Efeu - Die Kulturrundschau

Gigantische Halluzination des Kinos

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18.04.2019. Die NZZ versinkt mit Julian Schnabels van-Gogh-Film in einer berauschenden Farbenorgie. Die SZ lässt sich von den Farben der Bundesgartenschau in Heilbronn nicht beeindrucken und fragt streng: Was ist mit dem Klimawandel? Die Zeit feiert den Schauspieler Rainer Bock, dessen blasse Kasernenhaut es ihr angetan hat. Kann man Künstler vom Werk trennen? Nicht im Pop, meint die Jungle World mit Blick auf Michael Jackson, wo der Künstler das Kunstwerk ist. In der Kunst schon eher, denkt sich die FR mit Blick auf eine Ausstellung über Brücke-Maler in der NS-Zeit.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.04.2019 finden Sie hier

Film

Kino als Droge: Julian Schnabels "Van Gogh"

An Van-Gogh-Filmen herrscht in der Filmgeschichte nun wahrlich kein Mangel. Was hebt nun Julian Schnabels mit Willem Dafoe besetzten Film "Van Gogh - An der Schwelle zur Ewigkeit" aus der Masse heraus? NZZ-Kritiker Björn Hayer weiß die Antwort: "Seine durch und durch experimentelle Ästhetik. Wir erleben ein Überschäumen der Bilder, eine Orgie der Farben, eine gigantische Halluzination des Kinos, die auf den Zuschauer wie eine einzige Droge wirkt." Dieses ästhetische Sensorium kommt nicht von ungefähr, erklärt Anke Sterneborg auf ZeitOnline: Es "hat in erster Linie damit zu tun, dass zum ersten Mal ein Maler über einen Maler erzählt. Denn Julian Schnabel war schon viele Jahre lang ein äußerst erfolgreicher bildender Künstler, bevor er vor gut 20 Jahren zum ersten Mal als Regisseur die Lebensgeschichte eines Malerkollegen erzählte, die des Künstlers Jean-Michel Basquiat." Weitere Kritiken in Welt und Tagesspiegel. Außerdem hat der Tagesspiegel dem Regisseur und der Drehbuchautorin Louise Kugelberg gesprochen.

Rüdiger Suchsland berichtet auf Artechock vom Filmfestival in Istanbul, das Erdogan trotz einschneidender Mittelkürzungen wacker trotzt: "Das Festival ist dem Westen zugewandt, offen und liberal und insofern Teil der kulturellen Opposition. ... Eine Reihe mit queerem, also schwul-lesbichem Kino, das ist in diesem Land nach wie vor etwas Besonderes. Und wenn ein Film politisch ist, womöglich zum Widerstand gegen autoritäre Verhältnisse aufruft, dann steht er im Lande Erdogans fast schon am Rand des Terrorverdachts." Und: "Viele türkische Filme loten ein anderes Leben und andere Möglichkeiten aus. Noch existieren diese Möglichkeiten nur in der Fantasie."

Gehen Sie ins Kino und bewundern Sie die Hauptfigur, einen alten Möbelpacker, in David Nawraths Film "Atlas"! Das ist Rainer Bock. Peter Kümmel feiert den Schauspieler in der Zeit: "Bocks Figuren sind, unter ihrer blassen, von Vitamin-D-Mangel gezeichneten Büro- oder Kasernenhaut, immer wachsam, ja schlaflos. Sie sind weder extramutig noch abgrundböse: Der Umstand, dass wir alle die Nachfahren der Opportunisten, der Schlauen und der Mitgelaufenen sind, ist ihnen anzusehen. Was man auf ihren Gesichtern vor allem anderen erkennt, ist Argwohn."

Weitere Artikel: Carolin Weidner empfiehlt in der taz die Retrospektive Bo Widerberg im Berliner Kino Arsenal (mehr dazu bereits hier). Auf Artechock schreibt Dunja Bialas einen Nachruf auf die Münchner Kinobetreiberin Elisabeth Kuonen-Reich.

