Efeu - Die Kulturrundschau

Folgsam in meditativer Sinnlosigkeit

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26.03.2019. Die Berliner Zeitung lernt von Siegfried Lichtenstaedter den Feind zu lesen. Golem beobachtet die Parzellierung des Streaming-Marktes durch Apple TV+. Die FAZ lernt von Marina Abramovic achtsames Hören und sieht in Wien Architekten malen und Maler Möbel bauen. Der Tagesspiegel misstraut der neuen Lust am Schönen in der Renaissance-Kunst. Der Guardian bewundert im Musée d'Orsay Benoists "Madeleine" und Manets "Laure". Die NZZ lernt im kurdischen Erbil, Kunst und Hoffung aus dem Nichts zu schöpfen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.03.2019 finden Sie hier

Literatur

Arno Widmann erinnert in der Berliner Zeitung an Siegfried Lichtenstaedter, dessen im Blick auf die Katastrophen des 20. Jahrhunderts nahezu prophetisch anmutende (und gerade von Götz Aly zusammengestellte und veröffentlichte) Texte "von einer manchmal den Atem raubenden Aktualität" sind: "Lichtenstaedter verstand es, den Feind zu lesen. Darum war ihm klar, dass die Vernichtung der Juden oder doch wenigstens der Versuch dazu, wenn nicht auf der Tagesordnung so im Wochenplan stand. Es gab zu viele, die sich sicher waren, dass ihrem eigenen Glück niemand als die 'Fremdstämmigen' im Wege standen."

Heute vor fünfzig Jahren starb der Schriftsteller B. Traven, der auf dem Sterbebett gestand, mit dem Schauspieler und Führungskader der Münchner Räterepublik Ret Marut identisch zu sein, was allerdings nur ein weiteres Pseudonym war: In der Berliner Zeitung erzählt Frank Nordhausen, wie die BBC 1977 aufdeckte, dass hinter Traven und Marut der Schlosser Otto Feige steckt. Im taz-Gespräch legt der Germanist Jan-Christoph Hauschild dar, dass er die für diese These letzten notwendigen Beweise zusammengetragen hat.

Weitere Artikel: Paul Wrusch berichtet in der taz von der Lit.Cologne. Der Verleger Klaus Humann, die Gymnasiallehrerin Stefanie Höfler und die Literaturwissenschaftlerin Caroline Roeder diskutieren in der Zeit über die Kriterien für gute Jugend- und Kinderbücher. Gerrit Bartels (Tagesspiegel) und Marie Schmidt (SZ) gratulieren dem Schriftsteller Patrick Süskind zum siebzigsten Geburtstag.

Besprochen werden Anke Stellings gerade mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichneter Roman "Schäfchen im Trockenen" (Tagesspiegel), Vladimir Sorokins "Manaraga" (NZZ), der von Dirk Sangmeister und Martin Mulsow herausgebrachte Band "Deutsche Pornographie in der Aufklärung" (NZZ), Ulrich Siegs Biografie von Elisabeth Förster-Nietzsche (Zeit), Regina Scheers "Gott wohnt im Wedding" (Berliner Zeitung), Gengoroh Tagames Manga "Der Mann meines Bruders" (Tagesspiegel) und Philippe Lançons "Der Fetzen" (FAZ).

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Film

Gestern präsentierte Apple seinen neuen Streamingdienst Apple TV+, in einigen Monaten wird Disney mit einem eigenen Angebot an den Markt gehen: Die Parzellierung des Streaming-Marktes schreitet voran, der Nutzertraum vom günstigen Zugriff auf ein umfassendes und tiefes Film- und Serienangebote rückt damit wohl zusehends in die Ferne, stattdessen wird das Internet zu dem, was PayTV und Kabelfernsehen mal gewesen sind. Entsprechend lautet Ingo Pakalskis Fazit seiner Marktanalyse für golem.de: "In einigen Jahren könnte es ganz normal sein, Kunde bei drei, vier oder mehr Streaming-Abodiensten zu sein. Vielleicht ist es dann auch üblich, das jeweils gewünschte Abo immer nur monatsweise zu buchen. Das könnte die Kosten drücken, ist aber auch eine Komforteinschränkung. Kunden könnten dann nicht mehr immer sofort das sehen, was sie wollen. Wer diese Möglichkeit haben möchte, wird entsprechend ein Vielfaches von dem bezahlen müssen, was heutzutage üblich ist."

