Efeu - Die Kulturrundschau

Tieftraurige Abrechnung

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.03.2019. Die Feuilletons gratulieren Anke Stelling, die gestern für ihre fiebrigen "Schäfchen im Trockenen" mit dem Leipziger Buchpreis ausgezeichnet wurde. In der taz erklärt der Musikethnologe Michael E. Veal, warum Wiederveröffentlichungen von Weltmusik so billig sind. So modern hat Dresden mal gesammelt, staunt der Tagesspiegel im Albertinum. Die SZ durchlebt mit Tschaikowskys "Jungfrau von Orleans" die Exaltationen einer Frauenseele. Die FAZ durchleidet mit Alberto Ginasteras Oper "Beatrix Cenci" Machtmissbrauch und sexuelle Perversionen in einer verrohten Gesellschaft.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.03.2019 finden Sie hier

Literatur

Für ihren Roman "Schäfchen im Trockenen" ist die Schriftstellerin Anke Stelling gestern mit dem Leipziger Buchpreis ausgezeichnet worden (hier alle Preisträger im Überblick). "Gut so", freut sich Andreas Platthaus auf FAZ.net, denn ausgezeichnet wurde damit die Außenseiterin unter den Nominierten - was für Platthaus mit Blick auf potenzielle Seilschaften, die die Nominiertenliste durchscheinen lässt, eine große Erleichterung darstellt. Sehr zufrieden mit dieser Auszeichnung ist auch Carolin Ströbele auf ZeitOnline: Stellings Roman nimmt zwar das Prenzlauer-Berger Neu-Wohlhabenden-Milieu kritisch in den Blick, belässt es aber nicht bei einer Nabelschau: Das Buch "ist eine zutiefst sarkastische und tieftraurige Abrechnung mit den Idealen der westdeutschen Nachkriegszeit - alle haben dieselben Chancen, alle machen es besser als ihre Eltern, jeder kann alles werden. ... Stellings Betrachtungen sind mal philosophisch, mal banal, selbstmitleidig, messerscharf sezierend, trauernd und alles auskotzend - das verleiht ihrer Protagonistin eine Unmittelbarkeit, die sehr glaubhaft wirkt. 'Schäfchen im Trockenen' ist ein fiebriger Text." Dlf Kultur hat die Preisträgerin im Gespräch.

Bei all der Aufmerksamkeit, die der Kategorie "Belletristik" zuteil wird, sollte man aber auch die Kategorie "beste Übersetzung" nicht übersehen, mahnt Gerrit Bartels im Tagesspiegel: "Es ist der vielleicht ehrenvollste Preis", denn hier schlummern oft die wirklich guten Bücher, die langfristig verfangen - "oder Bücher, die gerade die deutschsprachige Frühjahrsproduktion sehr blass und unterkomplex aussehen lassen. So wie in diesem Jahr (...) Gabriela Adamesteanus großartig proustisch-und-Ullysses-hafter Roman 'Verlorener Morgen', der bald ein Klassiker sein dürfte" und von Eva Ruth Wenne übersetzt wurde.

Vor ein paar Jahren hieß es noch, der deutschen Gegenwartsliteratur fehle der Hunger, um sich in die Welt zu verbeißen, jetzt wird an jeder Ecke das "Buch der Stunde" ausgerufen - was wiederum Miriam Zeh auf ZeitOnline sehr skeptisch beobachtet: "Nun sind sie endlich da: die relevanten Romane. Autoren, Verlage, Veranstalter und sogar die von ewigen Untergangsfantasien geplagte Literaturkritik profitieren davon. Bedeutungsschwere Rezensionen können geschrieben werden, die einen Bogen spannen von einzelnen Romanszenen hin zu den großen Fragen unserer Gegenwart. ... Nur die Literatur bleibt auf der Strecke. Der einzelne Roman verkommt zum bloßen Stichwortgeber. Er vermittelt eine präferierte Weltsicht, die man als Leser ohnehin immer schon mal diskutiert oder bestätigt haben wollte."

