Efeu - Die Kulturrundschau

Die Pop-Art des mittleren Streckenabschnitts

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30.03.2019. Die Feuilletons trauern um die unbekümmert wagemutige und überhaupt nicht cinephile Filmemacherin Agnès Varda, die mit neunzig Jahren viel zu früh gestorben ist. In der Berliner Zeitung erinnert Shermin Langhoff, dass seit Helene Weigel und Ruth Berghaus keine Frau mehr Intendantin eines großen Hauses in Berlin war. Der Freitag fährt mit der U7 durch die Architekturgeschichte der Nachkriegsmoderne. Im Streit um das neue Video Rammstein erkennt ZeitOnline auf große Kunst.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.03.2019 finden Sie hier

Film

Unbekümmerter Wagemut: Agnès Varda.


Agnès Varda, die Pionierin der Nouvelle Vague, ist tot. Ein großer Verlust für das Kino, zumal Varda bis zuletzt tätig war: Gerade erst hatte sie auf der Berlinale ihren letzten Film und somit ihr Vermächtnis präsentiert: "Varda par Agnès" (hier unsere Kritik). FAZ-Kritikerin Verena Lueken trifft die Nachricht wie ein Schlag: "Sie hätte nicht sterben dürfen, noch nicht. Nicht schon mit neunzig Jahren, von denen sie vierundsechzig damit verbrachte, in Bildern und Tönen und Bewegung Geschichten zu erzählen, die so eigenartig, so irrsinnig, persönlich und poetisch waren, dass ein Leben ohne sie und weitere ihrer Kunstwerke, die noch hätten folgen müssen, leer erscheint."

Unbekümmerter Wagemut und spielerische Aneignung des Vorgefundenen, so lässt sich ihr Leben und Schaffen vielleicht ganz gut zusammenfassen: "Als junge Frau, die vom Kino keinen Schimmer hatte, legte Varda 1955 ein Debüt hin, das die Filmwelt staunen ließ", schreibt Cosima Lutz in der Welt. "Wobei das Verblüffendste an 'La Pointe Courte' die Nonchalance war, mit der sie sich dieses tolle neue Spielzeug Film gegriffen, und die Experimentierfreude, mit der sie seine Möglichkeiten erweitert hatte."

Varda und die Nouvelle Vague, das war eher ein zwischen Nähe und Distanz changierendes Verhältnis. Sie "setzte den Ikonen der Nouvelle Vague welthaltige Rätselfrauen entgegen", schreibt Claudia Lenssen auf ZeitOnline. Und anders als "Godard, Truffaut und Rivette ist Varda nicht cinephil, sie geht kaum ins Kino", erfahren wir von Andreas Busche und Gregor Dotzauer im Tagesspiegel. "Lieber schöpft sie aus dem Leben." Im Dlf Kultur erinnert sich Christoph Terhechte, der ehemalige Leiter des Berlinale-Forums, an Varda. Weitere Nachrufe in Standard, Presse, NZZ und Berliner Zeitung und taz. Auf Arte steht ihr Film "Cleo" online, wie auch weitere Interviews, Porträts und Filme.

Weitere Artikel: Der Einfluss des deutschen Kinos auf die Berlinale schwindet, fürchtet Hanns-Georg Rodek in der Welt mit Blick auf das neue Auswahlkomitee, das die neuen Berlinale-Leiter Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek vor kurzem vorgestellt haben: Nur noch zwei Mitglieder daraus kämen noch aus Deutschland, schreibt Rodek (Barbara Wurm, die Rodek Deutschland zurechnet, kommt allerdings aus Österreich). Im Tagesspiegel gratuliert Thomas Groh Terence Hill zum Achtzigsten, den der Schauspieler gestern gefeiert hat. Andreas Platthaus gratuliert in der FAZ Volker Schlöndorff zum 80. Geburtstag, den dieser morgen feiert.

