Efeu - Die Kulturrundschau

Demoliert die Hack- und Rangordnung

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20.04.2019. Die NZZ wird in der Genter Aufführung von Milo Raus "Orest in Mosul" Zeugin einer Unmöglichkeit. Diors Maria Grazia Chiuri erklärt in der Weltkunst ihren Standpunkt zwischen Dior, Galliano und Slimane. Die taz bewundert Sergey Dvortsevoys Kino-Sensualismus. Im Tagesspiegel sucht die ehemalige Charlie-Hebdo-Mitarbeiterin Catherine Meurisse Blattgrün und Sanftheit. Friedhelm Greis sammelt in seinem Sudelblog Texte der Weltbühne zum Bauhaus. Die Jungle World hört 31 Vibratoren der Tödlichen Doris.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.04.2019 finden Sie hier

Bühne

Szene aus Milo Raus "Orest in Mosul" in Gent. Foto: Fred Debrock


Hier kann die Kunst nur scheitern, erkennt Daniele Muscionico (NZZ) bei der Aufführung von Milo Raus "Orest in Mosul"am Niederländischen Theater in Gent, das er ursprünglich im Irak mit seinem Ensemble, Exilirakern und Überlebenden des IS-Terrors einstudiert hatte: "Jede Probe wird mit der Kamera dokumentiert, und die Videobilder werden in Gent die Zeugen einer Unmöglichkeit. Denn nach Ende der Proben werden die irakischen Beteiligten zum einen kein Einreise-Visum nach Europa erhalten. Die Aufführung kann in einem kleinen Mosuler Kulturcafé stattfinden, doch die Ensemblemitglieder werden außerhalb des Iraks nicht mehr zusammen auftreten können. Zum anderen lässt sich der Ausgang der Tragödie 5000 Jahre später unter dem Eindruck der Terrormiliz nicht mehr - wie von Aischylos vorgesehen - versöhnlich denken." (Daneben gibt es ein Interview mit dem Regisseur über die Zukunft des Stadttheaters.)

Szene aus "Coriolan". Foto: Sandra Then


Auch Tilmann Köhler hat den Clown entdeckt - für seine Inszenierung von Shakespeares "Coriolan" am Schauspielhaus Düsseldorf. Das passt ausgezeichnet zum dem Römerdrama, findet Nachtkritiker Andreas Wilink: "Der Clown repräsentiert die Gegenwelt zu Norm und Gesetz. Er steht außerhalb und allein. Ein verlorener Junge - wie Martius Coriolanus, Patrizier, Feldherr, Triumphator, Rebell gegen seine Heimat Rom. ...  Tilmann Köhler und sein reines Männerensemble trumpfen mit Shakespeares 'Coriolan'-Drama in Düsseldorf auf - und machen das Spiel. Fabulös finster. Ihre Manege im Düsseldorfer Schauspiel-Central ist eine im quadratischen Muster gekästelte Holzschachtel mit kreisrundem Loch. Acht agile Anarchisten des Gelächters treiben es darin radikal bunt: mit roten Nasen auf weißer Haut, mit dunkel geränderten Augen unter neongrellen Perücken und Glatzen, in karierten oder gestreiften Kleidern und Röcken. Ihr grinsender Narren-Look demoliert die Hack- und Rangordnung.

Weiteres: In der FAZ schreibt Botho Strauß über die großen Liebesszenen des Theaters. Besprochen werden außerdem Franz von Strolchens Gangsterperformance "Die Unscheinbaren" mit Texten von Christian Winkler am Luzerner Theater (nachtkritik), ein "Parsival" an der Wiener Staatsoper (Standard) und Anna Berndts Inszenierung von George Brants Drama "Am Boden" Deutschen Theater (taz).
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Design


Zwei Kleider aus der Haute-Couture-Kollektion Sommer 2019 von Dior (alle Bilder hier)

