistische Authentizität (etwa "Lunge und Stimmbänder" im Kontrast zu rein digitalen Stimmen) zum Kriterium erhebt. "Was stattdessen nötig wäre, und zwar bei der Edelkunstkritik wie beim Schreiben über Popmusik oder Serienstreams, ist ein Begriff von Vermittlung, der weder medienökologisch noch didaktisch denkt, sondern die technische Gemachtheit der Künste mit ihrer sozialen abgleichen kann, statt beide im Kopf ineinander kollabieren zu lassen."



Mit so etwas wie "Stilen" braucht man Wolfgang Rihm nicht kommen, erklärt der Komponist im großen SZ-Gespräch: "Es gibt Menschen und es gibt deren Artikulationsweisen. Aber zu sagen: Hier gibt es diesen Stil und den wenden wir jetzt an. Das geht nicht. Ich glaube, dass die Dinge von denen stammen, die sie tun, dass die Hände sich abdrücken im Handwerk, dass die Menschen sich zeigen in dem, was Menschenwerk ist, und dass es nicht abstrakte Stilideen oder was auch immer gibt."

Weitere Artikel: Für den Standard porträtiert Christian Schachinger den Schweizer Sänger Dagobert, der seinen anschmiegsam gefühlvollen Pop mit Begriffen wie "Schlager" keinesfalls beschrieben sehen möchte. Christoph Forsthoff berichtet in der NZZ von seiner Begegnung mit dem Schlagzeuger Martin Grubinger. Im Standard schreibt Karl Fluch einen Nachruf auf den Schlagzeuger Hal Blaine: ein "geheimer Gigant", der so ziemlich für jeden Popklassiker der 50er bis 70er getrommelt hat. Außerdem kramt Karl Fluch für das "Remain in Light"-Blog des Standard Tom Waits' Album "Rain Dogs" aus dem Jahr 1986 hervor.

Besprochen werden William Basinskis Ambientalbum "On Time Out Of Time" (Pitchfork), Little Simz' neues Album "Grey Area" (taz), Anna Loos' "Werkzeugkasten" (Berliner Zeitung) und neue Popveröffentlichungen, darunter das neue, von Danger Mouse produzierte Album von Karen O (SZ).

Archiv: Musik