Besprochen werden Talal Derkis "Of Fathers and Sons" (Freitag), Fernando Méndez' auf BluRay veröffentlichter Mex-Western "Das Geheimnis der 14 Geisterreiter" aus dem Jahr 1959 (critic.de), Robert Zemeckis' "Willkommen in Marwen" (Standard), Robert Redfords Abschiedsfilm "Ein Gauner und Gentleman" (Freitag) und der Netflix-Film "The Highwaymen" mit Kevin Costner und Woody Harrelson (NZZ)


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Architektur

Richard-Wagner-Platz 2016. Foto: Chris M. Forsyth / Berlinische Galerie

Der Initiative Kerberos ist es zu verdanken, dasss zumindest einige der nachkriegsmodernen Berliner U-Bahnhöfe unter Denkmalschutz gestellt wurden, betont Ludger Blanke im Freitag, denn die BVG war schon dabei, die wunderschönen farbigen Kacheln abzuschlagen. Blanke empfiehlt wärmsten die Ausstellung "Underground Architecture" in der Berlinischen Galerie und dann gleich eine Fahrt mit der U7 von Rudow nach Spandau: "Mit Rainer G. Rümmler entstand die U 7, mit ihrer Länge von 30 Kilometern und den 40 Bahnhöfen war sie eine Zeit lang der längste Tunnelbau der Welt. Sie funktioniert, wenn man sie vom Südosten der Stadt bis nach Norden abfährt, wie eine kohärente Erzählung, wie eine Reise durch die Kunst- und Architekturgeschichte der Nachkriegsmoderne. Es geht los mit den reduzierten, mit Ziegeln und Kacheln gestalteten Farbflächen der frühen 1960er, weiter zur Pop-Art des mittleren Streckenabschnitts bis hin zum überbordenden Eklektizismus der Postmoderne in den zuletzt fertiggestellten Bahnhöfen kurz vor Spandau."

Weiteres: Für die SZ trifft sich Christian Zaschle mit Alex Poots, dem Leiter des kurz vor seiner Eröffnung stehenden New Yorker Kulturzentrums The Shed.
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Kunst

Auf Hyperallergic berichtet Zachary Small von einem mitreißenden Protest-Happening im New Yorker Whitney-Museum, bei dem die Bewegung "Decolonize this Place" den Rücktritt von Vorstand Warren Kanders forderten. Kanders verdient sein Geld mit der Waffenfabrik Safariland, die unter anderem Tränengas und Rauchgranaten für Sicherheitskräfte liefert, "von Standing Rock bis Baltimore, Ferguson und Gaza".

Weiteres: In der NZZ feiert Philipp Meier Hongkong als Asiens Kunst-Hub Nummer eins, geht allerdings einer Antwort auf die selbst gestellte Frage, ob hier nur dem Kunstkommerz gefrönt werde, aus dem Weg. In der FAZ bemerkte Georg Imdahl dagegen auf der Art Basel Hongkong jede Menge Leerlauf.

Besprochen werden Ausstellungen der Künstlerin Hito Steyerl in der Serpentine Gallery in London und in der Akademie der Künste in Berlin (SZ) soeiw eine Schau des spanischen Salonmalers Joaquín Sorolla in der National Gallery in London (Tsp).

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Bühne

"Ich wurde Intendantin, weil ich billig war." Gorki-Chefin Shermin Langhoff zeigt sich im Interview mit Arno Widmann in der Berliner Zeitung recht illusionslos und lässt sich von ihm auch nicht dazu verleiten, direkten Anspruch auf den vakanten Posten an der Volksbühne zu erheben: "Vergessen Sie nicht, ich bin nicht nur Migrantin und Arbeiterkind, sondern auch eine Frau! Die Wahrscheinlichkeit, dass ich trotz großem Erfolg beim Publikum nicht die Karriere eines Herrn Wilms vom Gorki ins Deutsche Theater oder ein anderes großes Haus werde machen können, liegt bei fast 100 Prozent. Helene Weigel und ihre Nachfolgerin Ruth Berghaus waren hier in Berlin die letzten Intendantinnen eines großen Hauses. Das war das Berliner Ensemble, das war die DDR, und es ist bald ein halbes Jahrhundert her."