Besprochen werden Paul Schraders "First Reformed" (Tagesspiegel, mehr dazu hier), Marco Kreuzpaintners gleichnamige Adaption von Ferndinand von Schirachs Roman "Der Fall Collini" (SZ), Andreas Goldsteins Porträtfilm "Der Funktionär" über seinen Vater Klaus Gysi (Perlentaucher), John Lee Hancocks Netflix-Film "The Highwaymen" (Perlentaucher), Jonah Hills "Mid90s" (NZZ), Tim van Dammens Doppelgängerkomödie "Mega Time Squad" (SZ) und Donald Glovers Kurzfilm "Guava Island" (Zeit).
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Design

Osterglocken im Schlossgarten. Foto © BUGA Heilbronn 2019 GmbH


Blüten, Blüten, Blüten so weit das Auge reicht: Mit reichlich Blumenkoller kommt SZ-Kritikerin Laura Weißmüller von der Bundesgartenschau in Heilbronn zurück, wo bis auf wenige Ausnahmen vor allem, eben, Blumen und Blüten zu sehen sind. Aber: "Wirklich spektakulär im Sinne von visionär ist das nicht. So schön die Blütenpracht auch sein mag (...), so wenig hilft sie uns bei der drängenden Frage, wie es denn bitte weitergehen kann mit dieser Welt" im Zeichen des Artenschwunds und Klimawandels. Umso beeindruckender findet sie die Kieselflächen des Landschaftsarchitekten A.W. Faust, der "mit seinem Berliner Büro SINAI das Grünkonzept der Bundesgartenschau aufgrund eines städtebaulichen Masterplans entwickelt hat. Er trennt klar zwischen dem, was in den nächsten sechs Monaten eher einem floralen Budenzauber gleichkommt, und dem, was bleibt: ein neues Stadtquartier, der Neckarbogen, über das noch zu sprechen sein wird, und der Versuch zu zeigen, welche Rolle die Landschaft für die Zukunft der Städte spielen kann. 'Wir müssen mehr Natur in die Städte bringen', sagt Faust. Und mit Natur meint er die echte. Ohne Blumenzwiebel und Gartenschere, dafür mit der Möglichkeit, sich frei zu entwickeln."
Archiv: Design

Bühne

Interim-Volksbühnen-Intendant Klaus Dörr möchte im Interview mit der Berliner Zeitung nicht sagen, ob er gern weitermachen würde. Im Tagesspiegel berichtet Ulrich Amling von den Osterfestspielen Baden-Baden, in der NZZ berichtet Christian Wildhagen von den Festspielen in Salzburg, wo Philipp Maintz' Oper "Thérèse" uraufgeführt wurde. In der nachtkritik fordert der Dramaturg Christian Tschirner eine radikale "solidarische Verteilungs-, Klima- und Ressourcengerechtigkeit", sonst gewinnen die Rechten, glaubt er. Wiebke Hüster besuchte für die FAZ einen Merce-Cunningham-Abend im Londoner Barbican Centre und macht sich Gedanken um dessen choreografisches Erbe.

Besprochen werden eine Aufführung von She She Pops Bühnenstück "Pozesijos obsesija"  in Litauen (taz) und die Performance "speculative bitches" der feministischen Künstlerin Nuray Demir im Berliner Hau (taz).
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Literatur

In der NZZ bedankt sich Paul Jandl für die Erfindung des Konjunktivs, der uns Hoffnung in die Herzen trägt: "Der Konjunktiv treibt uns in Lottoannahmestellen und zu Partnerbörsen. Er sagt uns: Da könnte was gehen! Die philosophisch Missmutigen allerdings finden den Konjunktiv dann wieder gar nicht so toll. Der Schriftsteller Arno Schmidt hält den Konjunktiv sogar für 'ein linguistisches Misstrauensvotum gegen Gott'. Spitzfindige Begründung: 'Wenn alles unverbesserlich gut wäre, bedürfte es gar keines Konjunktivs.' Nicht einmal in diesem Satz kann Arno Schmidt also auf den Konjunktiv verzichten."

In der heute von unter 24-Jährigen konzipierten und bestückten taz spricht Theresa Bolte mit der Jugendbuchautorin Moira Frank über die Darstellung von LGBT-Menschen in Jugendbüchern. Sehr dankbar nimmt sie zur Kenntnis, dass hier allmählich eine Öffnung stattfindet: "Es gab schon immer LGBT-Jugendliche. Die saßen früher noch tiefer im Schrank und waren allen noch ein bisschen egaler als heute. ... Ein unbeschwerter Sommer, verliebt in ein anderes Mädchen sein? Für mich undenkbar. In Aufklärungsbüchern wurden lesbische Gefühle als 'Phase' beiseitegeschoben, in Romanen gab es keine Lesben weit und breit außer Wilma in den 'Wilden Hühnern'. LGBT-Figuren hätten mich nicht vor allen negativen Erfahrungen gerettet, aber sie hätten mir geholfen, mich als normal, gesund und zu Glück, Liebe und Stabilität fähig zu sehen."

