Efeu - Die Kulturrundschau

Revolutionär, aber nicht Avantgarde

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07.05.2019. Die SZ honoriert den Mut der Ruhrfestspiele, Jean Raspails neurechtes Pamphlet "Das Heerlager der Heiligen" auf die Bühne zu bringen. Die taz bewundert den Stil, den Mary Quant dem Aufbruch der Frauen in den Sechzigern gab. Der Standard erlebt mit Christiana Perschon, wie Österreichs Künstlerinnen dennoch auf ihren Platz verwiesen wurden.  Die FAZ kann nicht bedauern, dass kein amerikanischer Verlag Woody Allens Memoiren drucken will. Ebenfalls in der FAZ bereitet sich der Bassist René Pape darauf vor, Schostakowitsch Requiem auf Babi Jar zu singen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.05.2019 finden Sie hier

Bühne

Jean Raspails "Heerlager der Heiligen" bei den Ruhrfestspielen. Foto:  Foto: Robert Schittko


Jean Raspails giftiger Roman "Das Heerlager der Heiligen" von 1973, der eine Invasion hunderttausender Inder an Frankreichs Mittelmeerküste ausmalt, ist ein Schlüsseltext der Neuen Rechten. Mutig und richtig findet Alex Rühle in der SZ, dass die Ruhrfestspiele diesen Text zu ihrer Eröffnung auf die Bühne bringen. Blöd nur, dass Raspail "auf die Länge ein erbärmlicher Autor" sei. Aber: "Die Eingangsszene ist ziemlich stark. Zum einen wird früh klar, dass Rahmer und seine Dramaturgin Marion Tiedtke sich trauen, auch das Faszinierende an diesem Text auszustellen, den verführerischen Glanz durch die Mittel des satirischen Humors und ätzenden Hohns. Michel Houellebecq hat übrigens schon mehrfach betont, Raspail habe ihn zu 'Unterwerfung' animiert. Zum anderen wird gleich der faschistoide Kern des Textes herausgeschält: Die Inder sind bei Raspail ein gesichtsloser Haufen aus Gliedmaßen, Geschlechtsteilen, Gestank und Kot. Keiner von ihnen erhält ein Gesicht. Der Fremde ist das Fremde an sich." FAZ-Kritiker Simon Strauss hätte sich in seinem jetzt online stehenden Text noch mehr Abenteuergeist für diesen Denkabend gewünscht.

Weiteres: Elena Witzeck berichtet in der FAZ vom Heidelberger "Stückemarkt", bei dem in diesem Jahr die Türkei Gastland ist. Sabine Leucht war für die taz beim Münchner Festival "Radikal jung", in der FAZ schreibt Teresa Grenzmann. Im Standard unterhalt sich Ljubisa Tosic mit der Mezzosopranistin Elina Garanca.

Besprochen werden Barrie Koskys und Moritz Eggers Opernfassung von Fritz Langs Filmklassiker "M - Eine Stadt sucht einen Mörder" an der Komischen Oper in Berlin (die für Tagesspiegel-Kritiker Frederik Hanssen nach Kurt Weill klang, achtziger-Jahre-Disco, Filmmusik mit Bläserbombast und dann wieder nach Atmo-Klangteppich, taz, FAZ, NMZ, Berliner Zeitung), Hans-Werner Kroesingers Inszenierung von Regine Duras Saudi-Arabien-Stück "Schwarze Ernte" am HAU (Tsp) und Shakespeares "Die Komödie der Irrungen" mit dem Ballettensemble Basel (NZZ).
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Kunst

Wir stellen doch keine Frauen aus: Still aus Christiana Perschons "Sie ist der andere Blick"

Wie Österreichs Kunst-Pionierinnen vom Betrieb permanent auf ihren Platz verwiesen wurden, erfährt Standard-Kritiker Dominik Kamalzadeh in Christiana Perschons Film "Sie ist der andere Blick", in dem Künstlerinnen von ihren generationenbestimmende Erfahrungen berichten: "Die Rede ist von Professoren, die sich Schenkel an Schenkel zu einem dazupressen und in die Zeichnung hineinkritzeln; von nicht bewilligten Auslandsstipendien, weil man ohnehin 'nur mit einem Kind' zurückkäme. Von Galeristen, die einem empfehlen, es als Vierzigjährige noch einmal zu versuchen; und auch von Ehemännern, die einen akribisch Haushaltsbuch führen lassen."