Maria Grazia Chiuri, die Chefdesignerin von Dior, spricht im Interview mit Margit J. Mayer (Weltkunst) über ihre neue Couture-Kollektion, die stark von Picassos Bühnenprospect für das Ballett "Parade" inspiriert ist und ihren Kindheitserinnerungen an den Zirkus. Außerdem geht's um die neuen Handtaschen, 4.000 bis 16.000 teure Editionen, die von Künstlern wie Lee Bul, Mickalene Thomas und Olga de Amaral entworfen wurden. Und wo ein Designer heute in dieser Mischung aus Kunst, Design und Markt steht. Das ist nicht einfach in einem Haus wie Dior, mit dem so viele Menschen die unterschiedlichsten Erinnerungen - an Dior, an Galliano, an Slimane - verbinden, meint sie. "Es hängt von deinem Alter ab, was 'Dior' für dich bedeutet. Als Designer muss man da ehrlich zu sich selbst sein: Du kannst nicht einfach nur deinen eigenen Standpunkt verkaufen. Vielmehr geht es darum, aus deiner Perspektive heraus mit all den Referenzen zu arbeiten. In dem Punkt habe ich eine Menge von David Chipperfield gelernt, mit dem ich seit seinen Valentino-Stores befreundet bin. Sein Neues Museum in Berlin hat mich schwer beeindruckt, weil er die Epochen vor ihm sichtbar machte, die Geschichte dieses Museums. Er suchte nach der Verbindung zwischen Gestern und Heute. Dennoch ist es ein modernes Museum, unverkennbar von jetzt. Das ist es auch, was ich in meiner Arbeit anstrebe."

Und hier eine Reprise der Zusammenarbeit von Picasso, Cocteau, Satie und dem Ballets Russes, aufgeführt von der Europa Danse Company:

Archiv: Design

Kunst

Miriam Cahn, o.t., 2018. Courtesy of the artist, Galerie Jocelyn Wolff, Paris, und Meyer Riegger, Berlin / Karlsruhe. © Miriam Cahn, Kunsthaus Bregenz. Foto: Markus Tretter

Anne Katrin Feßler unterhält sich für den Standard mit der Künstlerin Miriam Cahn, die in diesem Jahr mit fünf Soloschauen (derzeit in Bregenz) in ganz Europa präsent ist. Cahn verteidigt ihr Recht auf Zorn und aufs Lachen: "Dieses Lachen ist ein Zähnezeigen. Das kennen wir alle. Frauen machen das wahnsinnig oft: Jemand ist bös zu dir, und eigentlich müsstest du dem eine schwingen, aber du schaffst es nicht, also lachst du. Bei den Hunden und Wölfen und anderen Tieren ist das genauso: Sie ziehen die Lefzen hoch, werfen sich auf den Rücken und zeigen dem Feind den Bauch. Diese Unterwerfungsgeste finde ich sehr interessant - wir sind ja auch Säugetiere. Diese Geste zeigt natürlich den Zustand."

Weitere Artikel: Im Tagesspiegel schreibt Christian Schröder zum 500. Todestag Leonardo da Vincis. In der Welt erklärt Swantje Karich, warum Leonardo nicht nur ein begnadeter Maler, sondern auch ein Feminist war. Tal Sterngast betrachtet für die taz "Die Darbringung Christi im Tempel" von Mantegna und Bellini, die man gerade beide in der Ausstellung "Mantegna und Bellini. Meister der Renaissance" in der Berliner Gemäldegalerie sehen kann.

Besprochen werden die Schau "Flucht in die Bilder?" im Brücke Museum in Berlin (Tagesspiegel) und die große Rothko-Ausstellung im KHM in Wien ("Mehr als die Präsenz von Rothkos Œuvre gegenüber den Altmeistern erstaunt es, dass sie auch der verkorksten Ausstellungsarchitektur standhalten", schreibt Catrin Lorch in der SZ).
Archiv: Kunst

Film

Tiefer Schmerz: "Ayka"

Sergey Dvortsevoys Drama "Ayka" über eine junge, alleinerziehende Kirgisin, die sich in Moskau durchschlagen muss, ist ein Vertreter jenes "sozialrealistischen Kinos, das die Unmenschlichkeit der spätkapitalistischen Gesellschaft anhand seiner - oft weiblichen - Hauptfiguren durchspielt", erklärt Esther Buss im Tagesspiegel. Ziemlich umgehauen berichtet Barbara Wurm in der taz von diesem "Film der Sonderklasse", in dem "laute Empörung, brüllender Protest aber ausbleiben. In Sergey Dvortsevoys Kino-Sensualismus ist hierfür kein Platz. Umso stärker macht sich (und das bei uns allen) ein innerer Aufschrei bemerkbar. Ein, so möchte man hier sagen dürfen, tiefer Schmerz. Es ist die Stärke dieses russischen, in Kasachstan aufgewachsenen Ausnahmefilmemachers (...), dass er die Unmoral des Systems nicht aus der Perspektive der Anklagebank formuliert."