Weiteres zur Buchmesse: Andreas Fanizadeh (taz) und Ronald Pohl (Standard) berichten von der Verleihung des Preises zur Europäischen Verständigung, der in diesem Jahr an die Publizistin Masha Gessen ging. Zum Auftakt der Buchmesse wirft Stefan Gmünder für den Standard einen Blick auf die Wirtschaftszahlen des Buchmarktes - und kommt zu wenig erfreulichen Ergebnissen, wenngleich die Verkaufszahlen unabhängiger Verlage wie Suhrkamp und Bastei immerhin steigen.

Weitere Artikel: Oliver Jungen berichtet in der FAZ vom Auftakt der Lit.Cologne mit der Schriftstellerin Annie Ernaux. Claudia Mäder glossiert in der NZZ über wasserdichte Bücher. Besprochen werden unter anderem Aura Xilonens "Gringo Champ" (NZZ), Anna Giens und Marlene Starks "M" (Tagesspiegel), Bela B. Felsenheimers Romandebüt "Scharnow" (Berliner Zeitung) und Feridun Zaimoglus "Die Geschichte der Frau" (online nachgereicht von der FAZ).
Archiv: Literatur

Kunst

Piet Mondrian, Farbentwurf für den Salon der Ida Bienert. Kupferstich-Kabinett, Staatliche Kunstsammlungen Dresden


Bernhard Schulz reibt sich die Augen in der Dresdner Ausstellung "Zukunftsräume. Kandinsky, Mondrian, Lissitzky und die abstrakt-konstruktive Avantgarde in Dresden 1919 bis 1932": So modern haben sie in Dresden mal gesammelt und ausgestellt? Der Tagesspiegel-Kritiker kann es kaum glauben: "'Raumgefühl' - das ist das Stichwort für diejenigen Tendenzen, die in Dresden auf wache Bereitschaft stießen. Mondrian entwarf 1926 einen abstrakten Raum für Ida Bienert, eine Raumschöpfung, die seine Malerei und die Theorie von 'De Stijl' in die dritte Dimension heben sollte. Dieser kubusförmige Raum blieb ungebaut. Anders der 'Demonstrationsraum' für abstrakte Kunst, den der russische Tausendsassa El Lissitzky im selben Jahr für die 'Internationale Kunstausstellung' in Dresden errichtete. Er wurde zum Vorbild für das 'Abstrakte Kabinett', das Lissitzky zwei Jahre darauf in Hannover realisieren konnte und das durch die Rekonstruktion im dortigen Sprengel-Museum ungleich stärker Beachtung fand."

Jordan Wolfson, Neverland, 2001


Bernd Graff gelingt es in der eigentlich "wunderbaren" Bonner Michael-Jackson-Ausstellung nicht, den genialen Popkünstler vom mutmaßlichen Vergewaltiger zu trennen. Allerdings war die Schau nie als Hagiografie konzipiert, aber auch Ironie funktioniert hier nicht mehr, lernt der SZ-Kritiker: "Denn monumentale Kitschporträts wie die Gemälde von Yan Pei-Ming, Kehinde Wiley und David LaChapelle wirken auch hier noch wie lackierte Hochzeitstorten. Nur kann man sie nicht mehr durch den Meta-Meta-Fleischwolf der Ironie drehen. ... Dagegen sind Arbeiten wie Jordan Wolfsons 'Neverland', das lediglich Jacksons geschminkte, blinzelnde Augen in einer riesigen weißen Fläche zulässt, oder Appau Junior Boakye-Yiadoms 'PYT', das Jackson-Loafers aufgehängt an Vergnügungsparkballons schweben lässt, sehr viel aussagekräftiger, weil sie das Medienphänomen Jackson thematisieren und keinen Pop-König vergöttern."

