Efeu - Die Kulturrundschau

So viel Schönes von den Deutschen

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16.03.2019. Fasziniert reisen die KritikerInnen in der Ausstellung "bauhaus imaginista" zu Bauhaus-Keimzellen von Kyoto über Moskau bis Kalkutta. Nur die SZ stöhnt: Wann ist endlich Schluss mit diesem unkritischen Bauhaus-Wahnsinn? Was ist eigentlich gute Literatur, fragt die taz. Literatur, die einen Überschuss an Sinn bietet, antwortet die NZZ. Die Welt fragt, weshalb schlechte Filme so schamlos subventioniert werden. Ziemlich indiskret findet die SZ die große New Yorker Frida-Kahlo-Ausstellung, die ihr mehr Körper als Kunst zeigt. Und alle trauern um Okwui Enwezor.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.03.2019 finden Sie hier

Architektur

University of Ife in Ile-Ife, Nigeria. Architekten: Arieh Sharon, Eldar Sharon und Harlod Rubin'. © Arieh Sharon digital archiv
In vierjähriger Recherche, beauftragt vom Goethe-Institut, von der Bauhaus Kooperation Berlin Dessau Weimar und dem HKW, durchleuchteten die Kuratoren Marion von Osten und Grant Watson die weltweiten Verflechtungen des Bauhauses, informiert eine hingerissene Birgit Rieger im Tagesspiegel, die in der Ausstellung "bauhaus imaginista" im Berliner Haus der Kulturen der Welt lernt, an wie vielen internationalen "Keimzellen" das Bauhaus agierte:  "Eine davon ist die Kunstschule Kala Bhavan, die 1919 von dem Dichter und späteren Nobelpreisträger Rabindranath Tagore in Santinitekan gegründet wurde, 150 Kilometer nördlich von Kalkutta. Tagore und seinen Mitstreitern ging es darum, eine moderne, eigenständige Ästhetik zu entwickeln, nachdem die indische Kultur unter dem Einfluss der britischen Kolonialherren zerrieben worden war. Dabei griff der weitgereiste Tagore auf alle möglichen Inspirationsquellen zurück, vom traditionellen indischen Handwerk über buddhistische Höhlenmalerei bis zur britischen Arts- and-Crafts-Bewegung und weiteren Moderne-Strömungen in Europa."

In der Berliner Zeitung blickt auch Nikolaus Bernau erstaunt auf Bauhaus-Stationen von Sao Paolo bis Kyoto, Hangzhou bis Neu Delhi, Moskau, Casablanca und Lagos, Peking, Rabat und Tokio und in der taz lobt Sophie Jung vor allem die kritische, "dezentrale Perspektive" der Ausstellung, die alles andere als eine "hoheitliche Geschichte" über das Bauhaus erzähle.

Wann ist endlich wieder Schluss mit dem unkritischen Bauhaus-Jubel, stöhnt in der SZ indes Peter Richter, sämtliches historisch-analytisches Interesse vermissend: "Jede weiße Wand der Welt, jedes Flachdach, jedes halbwegs waagerechte Fensterformat ist inzwischen großzügig dem Bauhaus zugeschlagen worden, egal, ob irgendein dort Lehrender oder Ausgebildeter irgendetwas damit zu tun hatte oder nicht. Der offiziösen Feierwut gilt selbst Tel Avivs Weiße Stadt so selbstverständlich als 'Bauhaus', als erwarte die Bundesrepublik endlich ein Dankesschreiben aus Israel für so viel Schönes von den Deutschen. Es fällt bei dieser Ausstellungseröffnung dazu seitens der Kuratoren der unfassbar schulterzuckende Satz: 'Es gibt nun einmal eine Gleichstellung von Bauhaus mit der internationalen Moderne.'"
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Film

