Efeu - Die Kulturrundschau

Der Dichtung hingegeben

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26.04.2019. Monopol erklärt der AfD, warum sie Jean-Léon Gérômes Gemälde "Der Sklavenmarkt" nicht ganz verstanden hat. Der Tagesspiegel blickt das abgründige Biedermann-Gesicht des Schauspielers Rainer Bock. Die nachtkritik lernt in Eike Weinreichs Film "UnRuhezeiten" mehr über den Relevanzverlust des Theaters als ihr möglicherweise lieb ist. Der Standard rechnet vor, wieviel Prozent der Tantiemen für einen Spotify-Hit bei den Verwertern hängen bleibt. Die taz feiert die seltsam gondelnde Heimeligkeit von Krautrocker Michael Rother.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.04.2019 finden Sie hier

Kunst

Jean-Léon Gérôme "Der Sklavenmarkt", um 1866


Die AfD macht gerade Werbung für die Europa-Wahl mit dem "Sklavenmarkt" von Jean-Léon Gérôme. Auf das Bild hat sie gedruckt: "Damit aus Europa kein 'Eurabien' wird". Saskia Trebing empfiehlt in Monopol, sich noch ein, zwei Sklavenbilder von Gerome anzugucken: Hier sind die Käufer, huch, Römer, weiße Männer! Das von der AfD verwendete Bild erzählt nichts über weiße Sklavinnen, meint Trebing, sondern darüber, "wie europäische Maler dazu beitrugen, ein fiktionales und vom Kolonialismus geprägtes Bild des 'Orients' zu vermitteln. Der Künstler Gérôme wird zur Strömung des Orientalismus gezählt, dessen Motive oft die sexualisierten Körper von Frauen in einem exotisch anmutenden, aber immer völlig unspezifischen Umfeld zeigen. ... Wichtiger als die Gewalt gegen die Sklavin ist die Idee vom idealisierten, entfesselten und tabulosen Frauenkörper. Dieser ließ sich einfacher im vermeintlich wilden und exotischen Orient-Kontext darstellen als vor der recht prüden Westeuropa-Kulisse."

In Berlin findet vom 26. bis 28. April das Gallery Weekend statt: Auf Zeit online verbindet Claire Beermann Ausstellungs- mit Shoppingtipps. In der Berliner Zeitung sieht Ingeborg Ruthe "die kritische Masse" an Künstlern in Berlin erreicht. Monopol macht in einer ganzen Artikelreihe Vorschläge für Galeriebesuche. Außerdem: Der Chicagoer Künstler  Theaster Gates spricht im Interview mit dem Tagesspiegel über seine Ausstellung "The Black Image Corporation" im Berliner Martin Gropius Bau, die afroamerikanische Frauen mit Fotos aus den Zeitschriften Jet und Ebony feiert. Und Roland Berg besucht für die taz das renovierte Doppelhaus von Kandinsky und Klee in Dessau.

Besprochen werden die Ausstellung "Visionen der Moderne heute. Bauhausarchitektur im Bild zeitgenössischer Fotografie mit historischen Bezügen" im Museum für Photographie in Braunschweig (taz), die Ausstellung "Roger Melis: Die Ostdeutschen. Fotografien aus drei Jahrzehnten" in den Reinbeckhallen in Berlin (FAZ) und eine Ausstellung über das Verhältnis von Pflanzen und Menschen im Dresdener Hygiene-Museum (SZ).
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Film

Ungewohnt physisch: Rainer Bock in "Atlas"

Kaum zu glauben: In David Nawraths "Atlas" hat der wunderbare Rainer Bock erst seine erste Kino-Hauptrolle - bislang trat der gestandene Schauspieler mit den markanten Zügen in Kino und Fernsehen hauptsächlich in Nebenrollen auf. "Offensichtlich ist die Fantasie deutscher Fernsehredakteure etwas beschränkt. Aber das ändert sich nun langsam", erklärt er dazu im Tagesspiegel-Gespräch. Gunda Bartels bespricht den Film, in dem Bock einen Möbelpacker spielt: "Eine überraschend physische Rolle für den großartigen, auf abgründige Biedermänner spezialisierten Rainer Bock. Ihm beim schweigsamen Entfalten von Walters Persönlichkeit zuzusehen, ist ein Erlebnis."