Im Interview mit dem Standard erklärt der Foto-Experte Thomas Seelig, warum Wien eigentlich kein Fotomuseum braucht, sondern eher ein Bildmuseum: "In den vergangenen zehn, 15 Jahren hat sich die Fotografie so ausdiversifiziert, dass sie kaum mehr unter einen Begriff subsumiert werden kann. Es ist der falsche Zeitpunkt, sich heute über ein reines Haus für Fotografie zu definieren. Es geht darum, die Grenzen zu öffnen, sich die Ränder anzuschauen. Der Begriff Fotografie ist schlichtweg zu eng."

Weitere Artikel: Im Guardian erzählt Andrew Dickson in einem longread, wie schwierig es heutzutage ist, unschätzbare Kunst zu transportieren. Im Standard berichtet Michael Wurmitzer von der Foto Wien. In der FAZ schreibt Stefan Trinks zum Neunzigsten der japanischen Künstlerin Yayoi Kusama.

Besprochen werden außerdem die Ausstellung "And Berlin Will Always Need You" im Berliner Martin-Gropius-Bau (Berliner Zeitung) und die Ausstellung "Flying High. Künstlerinnen der Art Brut" im Wiener Kunstforum (FAZ).
Archiv: Kunst

Musik

Wir alle lieben Wiederveröffentlichungen zuvor peripherer, übersehener oder schlicht vergessener Musik aus Ländern, deren musikalische Kulturen bis vor dem Siegeszug des Internets nicht ohne weiteres sichtbar waren. Doch solche Re-Issues etwa aus den afrikanischen Ländern haben auch Schattenseiten, erklärt der morgen beim Berliner Festival "Find the File" sprechende amerikanische Musikethnologe Michael E. Veal im taz-Gespräch: Die ursprüngliche Industrie liegt längst am Boden, den Umsatz machen jetzt Labels aus den klassischen Industrienationen. Und auch der Kontext der Musik geht oft verloren: "Die Zirkulation der sogenannten World Music beinhaltet immer ihre Loslösung von den Entstehungsorten und der Zeit. Das hat eine politische Komponente. Wir sind im Westen privilegiert, weil wir die Musik hören, ohne dass wir uns mit ihrer Entstehungsgeschichte auseinandersetzen müssen. Niemand, der an dem Business beteiligt ist, agiert aus Idealismus. ... Einfach die Sounds aus dem Kontext zu reißen und sie einer westlichen Hörerschaft aus ästhetischen Gesichtspunkten unterzujubeln, das finde ich zu billig."

Das "eiernde Gefühl", das den taz-Kritiker Hans Nieswandt beim Betritt der Michael-Jackson-Ausstellung in der Bundeskunsthalle Bonn angesichts jüngster Kontroversen um den "King of Pop" beschleicht, weicht rasch "einer Art prunkvollen Pop-Überwältigung. ... In aller Imposanz wird deutlich, dass Jacksons pop-ikonische Überlebensgröße nicht so einfach kleinzukriegen ist."

Weitere Artikel: Tim Caspar Boehme führt für die taz durch das Programm der Berliner MaerzMusik. Nadine Lange hat sich für den Tagesspiegel mit der Musikerin Kitty Solaris getroffen. Eric Facon erzählt in der NZZ Joe Jacksons Karriere. Besprochen werden Karl-Heinz Otts Buch "Rausch und Stille - Beethovens Sinfonien" (FAZ) und Nilüfer Yanyas Debütalbum "Miss Universe", an dem Pitchfork-Kritikerin Laura Snapes sehr viel Freude hat. Ein Video daraus:

Archiv: Musik

Film

Mit seinem Film "Wintermärchen" will Regisseur Jan Bonny keine politische Analyse und Erklärung des NSU-Terrors liefern, sagt er im SpOn-Gespräch gegenüber Sven von Reden - zu so etwas sei er als Filmemacher gar nicht in der Lage. In gegenteiligen Forderungen "steckt die an sich verständliche Hoffnung, Filme zu bekommen, die einem die Welt erläutern. Bei 'Wintermärchen' geht es aber um einen Zugang zu fiktionalen Figuren und ihrer Binnendynamik, zu einer sehr subjektiven und eingeschränkten Sicht. ... Ich bedaure sehr, dass in Deutschland alles auf eine Art Fernsehrealismus hinausläuft. Alles ist gewöhnlich so sauber, nie soll etwas kollidieren. 'Wintermärchen' arbeitet mit Physis, dadurch hat er vielleicht einen anderen Ton." Außerdem bespricht die Welt und, online nachgereicht, die FAS den Film.