4,6 Millionen Euro deutsche Filmfördermittel hat Til Schweiger insgesamt für seinen neuen Film "Head Full of Honey" erhalten. Das auf Englisch gedrehte, mit Nick Nolte besetzte Remake seines eigenen Films "Honig im Kopf" ist nicht nur an den US-Kassen mit Umsätzen im Kleckerbereich völlig abgesoffen, sondern wurde von der dortigen Kritik auch noch kräftig abgewatscht. Jetzt kommt der Film in die deutschen Kinos, weshalb Hanns-Georg Rodek in der Welt nachfragt, warum solche Vehikel überhaupt so beherzt in die hiesigen Fördertöpfe greifen dürfen: Immerhin handelt es sich um "einen Film, der weder in Deutschland spielt, noch irgendwas über Deutschland aussagt, deutsche Schauspieler in Kleinstrollen beschäftigt (Veronica Ferres in einem Kurzauftritt als Frau im Zug) und vor allem: in dem kein Wort deutsch gesprochen wird. Anders gesagt: Ein Film, der für die ganze Welt bestimmt ist, nur nicht für das Land, das 4,6 Millionen Euro spendierte." 60 Millionen Euro hat der Originalfilm "Honig im Kopf" im übrigen allein in Deutschland eingespielt - man fragt sich schon ernsthaft, warum Till Schweiger angesichts solcher Umsätze überhaupt noch Filmförderung nötig hat.

Weitere Artikel: Karsten Essen schreibt im Filmdienst über die Filme von J.C. Chandor. Christian Schröder gratuliert Nadja Tiller im Tagesspiegel zum 90. Geburtstag. Besprochen werden F.W. Murnaus auf DVD restaurierter "Der Gang in die Nacht" von 1920 (Filmdienst), neue Filmbücher (Filmdienst), zwei Dokumentarfilme über das krachend gescheiterte Fyre-Festival (Freitag) und die Netflix-Serie "Russian Doll" (Freitag).
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Musik

Für ZeitOnline hat sich Reinhard Köchl zum großen Geburtstagsplausch mit dem Jazzer Joachim Kühn getroffen, der gestern 75 Jahre alt geworden ist. Gerade hat er sein neues Album "Melodic Ornette Coleman" veröffentlicht, für das er auf den gemeinsamen Fundus aus der Zusammenarbeit mit Ornette Coleman in den Jahren 1995 bis 2000 zurückgreift. Zu hören sind Stücke, die Facetten abseits gängiger Coleman-Images betonen: "Er fühlte sich auch in farbenfrohen, bluesgetränkten Melodien wohl", sagt Kühn und kommt auf Colemans System der Harmolodics zu sprechen: "Als wir zusammen spielten, wurde mir klar, worum es ihm bei den Harmolodics ging: den Kopf ausschalten, alles Erlernte vergessen und sich einfach in eine bestimmte Richtung bewegen, ganz egal, was einen da erwartet. ... Man kann die Harmolodics eigentlich nicht erlernen, weil sie sich auf keine bestimmte Erkenntnis stützen. Sie sind eher eine Haltung, ein Synonym für Gleichberechtigung, sowohl der Musiker wie der Noten. Ich verstehe es so: Jeder hat das Recht, sich zu jeder Zeit frei auszudrücken." Wir hören in das Album rein:



Weitere Artikel: In der Zeit führt Kevin Le Gendre durch die britische Jazzszene. Besprochen werden das neue Album von Die Heiterkeit (Standard), das neue Piano-Album "Seven Days Walking" des Streaming-Blockbusters Ludovico Einaudi (Welt), der Auftakt des Zürcher "Taktlos"-Festivals (NZZ), der Berliner Auftritt von Florence + the Machine (Tagesspiegel), von Iván Fischer dirigierte Konzerte des Concertgebouw Orkests und des Budapest Festival Orchestras (Tagesspiegel) und ein Auftritt der Geigerin Carolin Widmann (Tagesspiegel).
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Literatur

Wir müssen reden, schlägt der Literaturwissenschaftler Moritz Baßler in der taz dem Literaturbetrieb als diesjähriges Branchenmotto der Leipziger Buchmesse vor: Literaturkritik, Verlage, Handel und Publikum hätten sich im Zuge der Causa Würger ziemlich voneinander entfremdet, lautet sein Befund, nachdem er den "Stella"-Debattenverlauf als äußerer Beobachter der ausdifferenzierten Segmente bis hin zu Amazon-Kundenrezensionen nochmals und ziemlich klug aufgedröselt hat. Sein Fazit: "Es gab noch nie so divergierende Vorstellungen von dem, was eigentlich gute Literatur ist, wie derzeit. Spektakel oder nicht, schwere Zeichen, Lesbarkeit, Pop? ... Damit gerät auch die Gatekeeperfunktion ins Wanken, die Verlegern, Kritikerinnen und Professoren so lange eigen war. Das kann man kulturkritisch beklagen, aber es ist womöglich einfach nur der folgerichtige Effekt von Demokratisierung, allgemeiner Bildung und Zugang zum Leitmedium Web 2.0: Kaffeeelse und Julemaus können sich inzwischen bestens selbst darüber verständigen, was gute Lektüre ist."