Weitere Artikel: Jan-Heiner Türck befasst sich in der NZZ mit christlichen Deutungen des Odysseus-Mythos. Katrin Hillgruber berichtet im Tagesspiegel vom Literaturfestival in Ascona.

Besprochen werden Bret Easton Ellis' Autobiografie "Weiß" (Zeit), Dagmar Herzogs Essayband "Lust und Verwundbarkeit" (NZZ) und Gary Shteyngarts "Willkommen in Lake Success" (FAZ). Außerdem liegt der SZ heute ihre Krimibeilage "Schwarze Serie" bei, die wir in den kommenden Tagen auswerten werden.
Archiv: Literatur

Musik

In einem epischen, sehr abwägenden, vor allem aber angenehm pathosfreien Essay nimmt Klaus Walter für die Jungle World Michael Jackson nach der "Leaving Neverland"-Doku in den Blick. "Diese bahnbrechende Popkarriere und die emanzipatorischen Impulse, die von ihr ausgingen, stehen jetzt zur Disposition. ... Kann man Werk und Autor voneinander trennen? Wagner hören, Céline lesen, obwohl sie Antisemiten waren? Was ist mit den Filmen von Roman Polanski und Woody Allen? Im Pop gibt es keine Trennung von Werk und Autor. Der Popstar ist das Kunstwerk. Das Gesamtkunstwerk Michael Jackson besteht aus Musik, Bildern, Filmen. Es gibt keine Videoclips von 'Tristan und Isolde' mit einem tanzenden Richard Wagner."

Jörg Demus war "ein Künstler im umfassendsten Sinn", würdigt Wilhelm Sinkowicz den gestorbenen österreichischen Pianisten in der Presse: "Bach spielte er mit Hingabe für die akribische Freilegung der kontrapunktischen Strukturen, aber immer bedacht auf die oft vielfältig ineinander verknüpften melodischen Entwicklungen; Schumann liebte er besonders - und deckte in dessen Musik nebst allem romantischem Überschwang auch die spielerische Leichtigkeit auf, die zwischen den Zeilen schlummert und von den wenigsten Kollegen geweckt wird."

Weiteres: Im Tagesspiegel schreibt Nadine Lange über Madonnas neue, gemeinsam mit Maluma veröffentlichte Single "Medellín".



Besprochen werden ein Abend mit Grigory Solokov (NZZ), Bob Dylans Auftritt in Wien, das vom Meister wegen fotografierender Fans beinahe abgebrochen wurde (Standard, Presse), Lizzos Album "Cuz I Love You" (Tagesspiegel) und Edwyn Collins' neues Album (Standard).
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Kunst

Ernst-Ludwig Kirchner: Schafherde, 1938. Brücke-Museum / Wikipedia


In der Kunst fällt die Trennung von Künstler und Werk leichter. Mit seiner neuen Ausstellung setzt sich das Brücke Museum in Berlin erstmals mit der Haltung der Brücke-Maler während der NS-Zeit auseinander. Spektakuläres gibt es nicht zu verzeichnen, meint Ingeborg Ruthe in der FR: "Aber es stimmt freilich, dass Karl Schmidt-Rottluff als junger Offizier im Ersten Weltkrieg unverzeihlich Dummes über die 'jüdische Weltverschwörung' gesagt hat. ... Es ist auch eine peinliche Tatsache, dass Ernst-Ludwig Kirchner sich empört gegen den Anwurf wehrte, es gäbe einen 'jüdischen Einfluss' auf seine Arbeit, und er habe doch für eine 'echte deutsche Kunst gekämpft ...'. Kirchner, der zu Kriegsende 1918 in die Schweiz gezogen war, nur von fern erlebte, was in Deutschland politisch passierte, nahm sich 1938 resigniert über die Feme und seinen fatalen Irrtum das Leben. Eines seiner letzten Motive in der Ausstellung ist das einer blökenden, offenbar heillos chaotischen Schafherde vor steilen Berggipfeln."

Besprochen wird außerdem eine Polke-Richter-Kiefer-Baselitz-Ausstellung in der Staatsgalerie Stuttgart (Zeit).
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