Efeu - Die Kulturrundschau

Das kann einen schon fertigmachen

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25.03.2019. Die Leipziger Buchmesse ist zu Ende, die Kritiker ziehen Bilanz: Die taz freut sich zum Beispiel, dass nicht mehr die literarischen Silberrücken herrschen, sondern ein egalitäres Diskurs-Gesumm. Zum Auftakt der Berliner MaerzMusik fragt sich der Tagesspiegel mit Frederic Rzewski, wohin sich die Avantgarde verkrümelt hat. Die NZZ folgt in einer Assemblage-Schau in Winterthur der Spur des Daseins. Die Nachtkritik erlebt in Jan Bachmanns "Rom"-Inszenierung in Hamburg den blutigen Start der Zivilisation.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.03.2019 finden Sie hier

Literatur

In Leipzig ist die Buchmesse zu Ende gegangen. Taz-Redakteur Dirk Knipphals war zum ungefähr 25. Mal vor Ort und erinnert sich frei von Wehmut daran, was sich im Laufe dessen alles geändert hat: War die Buchmesse früher noch literarisches Hochamt mit viel Trubel um den Großadel aus Literatur und Kritik, ist sie heute egalitäres Diskurs-Gesumm und -Gebrumm: "Die Messe ist inzwischen so etwas wie eine Dauertalkshow. ... Die Debattenmaschine braucht Futter." Früher "fuhr man als Messebesucher nach Leipzig, um Bekannte zu treffen und literarischen sowie literaturkritischen Silberrücken beim Reden und Biertrinken zuzusehen. Inzwischen fährt man da hin, um bei einem vielfältigen Stimmengewirr mitzumischen. Letzteres ist besser."

An jeder Ecke der Messe gab es in diesem Jahr "gesellschaftspolitische Befunde, die entschieden daherkommen, aber Platz für Fragezeichen lassen", schreibt Joachim Güntner in der NZZ. Tagesspiegel-Kritiker Gerrit Bartels berichtet von einer alles in allem aufregungs- und höhepunktarmen Buchmesse, selbst wenn sich Feridun Zaimoglu einmal mehr darüber geärgert hat, den Leipziger Buchpreis schon wieder nicht erhalten zu haben. Auch Sandra Kegel von der FAZ erlebte Leipziger Tage von "wohltuender Gelassenheit", bei denen sie unter anderem sehen durfte, wie Literaturkritiker Rainer Moritz "zwischen Lack, Leder und Poledance-Stangen über Literatur und Sex referiert". Sonja Zekri berichtet in der SZ, wie der Singeklub Leipzig mit einem ausdauernden Ständchen einen rechten Stand beschallte und unter allgemeinem Applaus siegreich von dannen zog. Weitere Resümees schreiben Cornelia Geißler (Berliner Zeitung) und Richard Kämmerlings (Welt).

Weitere Artikel: Bernd Graff feiert im Auftrag der SZ auf der Lit.Cologne bei ausgelassenen DJ-Abenden mit Wladimir Kaminer und Nick Hornby. Deutlich literarischer ging es beim Festival Literatur im Nebel im österreichischen Heidenreichstein zu, bei dem SZ-Redakteur Nicolas Freund J.M. Coetzee zuhören konnte. Für die Berliner Zeitung spricht Steven Geyer mit dem Comiczeichner Mike Mignola über dessen "Hellboy"-Comicreihe, die dieser Tage ihr 25-jähriges Bestehen feiert. In der FAZ gratuliert Tilman Spreckelsen dem georgischen Schriftsteller Guram Dotschanaschwili zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden Marion Braschs "Lieber woanders" (Freitag), Clemens J. Setz' Erzählband "Der Trost runder Dinge" (FAS), Juan S. Guses Science-Fiction-Roman "Miami Punk" (ZeitOnline), Julian Barnes' "Die letzte Geschichte" (online nachgereicht von der FAZ), Gunther Geltingers "Benzin" (Zeit) und neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Sven Nordqvists "Spaziergang mit Hund" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Hans Jürgen Balmes über W.S. Merwins "Für den Jahrestag meines Todes":

"Jedes Jahr kreuze ich ohne es zu wissen den Tag
An dem die letzte Flamme mir zuwinkt
..."
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Bühne

