Efeu - Die Kulturrundschau

Studieren bringt nichts

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29.04.2019. ZeitOnline lernt von den Gestaltern der neuen Helvetica alles über die Kurvenspannung des großen und kleinen O.  Der Standard berichtet vom Streit in Amsterdam um Daniel Libeskinds Entwurf für ein riesiges Holocaust-Mahnmal. Die SZ feiert mit Susanne Kennedys "Drei Schwestern" die Freiheit, auf ein Gesicht zu verzichten. Critic.de streift mit Toshio Matsumotos "Funeral Parade of Roses" durch die queere Szene Tokios. Und die taz besucht den kubanischen Künstler Kcho in Havanna.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.04.2019 finden Sie hier

Bühne

Susanne Kennedys "Drei Schwestern" an den Münchner Kammerspielen. Foto: Judith Buss

In den Münchner Kammerspielen hat Susanne Kennedys Tschechows "Drei Schwestern" inszeniert, wie immer im Stil von Tableaux Vivants, mit maskierten Schauspielern in grellen Kostümen und viel spirituellen Weisheiten. SZ-Kritikerin Christiane Lutz erlebt mit den Schauspielern die Freiheit, "die Sprachlosigkeit und der Verzicht auf ihr Gesicht bieten", und schwärmt auch sonst: "Die Gegenwart ist das Bild eines Bildes - so könnte man Susanne Kennedys 'Drei Schwestern' auch betrachten, die sie jetzt an den Münchner Kammerspielen inszeniert hat. Ein philosophischer Abend, bildgewaltig, beklemmend und von immenser Sogwirkung. In 41 Bildern kreist die Regisseurin um das Hauptmotiv des Tschechow-Klassikers, der 1901 uraufgeführt wurde: die Verlagerung des Glücks in eine noch nicht angebrochene Zukunft und die absolute Unmöglichkeit, aus dem Jetzt auszubrechen." FAZ-Kritiker Simon Strauß bbleibt in seiner Begeisterung verhalten: "Stark und wirkungsvoll ist Kennedys Theaterfantasie immer dann, wenn sie auf die unmittelbare Kraft ihrer surrealen Bühnenbilder vertraut. Schwach und gewollt wird sie, wenn populärphilosophische Behauptungen aufgestellt werden oder Angelesenes didaktisch zitiert wird. Wenn plötzlich eine Computerstimme mitteilt, dass 'ein Kontinuum vor uns steht', hört schlagartig alles Staunen über die befremdliche Atmosphäre auf." Nachtkritikerin Petra Hallmayer nötigen Kennedys Konsequenz und Radikalität zwar Respekt ab: "Wirklich tief aber schürft ihre so hochtönend philosophisch daherkommende Inszenierung leider nicht."

Weiteres: Schönheit und Utopie erlebte SZ-Kritiker Reinhard Brembeck bei den Schwetzinger Festspielen, die mit Elena Mendozas "Der Fall Babel" und Wolfgang Katschners Erzählkonzert nach Farid Attars Msytikklassiker "Die Konferenz der Vögel" eröffneten; FAZ-Kritiker Grehard Koch verdankt Mendoza eine "multiple sinnliche Erfahrung". Im SZ-Interview mit Christine Dössel spricht Jürgen Schnitthelm, der vor 57 Jahren als Student die Berliner Schaubühne gründete, über politisches Theater und Zeitgenossenschaft: "Im Studium ging es nur um Theatergeschichte. Wie der alte Goethe in Weimar ein Stück inszenieren würde und solche Sachen. Da sagten wir: Studieren bringt nichts, lasst uns ein Theater aufmachen!" In der FAZ gratuliert Irene Bazinger dem "Theaterermöglicher" Schnitthelm zum Achtzigsten. In der NZZ huldigt Daniele Musconico dem Kabarettisten Joachim Rittmeyer, der die Schweizer glatt von dem Ruf befreien könnte, keinen Humor zu haben.

Besprochen werden Árpád Schillings Groteske "Der letzte Gast" am Berliner Ensemble (Tsp), die Inszenierung von "Tristan und Isolde" mit dem inklusiven Theater Hora aus Zürich und dem Musiktheaterkollektiv Hauen und Stechen in den Berliner Sophiensälen (taz), alle Berliner Premieren in einem Aufwasch (Berliner Zeitung), Herbert Fritschs Nummernabend "Zelt" am Wiener Burgtheater (Standard).
Archiv: Bühne

