Efeu - Die Kulturrundschau

Ein tiefes Moll füllt die Räume

Die besten Kritiken vom Tage. Kommentierte Presseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.03.2019. Die geschäftliche Seite der klassischen Musik ist längst nicht so fein wie der Ruf des Genres, das bestätigen in der SZ der Geiger und Komponist Leonidas Kavakos und in der nmz die Bratischistin Tabea Zimmermann. Die Zeit bestaunt Anne Imhofs Performance "Sex". Im Interview mit Monopol beschreibt Imhof ihren Kampf mit der Luft. In der FAZ macht sich Durs Grünbein Sorgen um den Gesundheitszustand der deutschen Sprache.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.03.2019 finden Sie hier

Musik

Die gerade mal 17-jährige Billie Eilish ist mit über 15 Millionen Followern auf Instagram der passende Popstar zur Zeit. Juliane Liebert hat sich für die SZ mit ihr getroffen und staunt über das Debütalbum, das den Erwartungen nach den ersten Youtube-Stücken durchaus gerecht wird: "Ihre Stimme ist ein raues Hauchen. Es gibt auf dem Album keine Hymne, nicht den Versuch, den großen, strahlenden Popmoment zu erzwingen. Stattdessen zerlegt sie das, was man für Pop hält, zu einem liebenswerten Monster. Ist das Album ein Zeichen dafür, dass im Mainstream-Pop wieder mehr möglich wird? Dass er sich endlich nicht mehr um traditionelle Popsong-Dramaturgien und Gefühlseruptionen kümmern muss?" Hier das aktuelle Video:



Der Geiger und Komponist Leonidas Kavakos spricht in der SZ mit Ekaterina Kel über die Tücken einer Karriere im Klassikbetrieb: "Ich kann zumindest sagen, dass ich es geschafft habe, meine Seele zu beschützen und eine eiserne Wand um mich herum zu bauen. ...  Der Dirigent Dimitri Mitropoulos hat einmal zugespitzt formuliert: Musik verwandelt diejenigen, die sie hören, in Engel und die, die sie spielen, in Monster. Es gibt eine geschäftliche Seite des Systems, die nicht immer erfreulich ist."

Ähnliches sagt die Bratschistin Tabea Zimmermann im Interview mit der neuen musikzeitung: "Das Geschäft ist ein schmutziges geworden, ich sehe das bei einigen großen Festivals, wobei ich da jetzt keine Namen nennen will. Ich habe daraus die Konsequenz gezogen, dass ich immer ganz genau wissen will, warum ich einem Projekt zustimme. Ein Projekt kann vom Programm, dem Ort oder von den Mitspielern her interessant sein, ich wäge das jeweils sehr genau ab. Was ich beobachte: Man kann die Karriere ein Stück weit kaufen, die Auszeichnungen, Preise und sogar auch die Presse und Medien. Immer öfter wird die Klassik instrumentalisiert, um politisch etwas zu erreichen, zum Beispiel bei russischen Oligarchen. ... Wir Musiker müssen insgesamt politischer werden und können uns nicht nur in unserer Nische einrichten."

Weitere Artikel: Die Männer produzieren, die Frauen singen - von dieser Regel der Mann/Frau-Kollaboration ist auch das neue Album von Karen O und Danger Mouse keine Ausnahme, schreibt Karl Fluch im Standard. In der FAZ schreibt Jan Brachmann einen Nachruf auf den Komponisten Anatolijus Šenderovas. Besprochen werden das neue Lambchop-Album "This (Is What I Wanted to Tell You)" (Pitchfork), Mary Lattimores und Mac McCaughans Album "New Rain Duets" (Pitchfork), Sasami Ashworths Solodebüt (Jungle World), ein Tourfilm der Toten Hosen (Welt) und Christian Scott aTunde Adjuahs neues Album "Ancestral Recall" (Pitchfork). Wir hören rein:

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Literatur

Durs Grünbein meditiert in der FAZ über Geschichte, Heimatsehnsucht und Sprache der Deutschen und gelangt dabei zu dem Verdacht, "der den Gesundheitszustand dieser Muttersprache betrifft, ihre geistige Integrität nach den Katastrophen der Inhumanität und der mörderischen, selbstmörderischen Ideologien. Es geht um die Frage der Aushöhlung öffentlicher Sprache durch Diktatur und Propaganda, um die verlogene Sprache des Nationalsozialismus und ihr heimliches Fortwirken, Musterfall einer Vergiftung aller Rhetorik, um eine kollektive Sprachlosigkeit, das Verkümmern individueller Ausdrucksformen. Die Leerstelle hat seither die kalte Sprache der Macht besetzt, der bürokratischen Verwaltung jedes Einzellebens, der Jargon der Uneigentlichkeit."

Weitere Artikel: Die FR veröffentlicht Ina Hartwigs Laudatio auf Herta Müller anlässlich der Auszeichnung mit dem Eugen-Kogon-Preis. Peter von Becker empfiehlt im Tagesspiegel die Berliner Lyrikreihe Kookbooks. Im Logbuch Suhrkamp beobachtet Clemens J. Setz, wie sich eine KI einen Begriff von Katzen zu machen versucht. Online nachgereicht, stellt Florian Ilies in der Welt die Bücher vor, die ihn am meisten geprägt haben.

Besprochen werden Lothar Müllers Essay "Freuds Dinge" (Tagesspiegel), Regina Dieterles Fontane-Biografie (FR), Matthias Heines Buch "Verbrannte Wörter" (NZZ), Elisabeth R. Hagers "Fünf Tage im Mai" (Standard), eine Ausstellung im italienischen Recanati zu Ehren des Dichters Giacomo Leopardi (SZ) und Marko Diničs Debüt "Die guten Tage" (FAZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Film

Träumerisch hyperreal: Matthew McCounaughey als "Beach Bum"

Harmony Korines
Stoner-Komödie "Beach Bum", in dem Matthew McConaughey den langhaarigen Strandhippie Moondog spielt, dient Denis Vetter in der taz zum Anlass, die außergewöhnliche Karriere des Regisseurs nachzuerzählen. "Beach Bum" findet er dabei ebenso subversiv wie frühere Filme Korines: "Im Verlauf des Films entfaltet sich eine Haltung zu den Charakteren, die Korines Filme schon immer auszeichnet: Der Regisseur weigert sich, sie als Symbole oder Witzfiguren zu missbrauchen, sondern folgt ihnen bis hin zur letzten Konsequenz, bis zum Zusammenbruch der Unterhaltungswerte." Für Friederike Horstmann von SpiegelOnline sind die Unterhaltungswerte tatsächlich ein Stück zu weit zusammengebrochen:  In diesem Film "gibt es keine anarchische Komik, sie ist viel zu redundant, viel zu stilisiert und ordentlich gelenkt, um zu provozieren. Je länger wir mit Moondog und seiner abgehalfterten Slacker-Entourage abhängen, desto weniger interessant ist sie. Vielmehr schleppt sich der Plot in elliptischer Zähheit dahin und die Figurenentwicklung stagniert in hedonistischer Egal-Haltung. "

Weitere Artikel: Im SZ-Gespräch über sein (auf ZeitOnline und in der SZ besprochenes) "Dumbo"-Remake verkündet Tim Burton, lange Zeit Hollywoods düsterer Kino-Romantiker, künftig wahrscheinlich eher keine Kinderfilme mehr zu drehen. In der taz stellt Fabian Tietke Filme aus dem Programm des Arabischen Filmfestivals Berlin vor. In der NZZ gratuliert Raffaela Angstmann Terence Hill zum 80. Geburtstag, den der Schauspieler morgen feiert. Die Duisburger Filmwoche meldet, dass Gudrun Sommer und Christian Koch das Festival künftig leiten werden.