Äußerst lohnenswert ist das Berliner Filmfestival FilmPolska erklärt Tomasz Kurianowicz in der Zeit: Bei den hier gezeigten Filmen kann man eine Nation kennenlernen, "die glücklicherweise immer noch imstande ist, sich unangenehme Fragen zu stellen und schmerzhafte Antworten auszuhalten. Auch die politischen Angriffe einer rechtsgerichteten, in Doppelmoral geschulten Regierung hält der polnische Film bestens aus, ja er gewinnt daraus seine Stärke. Die Frage ist nur: Wie lange noch?"

Weitere Artikel: Hollywood in Aufruhr: Die Drehbuchautoren wehren sich wieder einmal. Diesmal steht die Autorengewerkschaft WGA gegen die Künstleragenturen auf, die unter anderem Drehbücher vermitteln. David Steinitz liefert in der SZ Hintergründe. Vergesst die Streamingdienste, nur cinephile Videotheken halten Filmgeschichte tatsächlich in greifbarer Nähe, schreibt Rudolf Worschech in epdFilm (für Berlin empfehlen wir wärmstens einen Besuch im Videodrom oder in der Filmgalerie 451, da werden Amazon und Netflix zu Schmalspurangeboten). Dunja Bialas schreibt auf Artechock über die Filme von Ingemo Engström, die das Filmmuseum München in einer Retrospektive zeigt. Dem Münchner Publikum legt Rüdiger Suchsland auf Artechock außerdem mit Michael Pfleghars "Die Tote von Beverly Hills" (1964) und "Serenade für zwei Spione" (1965), die morgen im Münchner Filmmuseum laufen, zwei ausgesuchte Raritäten und Solitäre des BRD-Kinos ans Herz (zu den Dreharbeiten des ersteren Films gibt es im Spiegel-Archiv eine tolle zeitgenössische Reportage).

Besprochen werden Jean-Luc Godards Essayfilm "Bildbuch", der nun bei Arte online steht (NZZ, unsere Kritik hier), Stéphane Brizés "Streik" (Tagesspiegel, mehr dazu hier), André Schäfers und Eva Gerberdings Dokumentarfilm "Auch Leben ist eine Kunst" über das Leben des jüdischen, im Nationalsozialismus enteigneten Unternehmers Max Emden, dessen Erben bis heute um Entschädigungen kämpfen (Welt) und Rupert Hennings "Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein" (Tagesspiegel).
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Bühne

Nachtkritikerin Esther Slevogt lernt in Eike Weinreichs Film "UnRuhezeiten" mehr über den Relevanzverlust das Theaters als ihr möglicherweise lieb ist: "Ein Intendanzwechsel ist auch die Grundlage der Filmhandlung, die in einem Stadttheaterchen in der fiktiven Kleinstadt Armstadt spielt. Und so sehen wir gleich zu Beginn, wie ein aasiger junger Kulturdezernent dem demoralisiert aus seiner Existenzialistenkluft blickenden Intendanten im Pensionsalter (von Hartmut Stanke mit miesepetrigem Hochmut gespielt) eine sechzigprozentige Etateinsparung verordnet. Lesungen, kleinere Produktionen könnten locker doch auch in der neuen Shoppingmall stattfinden. Wo sie schließlich auch mehr Publikum erreichen würden."
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Design

Partyberlin trägt Trauer: Der Modeblogger und Party-Impresario Carl Jakob Haupt ist im Alter von gerade einmal 34 Jahren einem Krebsleiden erlegen. "Beide Jobs, den Fashion-Blogger und den Partykönig, konnte Haupt nie ganz ernst nehmen, sonst hätte er sie nicht so grandios neuartig und oft wunderbar ironisch interpretiert", schreibt Moritz Uslar im Nachruf auf ZeitOnline. "'Mode ist vollkommen uninteressant', bekannte Haupt einmal. Die Blogs von Dandy Diary, in denen Haupt und David Roth dadaistische Aktionen starteten, die großen Marken von Adidas bis Balenciaga verspotteten und sich mit den Modehäusern von Paris und Mailand anlegten (anstatt wie sonst in der Branche üblich kleine Gefälligkeitstexte zu schreiben), gingen weit über Schönheit und Konsum hinaus - sie waren Konzeptjournalismus, Gesellschaftskritik, politische Aktionen in bester Agitprop-Manier."

