Efeu - Die Kulturrundschau

Findling aus der Zukunft

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02.05.2019. Die FR sucht Gott in den Tagebüchern des Leonardo da Vinci, der heute vor 500 Jahren starb. In der SZ erklärt Yvonne Büdenhölzer, Leiterin des Berliner Theatertreffens, warum es zwei Jahre lang bei der Auswahl eine 50-Prozent Frauenquote geben soll. Die Disneywalze drückt mit "Avengers" alles andere platt, klagt Moviepilot. Tagesspiegel und Berliner Zeitung begutachten den ersten fertiggestellten, 447 Millionen Euro teuren Bauabschnitt bei der Renovierung des Pergamonmuseums.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.05.2019 finden Sie hier

Kunst

Leonardo da Vinci, Ausschnitt aus "San Girolamo", ca. 1480, Vatikanische Museen


Heute vor 500 Jahren starb Leonardo da Vinci. Viel fällt den Feuilletons dazu nicht ein. SZ und Welt begnügen sich mit einigen Kurztexten. Die FAZ berichtet über die Ausstellung "Leonardo da Vinci - La scienza prima della scienza", mit dem Wissenschaftler Leonardo im Zentrum, in der Scuderie del Quirinale in Rom. Im Standard stellt Alexander Kluy einige Leonardo-Biografien vor.

Arno Widmann immerhin liest fasziniert Leonardo da Vincis "Tagebücher und Aufzeichnungen". Gott, stellt er in der FR fest, kommt hier praktisch nicht vor: "In Leonardos Texten spielen auch Bibelstellen keine Rolle. Nichts liegt ihm ferner als die Vorstellung, sie als Autorität bei der Welterklärung zu benutzen. Liest man Leonardo, begreift man, was für einen Rückschritt die Schriftgläubigkeit der Reformation bedeutete. Leonardo beobachtet und analysiert. Manchmal steht auch einfach nur ein Satz da wie ein Findling aus der Zukunft. 'Die Sonne bewegt sich nicht!', heißt es in den in der Königlichen Bibliothek von Windsor aufbewahrten 'Quaderni di Anatomia'. Ich wüsste gerne, in welcher Umgebung dieser Satz steht und ob er auch im Original mit einem Ausrufezeichen endet."

Vielleicht hatte Leonardo Gott einfach nicht nötig? "Manche von Leonardos Werken erfahren heute eine fast religiös anmutende Verehrung", schreibt Bernd Roeck, Autor einer Leonardo-Biografie. "Man beobachte Betrachterinnen und Betrachter des 'Burlington House Cartoon', der Maria, St. Anna, das Christkind und Johannes zeigt! Er ist in einem kleinen Raum der Londoner National Gallery zu sehen. Um die Farben der Zeichnung zu schonen, ist das Kabinett abgedunkelt. So herrscht eine fast sakrale Atmosphäre. Im Dämmerlicht verharren die Leute schweigend, allenfalls flüsternd. Es fehlte nicht viel, dass sie niederknieten vor dem Glasschrein, der das Bild schützt - 1987 hatte ein psychisch Kranker einen Gewehrschuss darauf abgefeuert und eine Partie von Marias Kleid zerstört. In einer entzauberten Welt wird die Kunst des 'Göttlichsten' zum Ersatz für heilige Reliquien." Daneben gibt es in der NZZ eine Bilderstrecke mit Leonardo-Zeichnungen.

Ursula Scheer besucht für die FAZ die Bruegel-Ausstellungen zum 450. Todestag des flämischen Malers in Belgien. Gar nicht so leicht für die Belgier, die kaum Gemälde von Bruegel dem Älteren haben. Dafür haben sie sich digital einiges einfallen lassen, zum Beispiel mit der "Beyond Bruegel"-Ausstellung im Brüsseler Dynastiepaleis: "Die Schau trägt dem Umstand Rechnung, dass Bruegels vergleichsweise kleinformatige, an Details überreiche Allegorien, Landschaften und Bibelszenen im Grunde völlig ungeeignet sind für Blockbuster-Ausstellungen. Sie fordern zum Verweilen, Hinblicken und Nachsinnen auf - während Museumsbesucher im Schnitt nicht mehr als dreißig Sekunden vor einem Kunstwerk verbringen. Die Projektionen wollen die Lust am Schauen neu wecken - und so zu den Originalen locken, die nur einen Steinwurf entfernt in den Museen der Schönen Künste hängen."