Besprochen werden Robert Redfords Abschiedsfilm "Ein Gauner und Gentleman" (taz, Tagesspiegel, Standard), Robert Zemeckis' "Willkommen in Marwen" (taz, Tagesspiegel, Presse) und der Netflix-Film "The Highwaymen" mit Kevin Costner und Woody Harrelson (NZZ, FAZ).
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Bühne

Komponist Manfred Trojahn freut sich im Interview mit dem Standard, dass seine 2011 uraufgeführte Oper "Orest" bereits fünf Mal nachgespielt wurde. Den antiken Stoff muss man verkraften, meint er: "Oper ist ein bürgerliches Genre. Ich glaube nicht, dass die Erneuerung der Oper durch eine zeitgenössische Personage herbeigeführt wird. Das mag im Musical funktionieren. Wir haben meiner Meinung nach einen Wandel im Bildungsbereich, und dadurch verlieren wir bestimmte Voraussetzungen, die zur Oper gehören. Natürlich muss man bei Orest die Mythen kennen, um die Geschichte zu verstehen. Wenn die nicht mehr zum Bildungskanon gehören, sind die Geschichten, die hier erzählt werden, nicht mehr so richtig durchsichtig. Aber da kann ich dann auch nicht helfen."

Besprochen werden Alexander von Zemlinskys "Zwerg" - mit Donald Runnicle am Pult - an der Deutschen Oper Berlin (FAZ) und Wolfram Lotz' Stück "In Ewigkeit Ameisen" am Wiener Akademietheater (SZ).
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Kunst

"Die Zeit der Beliebigkeit ist vorbei, endlich", seufzt Hanno Rauterberg in der Zeit nach der Londoner Performance von Anne Imhofs "Sex": "Der freie Wille ist schwerlich auszumachen, ein Gott aber auch nicht. Was da lenkt und leitet - eine mythische Kraft? Gar die Macht der Bilder und Klänge? -, bleibt unklar. Deutlich wird nur, dass in 'Sex' der private und der gesellschaftliche Körper neu verschmelzen. Was ein Freund ist, was ein Fremder, was intim, was öffentlich, lässt sich kaum mehr sagen. Es ist wie in den Weiten des Internets: Die Grenzen fallen. Imhof scheint das mit einiger Skepsis zu sehen, ein tiefes Moll füllt die Räume. Dennoch gibt es Momente, in denen die neue Unbestimmtheit der Digitalmoderne als Chance erscheint: um alte Rituale der Gemeinsamkeit zu reaktivieren und neue Formen des Gemeinsinns zu erproben." (Eine weitere Besprechung gabs in der FR)

Im Interview mit Monopol erdet Imhof ihre Arbeit: "'Sex' war irgendwie der einzige Titel, der auf 'Faust' folgen konnte. Begehren spielt eine Rolle, der Aspekt von Träumen oder von Ausblicken oder Veränderungen, und von Transparenz oder Fluidität. Aber auch Gewalt, und aus diesen Gegenpolen von Zartheit und Gewalt ist das Material entstanden." In jedem Fall, sagt sie, gehe es um Vergänglichkeit und ums Verschwinden: "Dieser Aspekt des Verschwindens steht in Verbindung mit meiner Beschäftigung mit der Tradition des Selbstporträts innerhalb der neuen Arbeit, es gibt ganz viele Elemente und Bilder in dem Stück in denen jemand gegen sich selber kämpft, sich zum Beispiel ins Gesicht schlägt. Die Bewegungen sind fast wie ein Kampf mit Luft. Damit haben wir viel gearbeitet."

Weitere Artikel: Im Tagesspiegel ist Birgit Rieger froh, dass die Kunstwelt immer öfter "belastete" Sponsoren abweist. Ingeborg Ruthe singt in der Berliner Zeitung ein kleines Loblied auf Thomas Köhler, den Direktor der Berlinischen Galerie, dessen Vertrag um fünf Jahre verlängert wurde.

Besprochen werden die Ausstellung "Talking Heads. Zeitgenössische Dialoge mit F.X. Messerschmidt" im Wiener Belvedere (Standard), Marina Abramovićs Performance "Anders hören" in der Alten Oper Frankfurt (Zeit, ), eine Ausstellung des ghanaischen Künstlers El Anatsui im Münchner Haus der Kunst (FAZ) und die Ausstellung der türkischen Künstlerin Nil Yalter "Exile is a Hard Job" im Kölner Museum Ludwig (FAZ).
Archiv: Kunst