Weitere Artikel: Die beiden Filme "Of Fathers and Sons" und "Kleine Germanen" zeigen derzeit im Kino, wie Kinder radikalisiert werden, erklärt Thomas Assheuer in der Zeit. Bert Rebhandl porträtiert im Standard die österreichische Filmemacherin Jessica Hausner, deren neuer Film "Little Joe" im Wettbewerb von Cannes gezeigt wird. David Steinitz (SZ) und Hanns-Georg Rodek (Welt) kommentieren die Cannes-Auswahl. Im Filmdienst schreibt Kirsten Taylor über Tod und Trauer im Kinderfilm. Dietmar Dath gratuliert in der FAZ Jessica Lange zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden Marco Kreuzpaintners gleichnamige Verfilmung von Ferdinand von Schirachs Roman "Der Fall Collini" (Tagesspiegel, FAZ), Joe Cornishs "Wenn du König wärst" (Presse) sowie Rainer Werner Fassbinders auf BluRay restauriert veröffentlichte Filme "In einem Jahr mit 13 Monden" und "Die dritte Generation" (Filmdienst).
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Architektur

Cover der Zeitschrift bauhaus von 1928.
Friedhelm Greis bringt in seinem Tucholsky gewidmetem Sudelblog einen interessante Überblick über Texte der Weltbühne zum Bauhaus. Diskutiert wurde es früh, gegen Ende der Zwanziger dann auch eher kritisch. Und schreiben konnten sie, etwa der Architekturkritiker und ehemalige Leiter der Zeitschrift bauhaus Ernö Kállai, der 1930 einen gewissen Überdruss bekannte: "Heute weiß jeder Bescheid. Wohnungen mit viel Glas- und Metallglanz: Bauhausstil. Desgleichen mit Wohnhygiene ohne Wohnstimmung: Bauhausstil. Stahlrohrsesselgerippe: Bauhausstil. Lampe mit vernickeltem Gestell und Mattglasplatte als Schirm: Bauhausstil. Gewürfelte Tapeten: Bauhausstil. Kein Bild an der Wand: Bauhausstil. Bild an der Wand, aber was soll es bedeuten: Bauhausstil."

Außerdem: Die New York Times bringt eine wunderbare Fotostrecke von Architektur aus der ganzen Welt, die vom Bauhaus inspiriert ist.
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Literatur

In einem epischen Tagesspiegel-Gespräch spricht die französische Comicautorin und ehemalige Charlie-Hebdo-Mitarbeiterin Catherine Meurisse, wie sie mit ihren Comics - gerade ist ihr Kindheits-Memoir "Weites Land" erschienen - selbsttherapeutisch ihr Trauma behandelt: "Es war eine Flucht und gleichzeitig auch eine Reparatur. In 'Die Leichtigkeit' versuchte ich meine durch das Charlie-Erlebnis angegriffene Konstitution zu reparieren ... Im neuen Buch wollte ich mich der Natur ganz widmen, den schönen Erinnerungen an meine Kindheit, die wirklich sehr glücklich war. Ich wollte mich dem Leben zuwenden, meine Geschichte sollte also viel Blattgrün enthalten. Ich strebte an, das Gegenteil von der erfahrenen Gewalt zu erreichen, eine Sanftheit, sowohl im Thema und auch stilistisch. Das war ein Weg für mich, mich selbst wiederzufinden."

Im literarischen Wochenendessay der FAZ denkt Katharina Teutsch darüber nach, wie sich seit Virigina Woolfs Essay "Ein Zimmer für sich allein" das Schreiben von Frauen über Frauen verändert hat. Für die Gegenwart attestiert sie mitunter die Übernahme des männlichen Blicks als Empowerment-Strategie. Immerhin also: "Die Produktionsbedingungen für Frauen haben sich seit Woolfs Essay radikal verbessert. Die sozialen Konventionen, auch solche, denen Frauen sich freiwillig unterwerfen, halten da nicht immer mit. Die Frage, warum die unfassbar komischen historischen Romane voller schwuler Eigenbrötler der überaus 'androgynen' Autorin Christine Wunnicke kaum gelesen werden und die von dem doch alles in allem sehr männlichen Autor Daniel Kehlmann millionenfach, bleibt eine offene und vermutlich nicht ganz leicht zu beantwortende Frage. Dass Frauen ebenso häufig wie Männer schreiben, zeigt jedenfalls die Bilanz der Künstlersozialkasse. Dass Frauen so gerne über sich selbst schreiben und momentan eben ihre Potenz intellektuell fruchtbar machen, ist wohl als evolutionärer Schritt hin zu einer literarischen Androgynität zu begreifen."