Weiteres: Christian Thomas schreibt in der FR zum Tod des Museumsdirektors und Gründers der Skulpturen Projekte Münster Klaus Bußmann. Besprochen wird die Ausstellung "In the Blink of A Bird" in der ngbk in Berlin (taz),
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Film

Angriff aufs Kino: "Avengers: Endgame"

1,2 Millarden Umsatz hat der neue Marvel-Film "Avengers: Endgame" alleine am Startwochenende eingespielt - absoluter Rekord. Aber auch eine absolute Katastrophe für den Kinobetrieb, der durch die fortschreitende Monokulturalisierung zusehends entwertet werde, meint Rajko Buchardt auf Moviepilot. Hinzu kommt, dass die Kinos mit harten Verleihbedingungen quasi in die Rolle der Erfolgsmacher für Disney erpresst werden: "Wie hoch stehen die Chancen, der Disney-Dampfwalze zu entkommen, wenn sich Kinos von ihr das Programm plattstrukturieren lassen oder rund um die Uhr Vorstellungen anbieten müssen, um Vertragskonditionen einzuhalten? Welches Gegenangebot ist von Betreibern zu erwarten, deren Überleben vom Marktführer abhängt? ... Angewiesen sind Filmtheater auf Franchise-Produkte allein ihrer Dominanz wegen. Unter den momentanen Bedingungen der Hollywood-Ökonomie wird ein tagesaktueller Kinobetrieb schwer möglich sein, sollte er auf Disney-Filme und Filme, die gern Disney-Filme wären, verzichten. Entsprechend beruhen die Beziehungen zwischen Produzent und Spielstätte zunehmend auf Einseitigkeit: Je größer die Marktstellung eines in Mischkonzerne eingemeindeten Filmstudios, desto besser seine Verhandlungsposition."

Weitere Artikel: In der FR spricht Ulrich Matthes ausführlich über seine Arbeit als neuer Präsident der Deutschen Filmakadmie. Als solcher spricht er sich für die Versöhnung zwischen Kommerz- und Kunstkino aus und plädiert für eine Förderung des Kinos als solches. Für den Freitag hat sich Marta Moneva zum Gespräch mit dem polnischen Regisseur Krzysztof Zanussi getroffen, dem in Wiesbaden und Berlin gerade Werkschauen gewidmet wurden. In der SZ porträtiert Ulf Pape die Kamerafrau Judith Kaufmann, die in diesem Jahr gleich zwei Mal für den Deutschen Filmpreis nominiert ist. Fabian Tietke empfiehlt in der taz die "Commedia all'italiana"-Filmreihe im Berliner Kino Arsenal. Anlässlich der Kubrick-Ausstellung, die nach vielen Jahren nun auch in London Station macht, plaudert Marion Löhndorf in der NZZ mit Nachlassverwalter Jan Harlan. Für Cargo setzt Bert Rebhandl seine Reihe über alte Ausgaben der Zeitschrift Filmkritik fort. Katrin Doerksen bietet auf kino-zeit.de einen Überblick über Filme über ungewollte Schwangerschaften und Abtreibungen. Nachrufe auf den Regisseur John Singleton schreiben Christiane Peitz (Tagesspiegel) und Arno Raffeiner (ZeitOnline).

Besprochen werden Mohammad Rasoulofs iranisches Drama "A Man of Integrity" (taz), Julie Bertuccellis Familiendrama "Der Flohmarkt von Madame Claire" mit Catherine Deneuve (FAZ, Tagesspiegel, Standard, Welt), Johanna Schellhagens Dokumentarfilm "Luft zum Atmen - 40 Jahre Opposition bei Opel in Bochum" (Perlentaucher), Emma Rosa Simons und Robert Bohrers surreal anmutender "Liebesfilm" (Tagesspiegel), zwei Filme über 1968 in der Schweiz (NZZ), Lee Cronins Horrorfilm "The Hole in the Ground" (Zeit), der auf DVD erschienene finnische Schneefilm "Das weiße Rentier" aus dem Jahr 1952 (taz), der Thriller "Im Netz der Versuchung" mit Matthew McConaughey und Anne Hathaway (SZ), die von Arte online gestellte Serie "Eden" (FAZ, taz) und die auf MagentaTV laufende Serienadaption von Elena Ferrantes "Meine geniale Freundin", die laut FAZ-Kritikerin Ursula Scheer leider "seltsam leblos" ausgefallen ist. Welt-Kritiker Marc Reichwein ist immerhin sehr angetan.
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Architektur