Heikle Macht-Balance: "Rom" am Thalia Theater. Foto: Krafft Angerer


Erhellend und vergnüglich findet Stefan Forth in der Nachtkritik Stefan Bachmanns Inszenierung "Rom", für die John von Düffel Shakespeares Dramen "Coriolan", "Julius Cäsar" und "Antonius und Cleopatra" zu einer Geschichte von Macht und Herrschaft verwebte. Sie spielt auf einem heikel zu balancierenden Profilierungspodest: "Das sinnstiftend Perfide an dieser spürbar statischen Konstruktion: Sie lässt sich in Schräglage versetzen, so dass etwa einer wie Julius Cäsar eben noch einsam ganz oben stehen und im nächsten Moment schon gemeuchelt am Boden liegen kann, wenn sich das Gleichgewicht der Macht verschiebt. Das kann in 'Rom' im Zweifel unmenschlich brutal und schnell gehen. Schließlich hat sich diese Demokratiegesellschaft in ihren Urzeiten bekanntlich von einer Wölfin nähren und großziehen lassen."

Ganz London war bei der Premiere von Verdis "Macht des Schicksals", bei der Jonas Kaufmann und Anna Netrebko ihr Publikum in den siebten Opernhimmel versetzten. Manuel Brug war für die Welt natürlich auch da: "Jonas Kaufmann hat an diesem Londoner Abend (die verpasste Generalprobe hat ihm wohl gutgetan) sogar etwas wiedergefunden, was man verloren glaubte: das Strahlen, die Leichtigkeit. Was sich hier - stückgerecht - im Verlauf eindunkelt und fahler wird. Psychologisch wie sängerisch ein großer Moment. Und Anna Netrebko, die Flippige, Intuitive, Instinktsichere ist sowieso auf dem Höhepunkt ihrer Soprankunst. Ihr dunkel glühender Sopran schwingt sich entspannt und weich in hellste Höhen hinauf."

Besprochen werden Federico Bellinis und Antonio Latellas Dante/Pasolini-Abend "Eine göttliche Komödie" (den SZ-Kritikerin Christine Dössel ziemlich verstiegen fand, Nachtkritik), Armin Petras' Inszenierung von Petra Hulovás "Kurzer Geschichte der Bewegung" am Staatstheater Nürnberg (Nachtkritik), Roland Mays Brecht-Iinszenierung "Die heilige Johanna der Schlachthöfe" am Theater Plauen-Zwickau (Nachtkritik), Kay Links Inszenierung von Aribert Reimanns Oper "Medea" nach Franz Grillparzer am Aalto-Theater in Essen (FAZ), Jan Bosses Inszenierung von Wolfram Lotz' Stück "In Ewigkeit Ameisen" im Akademietheater (Standard, Nachtkritik), Verena Stoibers Donizettis-Inszenierung "Lucia di Lammermoor" an der Grazer Oper (Standard) und Oliver Polaks böser Comedy-Abend auf Kampnagel in Hamburg (Welt).

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Kunst

Dieter Roth: Großes unfertiges koloriertes Relief, 1979-1980. Foto: SIK-ISEA, Philipp Hitz / Kunstmuseum Winterthur


NZZ-Kritikerin Maria Becker kann in der Ausstellung "Reality Check" im Kunstmuseum Winterthur sehr schön verfolgen, wie die Assemblage zur Rezeptur in der Kunst von heute wurde: "Daniel Spoerri kippt Tische und Kisten mit allem, was darauf ist, in die Vertikale und fixiert das Sammelsurium zum Relief. Es ist nicht vordergründig die Inszenierung des Abfalls, die hier in den Blick gerückt wird, sondern die Spur des Daseins mit all seinen fragwürdigen Hinterlassenschaften. Anders als der Franzose Arman, der den Müll von Paris in Acryl eingießt wie ein zoologisches Präparat, gibt Spoerri dem Ephemeren eine Plattform. Die Kunst hat in seinen Werken den Anspruch des Ewigen abgelegt und erzählt eine moderne Geschichte der Vanitas. Im Grunde sind die neuen Materialwelten der Kunst ein Spiegel dessen, was uns umgibt. Dass die Massenproduktion die Einmaligkeit des künstlerischen Werks relativieren konnte, ist nur konsequent."