Alem Grabovac schwärmt in der Welt aufs Literarischste von seinem Kindheitshelden Diego Maradona, den er 1989 in München spielen sah und schier nicht glauben konnte, was sich da vor seinen Augen abspielte: "Der Ball schwebte im Maradonismus. Maradona war der Ball, und der Ball war Maradona. ... Das Stadion verstummte in Ehrfurcht. Es war die Uraufführung von John Cages 4'33 in der Welt des Fußballs. Die Zuschauer hörten in der Stille den Urklang des Spiels. Es war ein singulärer Klang der Schönheit, der direkt in die Seele flatterte und dort die unerträgliche Leichtigkeit des Seins zum Erklingen brachte."

Weitere Artikel: Auf Seite Drei der SZ überlegt  Hilmar Klute, wie sich Theodor Fontane im Jubiläumsjahr auch für heutige Lesergenerationen als zeitgemäß aufschließen lässt. "Irrungen, Wirrungen" erzähle vom Preußen des 19. Jahrhunderts immerhin schon mal "truffauthaft leicht und tragisch zugleich". Björn Kuhligk begibt sich derweil für die taz auf Fontanes Spuren in Berlin, die allerdings weitgehend unter Neubauten begraben sind.

Besprochen werden unter anderem Sibylle Bergs "GRM. Brainfuck" (Zeit, Literarische Welt), Gabriele Tergits "Effingers" (Berliner Zeitung), Isabelle Lehns "Frühlingserwachen" (taz), Szczepan Twardochs "Wale und Nachtfalter" (Dlf Kultur), die Gesamtedition von Samuel Becketts Briefen (NZZ), Jiří Weils "Mendelssohn auf dem Dach" (taz), Durs Grünbeins "Aus der Traum (Kartei)" (SZ), die Ausstellung "Wien. Eine Stadt im Spiegel der Literatur" im Literaturmuseum in Wien (Standard), Isaac Bashevis Singers "Jarmy und Kelia" (Literarische Welt), Agnès Poiriers "An den Ufern der Seine - Die magischen Jahre von Paris 1940-1950" (Literarische Welt) und Bret Easton Ellis' Autobiografie "Weiß" (FAZ).
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Musik

Die Tödliche Doris ist mal wieder da: Mit einem Album, das sich wie ihr 1981er Tape "Das typische Ding" nennt, unter dem aber "Reenactment (I)" steht. Zu hören gibt es 31 Stücke, die mit 31 verschiedenen Vibratoren bestritten werden - zu jedem Stück gibt es eine Zeichnung von Tabea Blumenschein und eine Rezension des Sexspielzeugs von Katrin Kämpf. Ein bisschen unschlüssig ist Jan-Pail Koopmann in der Jungle World allerdings schon: Nette Zeichnungen, die Rezensionen gab es schon im L-Mag "und die Platte selbst dokumentiert, dass Vibrator nicht gleich Vibrator ist und soundmäßig nach Insektenschwarm, Presslufthammer, geschüttelter Spraydose oder einem Topf kochender Eier klingen kann. Der Gehalt liegt tatsächlich in der Spannung zwischen den drei Elementen. Die unterschiedlichen Arten und Weisen, sich dem Thema Masturbation anzunähern, nämlich visuell, akustisch und in Form von Texten, sind zusammengenommen so widerspruchsgeladen, wie es Sex selbst eben auch ist." Der Albumtrailer gestattet einen Höreindruck:



Weitere Artikel: Manuel Brug berichtet in seinem Welt-Blog vom Bogota Música Clásica Festival. Im ZeitMagazin träumt die georgische Musikerin Katie Melua. Für den Standard plaudert Karl Fluch mit dem Neo-Retro-Soul-Meister Lee Fields, der den heutigen Musikmarkt um einiges angenehmer findet als den "früher, als einige wenige bestimmten, was im Radio gespielt wurde. Youtube findet er toll, dort könne man Musik ent decken, die früher im Dunkeln geblieben wäre." Sein Album "It Rains Love" ist ideal für diesen Samstag:



Besprochen werden Beyoncés Live-Album "Homecoming" (Pitchfork), ein Auftritt des Jazz-Saxofonisten Don Menza (Presse), eine Aufführung von Beethovens Oratorium "Christus am Ölberge" durch den Gemischten Chor Zürich (NZZ) sowie Konzerte von Bilderbuch (Berliner Zeitung) und Ho99o9 (Tagesspiegel).
Archiv: Musik