Gar nicht gut zu sprechen ist Ambros Waibel in der taz auf Heinrich Breloers von Arte online gestellten Zweiteiler "Brecht", der ihm weder ästhetisch noch politisch behagt. NZZ-Kritikerin Daniele Muscionico lernt Brecht in diesem Film als "Menschenfresser" kennen. Besprochen werden David Schalkos Serienadaption "M - Eine Stadt sucht einen Mörder" (NZZ), der Bergsteiger-Film "Free Solo" (Presse) und David Lowerys "Ein Gauner und Gentleman" mit Robert Redford (Presse).
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Kunst

Giovanni Bellini: Madonna mit Kind. © Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie / Jörg P. Anders.

Rüdiger Schaper kann im Tagesspiegel gut verstehen, dass Renaissance-Kunst in Zeiten eines hochpolitisierten Theaters und einer eher journalistischen Kunst als reine Wohltat empfunden wird, etwa in der Berliner Ausstellung "Mantegna und Bellini". Er warnt jedoch vor Missverständnissen: "Es gibt wieder - wenn sie denn je abhandengekommen war - eine große Lust auf das Schöne, das in der zeitgenössisch-installativen Kunst kaum Platz hat. Die Renaissance feiert den Menschen als Individuum, zelebriert die Intimität der Körper, betont Intelligenz und Autonomie. Die Kirchenmotive wandern in die Mythologie. Und es zählt strahlend sichtbar der Einzelne, nicht der Schwarm. Nur: Wie oft haben diese Maler das Schreckliche dargestellt, die Vergewaltigung der Lukrezia zum Beispiel. An ihrer Geschichte, ihrem Selbstmord aus Scham und Schande ist nichts Schönes. Und wurde sie nicht auch deshalb so oft gemalt, weil Künstler wie Betrachter sich an ihrem Anblick erregen können? Oder Tizians Doge Francesco Venier: todkrank der alte Mann, im Hintergrund stehen venezianische Besitztümer in Flammen, es herrscht Krieg."

In der Ausstellung "Wien 1900" im Museum Leopold bekommt FAZ-Kritiker Stefan Trinks den Aufbruch der Wiener Moderne (Sigmund Freud, Adolf Loos, Arnold Schönberg) noch einmal in allen Facetten vor Augen geführt: "Der vielleicht wichtigste Erfolg dieses Rekonstruktionsversuchs einer Welt um 1900 durch den Kurator Hans-Peter Wipplinger ist die Aufhebung der artifiziellen Trennung zwischen angewandter Kunst und Kunstkunst. Ohnehin erscheint diese nirgends falscher als in Wien, wo Architekten malten, Maler Möbel bauten und Philosophen wie Wittgenstein, dessen Industriellen-Vater auch schon über die Hälfte des Wiener Sezessionsgebäudes finanziert hatte, Häuser bis zur letzten Türklinke entwarfen. So wird man in der Schau bereits von einem mit tiefrotem Stoff ausgekleideten 'Makart-Saal' empfangen, in dem die teils großformatigen Bilder bewusst tief hängen, um einen Alice-in-Wonderland-Effekt hervorzurufen."

Marie Guillemine BenoistPortrait de Madeleine© RMN-Grand Palais (Musée du Louvre) / Gérard Blot
Weiteres: Der Guardian meldet mit afp, dass das Musée d'Orsay für seine neue Schau die Bilder von Manet, Picasso und Cézanne umbenannt hat, und zwar nach den schwarzen Modellen, deren Namen sie recherchiert haben. Aus Marie-Guillemine Benoists "Portrait d'une Négresse" wurde das "Portrait de Madeleine" und Manets "Olympia" heißt jetzt "Laure". Besprochen werden die Schau "Teatro" des Wiener Konzeptkünstlers Peter Friedl in der Kunsthalle Wien (Standard), die Ausstellung "Natur als Kunst" über Landschaft im 19. Jahrhundert in Malerei und Fotografie im Lenbachhaus in München (SZ), die Michael-Jackson-Schau in der Bundeskunsthalle in Bonn (Standard) eine Schau des Video-Künstlers Cyprien Gaillard im Museum Tinguely in Basel (FAZ).
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Bühne