Wehmütig erinnert sich Peter Richter in der SZ an die von Haupt und Roth veranstalteten Partys: Aus Berlin waren die beiden nicht wegzudenken, dennoch waren sie nahbar, auf dem Boden geblieben: "Die beiden wirkten, je länger der Abend dauerte, immer mehr wie Demokrit und Heraklit, der lachende und der eher traurige Philosoph. Denn der Zustand der Welt, der Künste, Berlins, New Yorks, und am Ende auch der Mode: Das waren alles Dinge, die man so oder so sehen konnte."
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Literatur

Anlässlich der Veröffentlichung des Briefwechsels zwischen Corinna Bille und Maurice Chappaz erinnert Roman Bucheli in der NZZ an dieses literarische Paar und dessen Bohème-Leben: "Es war ein Leben im Verborgenen und in stiller Abgeschiedenheit; frei und ungebunden, ganz sich und der Dichtung hingegeben, die sie als Berufung wie zum Priestertum und darum als unantastbar empfanden. Aber es war ein Dasein auf der Kippe. Stets war der Traum gefährdet. ... Denn das junge Paar, das ja weitgehend ohne eigenes Einkommen war, blieb noch lange angewiesen auf Hilfe ihrer Familien. Corinna sah jetzt schmerzhaft deutlich, wie ungleich die Freiheiten verteilt waren."

Weitere Artikel: Hendrikje Schauer schreibt im Tagesspiegel über Daniel Defoes "Robinson Crusoe", der vor 300 Jahren erschienen ist. Die Agenturen melden - hier in der NZZ -, dass in Anthony Burgess' Nachlass eine 1972/73 verfasste Fortsetzung zu "Uhrwerk Orange" namens "The Clockwork Condition" entdeckt wurde.

Besprochen werden unter anderem Mustafa Khalifas "Das Schneckenhaus" (Berliner Zeitung), Bret Easton Ellis' "Weiß" (NZZ, Tagesspiegel, die SZ würdigt den streitbaren Autor mit einer Seite Drei) und Oleg Senzows "Leben" (SZ).
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Musik

Dank Streaming ist die Musikindustrie erstmals seit vielen Jahren wieder wirtschaftlich im Auftrieb. Künstler beschweren sich freilich zu Recht, dass der neue Geldregen nicht zu ihnen durchrieselt. Anlässlich der österreichischen Amadeus Awards hat Laurin Lorenz für den Standard mal durchgerechnet, wie die Bilanz im Falle des Opus-Hits "Live is Life" aktuell aussieht: Bei 33 Millionen Streams des Songs zahlt Spotify zwischen 200.000 und 280.000 Dollar Tantiemen an die Industrie, die den Kuchen aber erst einmal unter sich aufteilt. Online-Vertrieb und Labels "erhalten noch einen Prozentsatz der Einnahmen, Vertriebe oft bis zu 20 Prozent, Labels - je nach Vertrag - zwischen 85 und 50 Prozent jenes Betrags, den der Vertrieb weiterleitet. Die vierköpfige Band Opus würden dann von 200.000 Dollar nur noch zwischen 80.000 und 24.000 Dollar erreichen. Da sehen die Welthits plötzlich arm aus."

Michael Rothers Krautrock-Bands Neu! und Harmonia sind mittlerweile auch in Deutschland fester Bestandteil des Pop-Kanons, aber jetzt werden endlich auch Rothers spätere Solo-Alben wieder zugänglich gemacht, freut sich Lars Fleischmann in der taz: Mit dem von Westernstimmungen durchsetzten Album  "Flammende Herzen" ging es 1977 los. "Während 'draußen' der deutsche Herbst 1977 auf seinen Höhepunkt zusteuerte, fand Rothers 'innerliche' romantische Musik ihre Anhänger. Die Wut früherer Tage war einer seltsam gondelnden Heimeligkeit, einer Suche nach den Wurzeln der Stücke gewichen." Zu hören gibt es "leicht sentimentale und gleichsam kosmisch-futuristische Musik voller strahlender Momente und Camping-Kitsch." In der Jungle World hatte Leon Ackermann gerade deshalb schwer geächzt (unser Resümee), sehr schön ist etwa das '79er-Album "Katzenmusik" dennoch:



Weitere Artikel: In der NZZ porträtiert Thomas Schacher den Dirigenten Enrique Mazzola. Katja Schwemmers plaudert im Tagesspiegel mit Peter Doherty, dem es nach einer Vielzahl von Drogenskandalen entgegen allen Erwartungen doch noch gelungen ist, das 40. Lebensjahr zu erreichen. Besprochen werden "Life Metal" von Sunn o))) (Pitchfork), Jan-Niklas Jägers Buch "Factually. Pet Shop Boys in Theorie und Praxis" (taz), ein Auftritt von Edita Gruberová in Frankfurt (FR) und eine wuchtige Beyoncé-Doku auf Netflix (SZ).
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