"Das kunstvoll Vertrackte gehört genauso zur deutschsprachigen Literatur wie die reflexhafte Klage darüber", schreibt Paul Jandl in der NZZ mit Blick auf Julia Enckes Kritik in der FAS an ihrer Ansicht nach in Blähdeutsch verfassten, bei den Kritikern aber dennoch hoch im Kurs stehenden aktuellen Veröffentlichungen (unser Resümee). Jandl plädiert demgegenüber für die Lust am Komplizierten: "Wenn Literatur nicht nur die flauschige Auslegeware für zu Hause verbrachte Abende ist, dann entsteht die Lust daran aus dem Überschuss an Sinn. Und dieser Überschuss an Sinn entsteht eben selten aus der bloßen Handlung des Romans. Er kommt aus der Risikobereitschaft der Sprache. Im richtigen Leben kann es nützlich sein, schnörkelfrei von A nach B zu kommen. In der Literatur droht bei Reisen dieser Art die Langeweile."

Weitere Artikel: Für die taz plaudert Thomas Winkler mit Sarah Kuttner über ihren neuen Roman "Kurt". Der Schriftsteller Ralph Dutli schreibt im literarischen Wochenendessay der FAZ über Gottfried Kellers Gedicht "Nachtfalter" und dessen Mitarbeit bei der Übersetzung von Joseph Brodskys russischen Gedichten. Im Dlf-Kultur-Feature beschäftigt sich Olga Hochweis mit der tschechischen Literaturszene 30 Jahre nachdem Vaclav Havel aus der Samtenen Revolution als Präsident hervorging.

Besprochen werden unter anderem Jaroslav Rudišs "Winterbergs letzte Reise" (taz), Carmen Maria Machados Debüt "Ihr Körper und andere Teilhaber" (taz), Ruth Schweikerts "Tage wie Hunde" (NZZ), Liviu Rebreanus "Der Wald der Gehenkten" (NZZ), Reinhard Kaiser-Mühleckers "Enteignung" (Standard), Aura Xilonens Debütroman "Gringo Champ" (SZ), Juri Andruchowytschs "Karpatenkarneval" (SZ), eine Hörbuch-Reihe von Georges Simenons Romanen (online nachgereicht von der FAZ), Saša Stanišićs "Herkunft" (Literarische Welt) und Han Kangs "Deine kalten Hände" (FAZ).
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Bühne

Bluets. Schauspielhaus Hamburg. Bild: Stephen Cummiske
Gelungen findet Nachtkritikerin Katrin Ullmann Katie Mitchells Bühnenversion von Maggie Nelsons Episodenband "Bluets" am Schauspielhaus Hamburg, der sich in 240 Mini-Kapiteln der Farbe Blau widmet: "129 Paragrafen zählt die Inszenierung. Durchnummeriert, durch einen zarten Klingelton voneinander abgetrennt, erzählen sie von Yves Klein, Leonard Cohen und von Goethe, vom Ozean und von Lapislazuli, von Glasscherben, vom Himmel und vom Cyanometer, von Kornblumen und vom blaue Dinge sammelnden Seidenlaubenvogel."

Weitere Artikel: Im Standard blickt Margarete Affenzeller zurück auf vergangene Inszenierungen von Elfriede-Jelinek-Texten.