Die NZZ hat ihrer Kritikerin Daniele Muscionico eine Reise nach Erbil spendiert, in den kurdischen Teil des Irak, wo ein Internationales Theaterfestival mit Unterstützung des Theaters Konstanz und der Botschaft von Kuweit Hoffnung verbreiten soll. Unter skurrilen Sicherheitsbedingungen und against all odds, wie Muscinico lernt: "'Darf ich bitten?', sagt in seinem Büro der höchste Beamte für Kultur und Kunst, weist auf tiefe Fauteuils und überreicht dem Besucher eine CD. Sie ist fünf Jahre alt, traditionelle kurdische Musik, der Gastgeber spielt die erste Geige und die Oud. 'Kultur hat uns gerettet', sagt Minister Farhang Ghafur. Er ist Musiker, arbeitet seit sechs Jahren im Dienst der Autonomen Region und will den Austausch mit Europa pflegen und in seinem Land eine liberale Ordnung herstellen. Das internationale Theaterfestival, das sein Ministerium organisiert, ist Teil der Strategie. Es ist dem Politiker sehr wohl bewusst, dass er weder das Geld hat noch dass die Region die politische Stabilität besitzt, um als echter Partner für einen Kulturaustausch mit dem Westen zu taugen. Doch auf die Waage, mit der Kreativität gewogen und bewertet wird, legt er etwas anderes, unermesslich wertvolles: Es ist die Kunst der Schöpfung aus dem Nichts gegen jede Logik und Erfahrung."

Besprochen werden Alexi Kaye Campbells Familiendrama "Apologia" im English Theatre in Frankfurt (FR) und Petra Hulovás Stück "Eine kurze Geschichte der Bewegung" am Staatstheater Nürnberg (SZ).
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Musik

Die Feuilletons trauern um Scott Walker. Er "war der düsterste unter all den düsteren Traumprinzen des Sixties-Pop", schreibt Thomas Kramar in der Presse. Zudem war er "einer der Ersten, dem ein Wechsel vom ewigen Jugendzimmer des Pop ins Studierzimmer der Erwachsenen gelang, ohne alte Ideale zu verraten", schreibt Julian Weber in der taz über den einstigen Teenie-Star, der sich mit seinen ersten Soloalben vom Chartspop-Lieferanten zum ernstzunehmenden Künstler wandelte: Seine "Musik hatte orchestrale Schlagseite, verabschiedete sich vom Strophe-Refrain-Strophe-Schema hin zu delikaten Kunstliedern und elliptischen Songpoemen. Auf dem Cover in Schwarzweiß: der Künstler mit Sonnenbrille, in sich gekehrt, ein Zauderer, ein Zweifler. Je mehr er zauderte und zweifelte, desto mehr wurde er vergöttert." In einer epischen Würdigung für The Quietus argumentiert Ben Graham demgegenüber dafür, Walkers Schaffen als große Kontinuität statt eine Abfolge von Brüchen und Neuanfängen zu betrachten. Weitere Nachrufe in Welt und Tagesspiegel. Zu Walkers letzten großen Auftritten zählt diese Kollaboration mit den Experimental-Metal-Musikern Sunn o)):



Wellness, Achtsamkeit, Musik voll und ganz erleben, ohne die Ablenkungsangebote der digitalen Zeit: Das versprach in den letzten Tagen Marina Abramovics Musik- und Workshop-Programm "Anders Hören" in Frankfurt, bei dem die Erfahrung eines Konzerts durch lange meditative Vorab-Übungen vorbereitet werden sollte. Auch Sibylle Anderl hat dafür viel freie Zeit geopfert. So richtig überzeugt wirkt die FAZ-Kritikerin freilich nicht: "Man versucht sich folgsam in meditativer Sinnlosigkeit, wandert nach oben durch die Ränge, alles sehr langsam und bedächtig, lässt sich von fremden Blicken eine gefühlte Ewigkeit lang fesseln bis man Erschöpfung spürt und fast erleichtert ist, als der Partner sich schließlich wortlos bedankt und weiter zieht." Schlussendlich  stellt sich die Sache dann auch noch als wirkungslos heraus: "Zwischen Konzert und Workshops gibt es kaum sichtliche Bezüge. Die Besucher lärmen bis zum Konzertbeginn wie eh und je, bedächtige Schritte sind dem üblichen Gewusel gewichen, der große Saal ist wieder bestuhlt, nur Handys und Uhren bleiben draußen."

Besprochen werden die Autobiografie der Jazzsängerin Uschi Brüning (Zeit), Stella Donnellys Debütalbum "Beware of the Dogs" (SZ), neue Bigband-Veröffentlichungen (Zeit), neue Klassikveröffentlichungen, darunter eine Prokofjew-Aufnahme von Vadym Kholodenko (SZ) und Connie Constances Debütalbum "English Rose", mit dem sich die britische Musikerin "Sturm gegen die Verflachung" des Souls läuft (taz). Daraus ein aktuelles Video:


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