Design

Die schnörkellos-schlichte Helvetica ist ein Klassiker der Typografie, als solcher aber auch schon ein wenig in die Jahre gekommen: 36 Jahre nach ihrem letzten Update gibt es mit "Helvetica Now" nun eine auf die Anforderungen des Digital-Zeitalters zugeschnittene neue Version, die auch bei wenigen Pixeln Darstellungsgröße noch Lesbarkeit verspricht. Für ZeitOnline haben Christoph Rauscher und Rabea Weihser sehr ausführlich mit Hendrik Weber und Alexander Roth von Monotype gesprochen, die an der Gestaltung der neuen Helvetiva beteiligt waren. Insbesondere das für den Laien zunächst reizlos wirkende "O" entpuppt sich als guter Ausgangspunkt für Typengestaltung, erfahren wir dabei: "Es geht zum Beispiel um das Höhenverhältnis des kleinen zum großen O. Und um die Breite. Und um die Kurvenspannung, also wie eng und schnell die Rundungen sind", erklärt Alexander Roth. "Es gibt zum Beispiel Schriftarten, in denen das o aussieht, als würde es vornüber fallen. Das macht man auch gern bei geraden Zeichen wie dem kleinen l oder a: Man kippt sie um einen Winkel von 1° in die Leserichtung, und es ist verrückt, was das ausmacht. Es fördert wirklich den Lesefluss."

Thomas Steinfeld geht derweil in Sachen Typografie auf quasi-archäologische Erkundungen im vor-digitalen Feld: In der SZ schwärmt er vom Typografie-Museum Tipoteca im italienischen Cornuda. Staunend steht er vor "großen Mengen von Gusseisen, die daran erinnern, dass Setzen und Drucken bis vor nicht allzu langer Zeit im hohen Maße ortsgebundene Tätigkeiten waren: Arbeiten mit einem schweren, widerständigen Material. ... Vor allem aber zeugt die Ausstellung von einer Umgebung - oder will man sagen: Kultur? - in der die Frage, in welcher Form man seine Behauptungen und Gedanken schriftlich niederlegt, noch immer von alltäglicher, aber nicht geringer Bedeutung ist."

Besprochen wird eine der Möbeldesignerin Mary Quant gewidmete Ausstellung im Victoria & Albert in London (NZZ).
Archiv: Design
Stichwörter: Helvetica, Typografie, Quant, Mary

Architektur

Daniel Libeskinds Entwurf für ein Holocaust-Mahnmal in Amsterdam. Aus der Luft betrachtet ergeben die Umrisse das hebräische Wort für "Erinnerung". © Libeskind

Im Standard berichtet Kerstin Schweighöfer von dem Streit, den in Amsterdam Daniel Libeskinds Entwurf für ein kolossales Holocaust-Mahnmal ausgelöst hat. 102.000 Backsteine sollen an die von den Deutschen ermordenen niederländischen Juden erinnern. Anwohner wehren sich gegen geplante Standorte, protestieren gegen eine Abholzung von Bäumen, verlangen Mitbestimmung und Ausschreibung: "Viele Niederländer stellen sich inzwischen auch Fragen ganz grundsätzlicher Art: Ist die Idee eines Namens-Mahnmals, wie es 1982 mit dem Vietnam Veterans Memorial von Maya Lin in Washington erstmals realisiert wurde, nicht längst überholt? Wird das geplante Namensmonument von Libeskind dadurch nicht zu einem, wie es der Amsterdamer Soziologieprofessor Abram de Swaan nannte, 'monumentalen Klischee'? Und überhaupt: Brauchen kolossale Ereignisse der Weltgeschichte unbedingt kolossale Mahnmäler?"
Archiv: Architektur

Kunst

Knut Henkel stellt in der taz den kubanischen Künstler Kcho vor, den er in Havanna besuchen konnte: "Alexis Leyva Machado alias Kcho ist eine imposante Erscheinung. Der 49-Jährige hat sich mit seinem Estudio Romerillo im Westen der kubanischen Hauptstadt im Stadtviertel Romerillo angesiedelt. Er hat dort eine große Halle errichtet, in der sich neben seinem Atelier und Werkstatt eine Bibliothek, ein kleines Theater sowie Seminarräume befinden. Dieses 'Laboratorium für die Kunst' steht der Nachbarschaft, aber auch Besuchern offen. Als er bei der vergangenen Biennale im Mai 2015 sein Atelier und Kulturzentrum eröffnete, sorgten vor allen zwei Dinge international für Schlagzeilen: die Visite von Fidel Castro, seinem 2016 verstorbenen Freund und Mentor, sowie die Tatsache, dass er mit dem Estudio Romerillo einen schnellen und kostenlosen Internetzugang anbieten konnte - in Kuba damals ungewöhnlich."

Besprochen werden eine Yoko-Ono-Retrospektive im Leipziger Museum der bildenden Künste (SZ) und die Schau "Utrecht, Caravaggio und Europa" in der Alten Pinakothek in München (FAZ).
Archiv: Kunst
Stichwörter: Kcho, Kuba, Ono, Yoko, Alte Pinakothek

Film

Von transsexuellen Amüsierdamen und Filmclubs: Toshio Matsumotos "Funeral Parade of Roses"