Besprochen wird Marcus Grubes Inszenierung von Oliver Storz' "Die barmherzigen Leut von Martinsried"  am Württembergischen Landestheater (Nachtkritik), Anna Jelena Schultes "Hotel der Immigranten" von CapriConnection am Zürcher Theaterhaus Gessnerallee (Nachtkritik), Clara Weydes Inszenierung von Alfred Jarrys "König Ubu" am Theater Bielefeld (Nachtkritik), Janusz Kicas Inszenierung des Franz-Werfel-Stückes "Jacobowsky und der Oberst" im Wiener Josefstadt-Theater (Standard), Nicoleta Esincencus "Requiem für Europa" beim Genossen-Festival im Berliner HAU (taz), Peter Steins Inszenierung von Molieres "Menschenfeind" am Pariser Theatre Libre (FAZ), Markus Greys Oper "Frankenstein" am Brüsseler Theater (FAZ), das Stück "Scudorama" vom Paul Taylor Dance Company am Bremer Metropol Theater (FAZ).
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Kunst

Nickolas Muray: Frida in New York. 1946. Brooklyn Museum. Emily Winthrop Miles Fund. Nickolas Muray Photo Archives
Bis an die Schmerzgrenze indiskret empfindet Sonja Zekri in der SZ die Ausstellung "Frida Kahlo: Appearances Can Be Deceiving" im Brooklyn Museum, die größte Kahlo-Ausstellung in den USA seit zehn Jahren, die nur ein Dutzend Gemälde der mexikanischen Künstlerin, dafür aber umso mehr Accessoires, etwa Kahlos Lippenstifte, ihre Beinprothese oder ihre Korsetts zeigt und Kahlo als Leidensgestalt für "genderfluide Zeiten" aufbereitet: "Wenn man im Brooklyn Museum die Luftlöcher in Bauchhöhe sieht und die tentakelartigen Modelle aus Stahl und Leder betrachtet, dann verliert sich das Dekorative, das Ästhetische. Dann rückt man Frida Kahlo auf eine so unmittelbare Weise auf den Leib, dass man sich fragt, ob sie das wirklich gutgeheißen hätte, ob sie, die ihre Schmerzen und ihre Verletzungen so häufig in den Mittelpunkt ihrer Kunst gestellt hatte, aber eben: ihrer Kunst, ob sie wirklich gewollt hätte, dass der Betrachter den Abdruck ihrer echten Narben, ihrer echten Versehrungen so hautnah sieht, ja, fast muss man sagen: erlebt."

Okwui Enwezor, im nigerianischen Kalaba geborener Kurator, von 2011 bis 2018 Chef des Münchner Hauses der Kunst, verantwortlich u.a. für die Documenta 11 und Leiter der Biennale in Venedig im Jahr 2015, ist im Alter von 55 Jahren gestorben. Die Kritiker würdigen geschlossen Enwezors visionären, transnationalen Blick, der afrikanische Kunst jenseits der eurozentrischen Perspektive in den Fokus stellte. In der Berliner Zeitung schreibt Harry Nutt: "Das sich gerade in jüngerer Zeit radikal verändernde Verhältnis von kulturellem Erbe und Postkolonialismus hat Okwui Enwezor theoretisch und praktisch vorbereitet wie kaum jemand sonst." Weitere Nachrufe in FR, Tagesspiegel, taz, Welt, SZ und monopol-magazin.

Weitere Artikel: "Fulminant" findet Almuth Spiegler in der Presse die Neuaufstellung der Wien-um-1900-Sammlung im Leopold-Museum unter Direktor Hans-Peter Wipplinger: "Als kostbar funkelnde, ultimative Wien-um-1900-Wunderkammer, in seiner Integration von Schiele- und Klimt-Ikonen, Wiener-Werkstätten-Kunsthandwerk, (jüdischer) bürgerlicher Kulturgeschichte die reine Kampfansage an Belvedere, MAK und Wien-Museum." Im Standard zieht Michael Wurmitzer eine bittere Bilanz der Leitung von Nicolaus Schaffhausen, der die Wiener Kunsthalle Ende März verlässt und trotz "fürstlicher" Subventionen klägliche Zahlen hinterlässt.

Besprochen werden die Ausstellung "Fotografinnen an der Front - Von Lee Miller bis Anja Niedringhaus" im Düsseldorfer Kunstpalast (FAZ) und die Ausstellung "Anna Winteler. Körperarbeit. Eine Retrospektive" im Kunsthaus Baselland (NZZ).
Archiv: Kunst