Weitere Artikel: In der FAZ gratuliert Andreas Kilb der Schauspielerin Fanny Ardant zum 70. Geburtstag. Barbara Wurm schreibt in der taz einen Nachruf auf den georgischen Filmemacher Marlen Chuziew, der das sowjetische Tauwetter-Kino der Sechziger unter anderem mit seinem Film "Mne dwadzat let" geprägt hat.



Besprochen werden Jordan Peeles "Wir" (Tagesspiegel, viele weitere Kritiken dazu im gestrigen Efeu), Tilman Singers auf 16mm gedrehter Kunsthorror-Film "Luz" (Tagesspiegel, unsere Kritik hier), Talal Derkis Islamisten-Doku "Of Fathers and Sons" (Tagesspiegel, mehr dazu hier), Robert Guédiguians "Das Haus am Meer" (Tagesspiegel), Christine Reponds "Vakuum" mit Barbara Auer (Tagesspiegel, mehr dazu hier), Heinrich Breloers von Arte online gestellter Zweiteiler "Brecht" (Welt) und die Mondnazi-Groteske "Iron Sky: The Coming Race" (FAZ, NZZ).
Archiv: Film

Bühne

Szene aus Lotte de Beers Inszenierung der "Jungfrau von Orleans" im Theater an der Wien. Foto: © Werner Kmetitsch


Absolut hingerissen schildert Reinhard J. Brembeck in der SZ seine Eindrücke in Lotte de Beers Wiener Inszenierung der Tschaikowsky-Oper "Die Jungfrau von Orléans": Oper wie Inszenierung sind ein leidenschaftliches "Plädoyer für die Gleichstellung der Frauen", freut er sich. "Oksana Lyniv, die Musikchefin der Grazer Oper, peitscht diese Exaltationen einer Frauenseele unablässig auf und an. Sie fordert den Wiener Symphonikern alles an Klarheit, Akkuratesse, Wärme, Eleganz, Leidenschaft und Tanzfreude ab. Sie lässt die Bläser sich oft voll verausgaben, die Streicher haben dann das Nachsehen, die Sänger müssen alles geben, um hörbar zu bleiben. Lyniv ist hier die unbeschränkte Herrin über alles Emotionale." (mehr dazu in der FAZ)

Schwer angeschlagen kommt hingegen FAZ-Kritiker Josef Öehrlein aus Alberto Ginasteras erstmals 1971 aufgeführter, "bedrückend aktueller" Oper "Beatrix Cenci", mit der das Arsmondo-Festival in Straßburg eröffnete: Machtmissbrauch, sexuelle Perversion, Hass und Gewalt, die einer verrohten Gesellschaft normal erscheint, sind die Themen. "Mit seiner multitonalen, neoexpressionistischen Kompositionstechnik, vor allem mit Hilfe des üppig besetzten Schlagzeugs, erzeugt 'Ginastera' fast durchgängig eine Atmosphäre der Beklemmung. Scheinbar unbeschwerte Passagen, wie etwa Tanzmusiken nach Renaissance-Art, münden unausweichlich in das Chaos barbarischer Cluster. Die Aufteilung des neunzigminütigen Einakters in vierzehn kurze Szenen gibt der Handlung einen sprunghaften, filmschnitthaften Effekt, der in der Inszenierung [von Mariano Pensotti] noch durch großformatige Video-Einspielungen verstärkt wird."

Weiteres: Dieter David Scholz stellt in der neuen musikzeitung Neuerscheinungen zum 200. Geburtstag von Jacques Offenbach vor.
Archiv: Bühne