Toshio Matsumotos
frei durch die queere Szene Tokios mäandernder Film "Funeral Parade of Roses" aus dem Jahr 1969 ist sehr zur Freude von critic.de-Kritiker Robert Wagner nun auch in Deutschland auf Heimmedien erhältlich. Eindeutigen Zuschreibungen verweigert sich der Film mit Gewinn: "Mal wird eine Geschichte erzählt, mal impressionistisch den Figuren in ihrem Alltag gefolgt, mal wird das Medium Film in Metadiskurse verstrickt. Mal geht es um transsexuelle Amüsierdamen, mal um Studentenproteste, mal um einen Filmklub. Mal gibt es kunstvoll entworfene Einstellungen, mal ungezwungenes Stromern durch eine vorgefundene Welt, mal experimentelle Verformungen. ... Wenn wir protestierende Studenten in eigenwilligen Formationen durch die Straßen laufen sehen, dann dokumentiert 'Funeral Parade of Roses' zudem ein politisches Aufbegehren, das in Japan schon seit den ANPO-Massendemonstrationen von 1960 schwelte und 1968 abermals massiv entfacht wurde." Der aus dem Experimentalfilm kommende Regisseur "findet auch im Knappen fiktionalisierte wie reale Dokumente eines Lands im Aufruhr, wo in dunklen Zellen und in militanten Paraden voller Jugend ein politischer Umbruch ersehnt wird. "

Weitere Artikel: Für die Welt spricht Elmar Krekeler mit dem Schauspieler Rainer Bock, der aktuell in "Atlas" (mehr dazu hier) zu sehen ist. Bevor bei "Game of Thrones" das zu erwartende große Sterben der Hauptfiguren einsetzt, würdigen die ZeitOnline-Kritikerinnen und -Kritiker ihre Lieblinge aus der Fantasyserie. Besprochen werden James Marsh' Gangsterfilm "Ein letzter Job" mit Michael Caine (Tagesspiegel), Stephane Brizés "Streik" (Freitag, unsere Kritik hier) und neue Heimveröffentlichungen, darunter "Nackt unter Leder" mit Alain Delon (SZ).
Archiv: Film

Literatur

Sieglinde Geisel unterzieht für Tell-Review Sibylle Bergs neuen Roman "GRM. Brainfuck" dem Page-99-Test und stört sich sehr an den lakonisch verkürzten Sätzen, mit denen die Schriftstellerin hantiert. Die NZZ hat Thomas Hürlimanns großen Bericht seiner Krebsbehandlung (verbunden mit einem Reise-, respektive Patientenführer der besten Schweizer Krankenhäuser) online nachgereicht. Im Standard spricht der Berliner Schriftsteller Maxim Leo über seinen Roman "Wo wir zu Hause sind", nach "Haltet Euer Herz bereit" der zweite, der von seiner Familiengeschichte handelt. Für die Berliner Zeitung hat Petra Kohse die Schriftstellerin Nell Zink in Bad Belzig besucht. Gerhard Henschel war für die FAZ auf einer Tagung in Rostock zum Werk Walter Kempowskis.

Besprochen werden Giorgio Scerbanencos wiederaufgelegte "Duca Lamberti"-Krimis (taz), Sorj Chalandons "Am Tag davor" (Berliner Zeitung), Gary Shteyngarts "Willkommen in Lake Success" (Presse), Gunther Geltingers "Benzin" (Standard) und Helene Bukowskis "Milchzähne" (SZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Adrian Nichols über Dylan Thomas' "Und Herr unser wird er nicht, der Tod":

"Und Herr unser wird er nicht, der Tod.
Die Toten nackt sie werden eins
Mit dem Geist der Böe und des Westmonds;
..."
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Musik

Sehr entzückt kommt Standard-Kritiker Stefan Ender vom Konzert der Wiener Philharmoniker unter Christian Thielemann nach Hause: Gegeben wurde Bruckners Zweite - und der für seine Kernigkeit bekannte Dirigent zeigt sich in jüngster Zeit spielerischer als sonst, erfahren wir. "Die Kontrastgruppen Militär/Masse/Maschine und Poesie/Individuum/Natur standen sich in der gesamten Werkzeichnung versöhnlicher gegenüber als sonst üblich: eine zusammenführende, integrative Deutung. In Summe durfte man der Nachschöpfung eines Kunstwerks beiwohnen, die von einer Wohlausgewogenheit, einem Detailreichtum, einer Farbenpracht und einer Größe war, dass man sie am liebsten sofort rahmen lassen und übers Wohnzimmersofa hängen wollte."

Weitere Artikel: Alexandra Ketterer (Tagesspiegel) und Clemens Haustein (Berliner Zeitung) gratulieren dem Bundesjugendorchester zum 50-jährigen Bestehen. Wolfgang Fuhrmann hat für die FAZ das A-Cappella-Festival in Leipzig besucht. Besprochen werden ein von Iván Fischer dirigierter Abend mit dem Konzerthausorchester (Tagesspiegel), Auftritte von Lee Fields (Tagesspiegel) und Bilderbuch (FAZ) sowie die Jubiläumsedition von Frank Zappas Livealbum "Zappa in New York", die mit mehr als dreieinhalb Stunden bislang unveröffentlichtem Material aufwarten kann (FAZ).

In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Gisela Trahms über "Me and Bobby McGee" in den jeweiligen Darbietungen von Kris Kristofferson und Janis Joplin.

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