Weiteres: In der Berliner Zeitung freut sich Mechthild Henneke über den neugetstalteten Lichthof des Martin-Gropius-Baus. Besprochen werden die dortige Ausstellung "And Berlin Will Always Need You" (FR), die Schau "César et le Rhône" über den altrömischen Alltag im Musée d'Art et d'Histoire (MAH) in Genf (NZZ) und eine Schau des dänischen Malers Vilhelm Hammershøi im Pariser Musée Jacquemart-André (FAZ).
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Film

Jonas Lages empfiehlt in der SZ das Podcastphänomen "Movies by Minutes", in dem sich ganze Podcast-Serien mit jeder Episode buchstäblich minutiös durch ganze Filme arbeiten. Bert Rebhandl berichtet in der FAZ vom Diagonale-Festival in Graz. Im Hollywood Reporter schreibt Chris Koseluk einen Nachruf auf den Horror- und Actionregisseur Larry Cohen, dessen Tod gestern Nachmittag gemeldet wurde. Bei Trailers from Hell kommentiert Cohen den Trailer zu seinem Blaxploitation-Film "Hell Up in Harlem":

Archiv: Film

Musik

Zum Auftakt der Berliner Maerzmusik spielte der 80-jährige amerikanische Komponist Frederic Rzewski sein imposantes Variationenwerk "The People United Will Never Be Defeated", das der Pianist Igor Levit gerade wieder populär gemacht hat. Wie Ulrich Amling im Tagesspiegel erkennen lässt, sorgte Rzewski damit in gleich mehrfacher Hinsicht für Katerstimmung: "Wo ist die zeitgenössische Musik eigentlich in den Ausstrahlungen der Gegenwart abgeblieben? 'Dass sich die Avantgarde sang- und klanglos verkrümelt hat, ist ja schon schlimm genug', sagt Rzewski. 'Dass aber auch der Kapitalismus noch immer nicht besiegt ist, das kann einen schon fertigmachen.'... Unter Levits Händen strahlt und ächzt dieses Werk gute 50 Minuten lang, ehe mit hart erkämpftem, Einsamkeit und Angst trotzendem Choral wieder 'El pueblo unido jemás será vencido' auftaucht. Frederic Rzewski dagegen braucht am Freitag beinahe 90 Minuten, das Bedrohliche gleicht bei ihm einer Schlammlawine, die durch alle Genres wirbelnden Brüche wirken verschliffen, wenn auch nicht versöhnt."

"Musik verändert nichts" lautet der Titel des neuen Albums von Botschaft, der Band des Hochschulprofessors Malte Thran. Der Titel ist programmatisch zu verstehen, erklärt Daniel Gerhardt in der Zeit: "Das Irritierende an Botschaft ist die Klarheit, mit der sie eben ihre Botschaften formulieren. Existenzkrise zwischen den Kuchenessern im Berliner Stadtteil Alt-Treptow, haarkleine Kapitalismuskritik am Beispiel gespaltener Atome, Rekapitulationen einer gescheiterten BRD-Sozialisierung. ... Diese Band weiß eben um die Nutzlosigkeit ihrer Bemühungen und hat sie in sehr schöne Popsongs umgemünzt. Bringt auch niemanden weiter, klingt aber echt super." Wir hören rein in den Song "Sozialisiert in der BRD":



Weitere Artikel: Dass Musik durchaus etwas ändern kann, macht Karl Fluch im Standard anhand von Kendrick Lamar, der es als Afro-Amerikaner aus Compton und Sohn eines Drogendealers bis zum Pulitzerpreis geschafft hat. Für Fluch ist Rap ohnehin der letzte Überwinterungsort für Dichtung und Poesie. Auf sehr verschlungenen Pfaden erzählt Tex Rubinowitz im Standard die abwechslungsreiche Geschichte der finnischen Band The Agents, lange Zeit "sicher die wichtigste Band" des Landes, von der nun ein Album mit Archiv-Fundstücken erschienen ist, "deren Sensation außerhalb Finnlands nur schwer nachzuvollziehen ist." Jens Uthoff berichtet in der taz vom Berliner Festival "Find the File", bei dem Künstler und Theoretiker über Digitalisierung und Archivierung von Musik sprachen. Zum 125. Geburtstag der Münchner Philharmoniker hat Wolfgang Rihm dem Orchester mit "Transitus III" ein Geburtstagsstück komponiert, das am vergangenen Freitag unter Valery Gergievs Dirigat erstmals aufgeführt wurde. Es zeigt den Komponisten "ungebrochen in der Kraft einer enthemmten Momenthaftigkeit", freut sich Michael Stallknecht in der SZ.

Besprochen werden ein Konzert der Postpunk-Krautrock-Dance-Band Snapped Ankles (taz), Solanges neues Album "When I Get Home" (FAZ.net), das Comeback-Album der Specials (taz), ein Konzert des Münchner Kammerorchesters (SZ), ein Konzert der Dur-Dur Band (Tagesspiegel), Anderson .Paaks Berliner Konzert (Tagesspiegel, Berliner Zeitung), der Netflix-Film "Dirt" über die Hardrock-Band Mötley Crüe (Standard) und ein Auftritt von Herbert Grönemeyer (Standard).
Archiv: Musik