In Italien ist die Oper eine zutiefst traditionelle Gattung, erzählt Regisseur Damiano Michieletto im FR-Interview mit Judtih von Sternburg. Er selbst hatte 1998 im französischen Aix-en-Provence sein Erweckungserlebnis, mit "Don Giovanni", inszeniert von Peter Brook und dirigiert von Claudio Abbado: "Meine Vorurteile gegen die Oper, die ich für eine langweilige Reiche-Leute-Unterhaltung gehalten hatte, lösten sich komplett auf. Ich stellte fest, dass es dieses ganze 'Das muss so sein und dies muss so sein' gar nicht gab. Ich spürte die starke, emotionale Sprache, die hier zur Verfügung stand und mit der man nur richtig umgehen musste."

Besprochen werden Anne Lenks "Moliere"-Inszenierung am Deutschen Theater in Berlin (wo Ulrich Matthes zum Trotz Franziska Machens als Célimène "wie eine schwarze Sonne" die Szene beherrschte, wie Christian Rakow in der Nachtkritik bemerkt), Stefan Puchers Inszenierung von Virginie Despentes' Paris-Roman "Vernon Subutex" an den Münchner Kammerspielen (SZ, Nachtkritik), Andrea Breths fulminante Abschiedsinszenierung von Gerhart Hauptmanns "Die Ratten" am Wiener Burgtheater (taz), Georg Friedrich Haas' Oper "Koma" in einer definitiven Fassung in Klagenfurt (Standard) und Arthur Millers "Hexenjagd" am Théâtre de la Ville in Paris (FAZ).
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Literatur

Im Freitag spricht der Biologe und Literaturwissenschaftler Ludwig Fischer über den Umstand, dass die in Deutschland populärsten Ausformungen von Nature Writing sich doch wieder nur darauf beschränken, die Natur zu vermenschlichen, statt von der grundlegenderen menschlichen Erfahrung eines Gegenübergestellten zu schreiben. Als ein gelungenes Beispiel lässt er immerhin Esther Kinsky gelten: Deren Roman "'Am Fluss' besteht aus einzelnen Erkundungsgängen in die Außenbezirke von London. Das ist für mich sehr genuines Nature Writing. Wenn man das vergleicht mit zeitgenössischen britischen Autoren, etwa Roger Deakin oder Robert Macfarlane, dann ist das ganz dicht dran. So berichtet Deakins Buch 'Logbuch eines Schwimmers' fast ausschließlich von seinem 'Wilden Schwimmen' in den Grenzzonen von Zivilisation und Naturlandschaft."

Weitere Artikel: In der Welt plaudert Mara Delius mit Durs Grünbein über dessen neues Buch "Aus der Traum", Heiner Müller und die Freiheitsmüdigkeit im Osten. In der NZZ spricht Claudia Mäder mit Sheila Heti über deren Buch "Mutterschaft". Die Literarische Welt bringt einen Auszug aus Johann Karl Wezels satirischem Roman "Hermann und Ulrike" aus dem Jahr 1780. Außerdem bringt die FAZ Christian Metz' Laudatio auf die Lyrikerin Monika Rinck, die er anlässlich ihrer Poetikvorlesung in Göttingen hielt. im Dlf Kultur spricht Jörg Plath mit der Übersetzerin Eva Ruth Wemme über deren Übersetzung von Gabriela Adamesteanus "Verlorener Morgen", für die sie in Leipzig als beste Übersetzerin ausgezeichnet wurde.

Besprochen werden unter anderem Gabriele Tergits wiederveröffentlichter Familienroman "Effingers" aus dem Jahr 1951 (SZ) Johan Harstads "Max, Mischa und die Tet-Offensive" (taz), Liviu Rebreanus "Der Wald der Gehenkten" (taz), Jeffrey Eugenides' Erzählband "Das große Experiment" (Freitag), die Ausstellung "fontane.200" in Neuruppin (Tagesspiegel, Berliner Zeitung, FAZ) und Herbert Kapfers Montage "1919" (FAZ).
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Musik

Germania und die Erotik: Szene aus Rammsteins "Deutschland"