Pergamonmuseum in Arbeit. Foto: Staatliche Museen zu Berlin


Bauabschnitt A der Rekonstruktion des Pergamonmuseums ist fertig und wird morgen mit einem Richtfest gefeiert. Bernhard Schulz war für den Tagesspiegel schon mal gucken, wie das 447 Millionen teure Ringen von Denkmalschutz und heutigen Erfordernissen ausgegangen ist: "Im künftigen Mschatta-Saal für das frühislamische Wüstenschloss wird es die Simulation einer Tageslichtdecke geben. Sie sieht optisch genauso aus wie die tatsächlichen Tageslichtdecken. 2500 Quadratmeter Lichtdecken, 5300 Quadratmeter Glasdächer wurden bislang verbaut. Das wirft die ketzerische Frage auf, ob es beim heutigen Stand der Lichttechnik nicht möglich gewesen wäre, auf die aufwändigen Lichtdecken ganz zu verzichten und sie durch eine Kunstlichtregie zu ersetzen, die den Verlauf des Tageslichts unter wechselnden Wetterbedingungen nachstellt. Durch das Milchglas der neu eingezogenen Decken wird man das Spiel der Wolken ohnehin nicht verfolgen können."

In der Berliner Zeitung berichtet Nikolaus Bernau über die ausgeführten Arbeiten: "Ein weiterer massiver Eingriff in den Nordflügel ist das riesige neue Treppenhaus. Ein bemerkenswert grob betonierter Raum; man kann nur hoffen, das das Versprechen des Architekten Jan Kleihues, die noch aufzubringenden Verkleidungen und Details werden diesen eher klaustrophobischen Raum künftig eleganter erscheinen lassen, sich erfüllt. Seine Erfahrungen mit Monumentalität, Achsenfetischismus und Riesenformen aus dem von ihm entworfenen Bau der gewaltigen BND-Zentrale an der Chausseestraße dürften hier zum Tragen kommen." Wir sagen nur: Palmen.

Wie hoch ein Wolkenkratzer ist, ist Sabine von Fischer schnuppe. Es gibt viel wichtigeres, meint sie in der NZZ und weist auf den 80 Meter hohen Andreasturm von Gigon/Guyer Architekten in Zürich: "Eine neue Generation Hochhaus bildet sich heraus, in dem sich auch im obersten Stockwerk die Fenster öffnen lassen, das CO2-neutral betrieben wird und das fast übergangslos an die Verkehrsinfrastruktur am Boden, auf Straße und Schiene, angeschlossen ist. Wen kümmert da noch die bloße Höhe?"
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Literatur

Jan Wiele schreibt in der FAZ zum Tod des australischen Dichters Les Murray, in dessen Werken "die Tradition, etwa der englischen Romantik, manchmal durchscheint, aber neben Kühen stehen auf der Weide eben auch schon mal Kängurus."

Besprochen werden unter anderem Helene Bukowskis "Milchzähne" (Zeit), Bret Easton Ellis' "Weiß" (Freitag), eine vom Berliner Zeichner Mawil gestaltete Comichommage an Lucky Luke (Tagesspiegel), Maryanne Wolfs "Schnelles Lesen, langsames Lesen" (online nachgereicht von der FAZ), Reinhard Kaiser-Mühleckers "Enteignung" (FR), Richard Wrights "Sohn dieses Landes" (online nachgereicht von der FAZ), Alice Zeniters "Harkis" (SZ) und Bela B. Felsenheimers "Scharnow" (FAZ).

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Bühne

Seit Beginn des Theatertreffens in Berlin 1964 waren gerade mal 11,7 Prozent der Eingeladenen Regisseure Frauen. Und 2014/15 wurden an deutschen Theatern gerade mal 30 Prozent aller Aufführungen von Frauen inszeniert. In den nächsten zwei Jahren soll es nun beim Theatertreffen eine Frauenquote von 50 Prozent geben, erklärt Yvonne Büdenhölzer, die Leiterin des Berliner Theatertreffens, im Interview mit der SZ: "Ich finde, dass es eine Aufgabe des Theatertreffens ist, Impulse zu setzen, und nicht nur, die bestehende Situation abzubilden. Ich erhoffe mir von dieser Quote auch, dass sie für Intendantinnen und Intendanten einen Anreiz setzt, Künstlerinnen und Künstler beider Geschlechter gleichermaßen zu fördern und zum Beispiel Regisseurinnen öfter für Produktionen auf der großen Bühne zu engagieren als es bisher der Fall ist."