Die Band Rammstein hält mit ihrem von der Ästhetik der US-Serie "American Gods" maßgeblich beeinflussten Video "Deutschland" das Feuilleton in Atem (erste Wallungen bereits im gestrigen Efeu). Reagierten weite Teile der Öffentlichkeit nach der ersten Videoankündigung (die Band als KZ-Häftlinge auf einem Schafott) noch mit Abscheu, nimmt die Detail-Exegese des Neun-Minuten-Musikclip-Blockbusters jetzt ihren Lauf. Auf ZeitOnline hält Jens Balzer die zentrale Beobachtung fest, dass Deutschland in diesem Video eine Frau ist, dargestellt von der schwarzen Schauspielerin Ruby Commey, die über Jahrhunderte weg "Männer in den Zustand einer unauflösbaren erotischen Spannung versetzt", die sich letzten Endes in eine Geschichte machistischer Gewalt entlädt. Bemerkenswert findet es Balzer, dass die Band mit diesem Video "den Kern ihrer Kunst und ihrer politischen und sexuellen Ästhetik freilegt. Diese sonderbare Mischung aus erotischer Aggressivität und Verklemmtheit, aus männlicher Tatkraft und masochistischer Opferpose, aus Brutalität und Weinerlichkeit, die das Schaffen der Band seit jeher prägte, wurde wohl noch nie so konzise formuliert wie in diesem Film. Es handelt sich mithin um große Kunst."

Faszinierend findet es Judith Basad in der NZZ, wie die Band "mit ihrer Musik und durch das Kokettieren mit faschistischer Ästhetik zwar das Stereotyp des brutalen Deutschen bemüht, es gleichzeitig aber durch übertriebenes Pathos und Gewaltdarstellungen ins Lächerliche zieht." Für Welt-Autor Henyrik M. Broder schließlich könnte dieses Video gar "der 'missing link' sein zwischen 'Mein Kampf' und der 'Unfähigkeit zu trauern' sein. Der Größenwahn auf der einen und die ewige Unschuld auf der anderen Seite sind nahe Verwandte" - und was den Vorwurf der Geschmacklosigkeit betrifft: "'Geschmacklos' kann auch etwas Positives sein, wenn das Essen aus einer Küche kommt, in der es nach Tod und Verwesung riecht."

Themenwechsel: Das neue Matmos-Album "Plastic Anniversary" lässt einen munter über die Queerness von Plastik philosophieren, stellt Daniel Gerhardt im Freitag fest. Das Album stellt eine "eine Art polymere Beschäftigungsmaßnahme" dar, "ein Gemeinschaftsprojekt zwischen Mensch und Plastik, in dem das Material ebenso wichtig ist wie die Musiker, die es mit Hand, Mund, Fuß und anderen Körperteilen bearbeitet haben. Das Album ist zweifelsohne queer im herkömmlichen Sinne des Wortes, also seltsam oder wunderlich, und zugleich Fortschreibung einer queeren Popmusikgeschichte, in der Plastik seit den späten 70ern eine prägende Rolle spielt." In diesem Video zeigem die beiden Matmos-Musiker, wie sie sich Plastik als Soundmaterial angeeignet haben:



Weitere Artikel:In der NZZ sieht Ueli Bernays mit Blick auf Spotify-Playlists und -Algorithmen ein dunkles Zeitalter der Popmusik heraufdämmern: Dem Hörer werde Musik algorithmisch kuratiert vorgesetzt, die Popstars würden anonymisiert (wir erinnern uns freilich an die goldenen Zeiten, als Musik ihren Weg lediglich durch die Nadelöhr-Ketten von Labelentscheidungen, Vertrieb, Promotion, Berichterstattung und Plattenladenauslage finden musste, damit die Hörer sich in völliger Souveränität der eigenen Geschmacksbildung hingeben konnten). Für die Jungle World porträtiert Kristof Schreuf Tilman Rossmy, den Sänger von Die Regierung. Udo Badelt berichtet im Tagesspiegel von der Berliner Maerzmusik. Besprochen wird Jadya Gs Debütalbum "Significant Changes" (taz). Daraus ein Video:

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