In der Berliner Zeitung findet Ulrich Seidler die Quote - jedenfalls so lange sie auf zwei Jahre beschränkt ist - okay: "Vielleicht erweist sich das Instrument dann als überflüssig. Vielleicht sind dann mal andere dran. Auf jeden Fall wird die Jury gezwungen, vorübergehend den Blick etwas zu verschieben. Mal sehen, was sie dabei entdeckt."

Weiteres: Regisseur Ersan Mondtag erklärt im Interview mit dem Tagesspiegel, warum seine Inszenierung von "Das Internat" nicht beim Theatertreffen zu sehen ist, obwohl es eingeladen wurde, und was es mit dem Flaschenwurf bei den Proben auf sich hatte. Besprochen werden Ravels Einakter "L'Heure espagnole" in der Studiobühne des Münchner Gärtnerplatztheaters (nmz), Daniel-François-Esprit Aubers Grand Opéra "Die Stumme von Portici" in Kiel (nmz), Tobias Wellemeyers Adaption von Juli Zehs Roman "Unterleuten" im Schillertheater (Tagesspiegel) und Calixto Bieitos Inszenierung von Hector Parras Oper "Die Wohlgesinnten" nach dem Roman von Jonathan Littell in Antwerpen ("Parra, Händl Klaus und Bieito ... geben sich mit der Buchhalterei des Grauens zufrieden. Das ist beeindruckend wenig", kritisiert Reinhard J. Brembeck in der SZ, nmz, Manuel Brug).
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Musik

Dem Standard gibt Pianist Igor Levit eines seiner politischen Interviews: Als ausgesprochener Europäer sieht er in Europa Licht und Schatten gleichermaßen: "Ich schätzte die Tatsache, dass Generationen vor mir nach der dunkelsten Dunkelheit des Zweiten Weltkriegs ein Miteinander geschaffen haben, in dem ich ohne Angst vor Krieg aufwachen konnte und kann. Ich wüsste nicht, ob ich ohne diese Ruhe und Stabilität Musik machen könnte. Auf der Habenseite steht auch die Reisefreiheit. Europa ist aber auch das Geflüchtetenlager von Idomeni. Europa ist auch, was in Italien mit den Rettungsbooten passiert. Europa ist auch die Libyenpolitik, ist Austeritätspolitik. Zur Wahrung des Bankenwesens wurden Länder ausgeblutet."

Hiro Murais knapp einstündiger und mit einer beeindruckenden Kampagne auf Amazon Prime veröffentlichter, zwischen Spielfilm und Musikvideo changierender Film "Guava Island" mit Rihanna und dem Rapper Donald Glover (alias Childish Gambino), die es sich hier auf Kuba gut gehen lassen, ist kaum "mehr als ein gestrecktes Urlaubsvideo", seufzt Daniel Gerhardt im Freitag: Entstehen sollte ein Film über die heilende Funktion von Musik, doch "sowohl Setting als auch Personal entwickeln kaum die Tiefe einer halbherzig zu Ende geposteten Instagram-Story", alles in allem eine "leere Geste".

Königin macht Propaganda in eigener Sache: Beyoncé in "Homecoming"

Deutlich mehr los ist bei Beyoncés Konzertfilm "Homecoming", der kürzlich auf Netflix erschienen ist: Zu sehen gibt es ein "epochales Medley", in dem "Songs regelmäßig unterbrochen werden, um sich in ekstatischen Rhythmuspassagen zu verlieren", erklärt Michael Kienzl im Perlentaucher. "Das Konzert ist geprägt von harten Schnitten, die den Sog jedoch eher verstärken als stören. Der Film nimmt diese Zerstückelungstaktik auf, weil er das Konzert nicht als geschlossenes Ereignis rekonstruiert, sondern aus beiden Sets einfach das zusammenschneidet, was am besten aussieht." Allerdings wirke das alles in allem auch ein wenig wie das "mitreißende Propagandavideo einer Königin, die die Geschichtsschreibung nicht den Anderen überlassen will".

Weiteres: In der Zeit verneigt sich Wolfram Goertz tief vor dem Schwedischen Rundfunkchor. Besprochen werden das Muckemacker-Album "Biri Bababai" (taz) und ein Auftritt der Go-Betweens (taz). Und das Logbuch Suhrkamp bringt die 67. Folge aus Thomas Meineckes "Clip//Schule ohne Worte":

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