Besprochen werden eine Schau von Esther Teichmanns fotografischen Traumlandschaften in der Flowers Gallery in London (Guardian), eine Ausstellung von Picassos Spätwerk im Potsdamer Museum Barberini (FAZ) und die Fotografie-Ausstellung "Magie der Stille" in der Berliner Galerie Johanna Breede (Tsp).
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Film

Mindestens vier große amerikanische Verlage haben abgelehnt, berichtete die New York Times am Wochenenende, Woody Allens Memoiren zu drucken. In der FAZ weiß natürlich auch Verena Lueken nicht, ob und wie er darin etwa zu den Missbrauchsvorwürfen seiner Adoptivtochter Dylan Farrow Stellung bezogen hätte. Aber einem Punkt will sie festhalten: "Man müsse, so sagen allerdings diejenigen, die hinter dem Desinteresse der amerikanischen Verlage möglicherweise zu Recht nicht nur eine geschäftliche Entscheidung, sondern auch ein moralisches Verdikt vermuten, die Kunst vom Künstler trennen. Tatsächlich? Ausgerechnet bei Woody Allen? Ausgerechnet bei ihm, der wie kaum ein anderer aus dem Vexierspiel von Leinwandpersona und Künstlerpersönlichkeit Kapital geschlagen hat?"

Weiteres: Innovationsgarantie und hohe Wahrnehmungsintensität attestiert Bert Rebhandl im Standard den Kurzfilmtagen Oberhausen: "Die Organisationsform eines Filmfestivals nähert sich hier dem Prinzip der Großausstellung im Kunstbetrieb."
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Design


Christian Diors Nachmitagskleid, 1955 Haute Couture Collection ( Foto Laziz Hamani) und Mary Quants Minidress mit Peter-Pan-Kragen, 1966. Beide: Victoria and Albert Museum, London.

In den Mode-Ausstellungen des Victora and Albert Museum kann taz-Kritikerin Tania Martini zwar auch Christian Diors New Look etwas abgewinnen, das Träumerische etwa oder den Einspruch gegen das Funktionale. Doch spannender findet sie natürlich die Schau zu Mary Quant, die in den Swinging Sixties von London den Minirock durchsetzte und Mode machen wollte für die "Working class, not the few in Paris": "Quant war revolutionär, aber nicht Avantgarde. Quant ist normal life, ist everyday life. Ihre Kleidung sollte Ausdruck individueller wie auch gesellschaftlicher Mobilität sein. In den Stoffen kehren die Streifen der Metzgerskleidung wieder, in den Schnitten die Arbeitsschürzen, die Kleider tragen Namen wie 'Bank of England' (1962), was nicht nur ironisch, sondern auch politisch gemeint ist: Anfang der 1960er konnten Frauen ohne die Erlaubnis ihres Mannes kein Konto eröffnen. Wie überhaupt die Kleiderordnungen noch nicht ganz der Vergangenheit angehörten: Bis in die 1960er Jahre gab es etwa in den USA ein Gesetz, das Frauen vorschrieb, mindestens drei deutlich weibliche Kleidungsstücke zu tragen. Die quantsche Mischung aus Schulmädchen und Tomboy, der bereits androgyn anmutende Look mit symmetrischem Bubikopf, den niemand besser verkörperte als das Model Twiggy, gab dem Aufbruch der Frauen einen Stil und schob ihn gleichzeitig mit an."
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Literatur

Frank Fischer überlegt in der Welt, warum der Mai in der deutschen Literatur so eine wichtige Rolle spielt. Juli Katz porträtiert auf Zeit online die Essayistin Enis Maci.

Besprochen werden Helmut Salzingers Roman "Der Gärtner im Dschungel" (FR), Nell Zinks Roman "Virginia" (Welt), Ann Cottens Erzählung "Lyophilia" (NZZ), Daniela Kriens Roman "Die Liebe im Ernstfall" (NZZ) und Stephan Detjens und Maximilian Steinbeis' Buch "Die Zauberlehrlinge" (Tagesspiegel)
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Musik

Der Bassist René Pape singt am Donnerstag in Ludwigsburg erstmals das Bass-Solo in der dreizehnten Symphonie von Dmitri Schostakowitsch, "ein Requiem für die Menschen, die bei der Judenverfolgung in Europa und bei dem Massaker in Babi Jar umgekommen sind", sagt Pape in der FAZ. "Schostakowitsch und [Librettist] Jewtuschenko machten damals auf ein Massaker aufmerksam, das in der Sowjetunion zwanzig Jahre lang verschwiegen worden war. Das war notwendig. Denn das Verschweigen hatte damit zu tun, dass an diesem Massenmord auch ukrainische Nationalisten, also Sowjetbürger, beteiligt waren. Der Antisemitismus unter Stalin, der nach Stalins Tod andauerte, führte dazu, dass dieses Verbrechen totgeschwiegen wurde. Jewtuschenko schreibt: 'Es steht kein Denkmal in Babi Jar.' Nun hat Schostakowitsch durch sein Werk ein Denkmal gesetzt, das die Dimensionen eines physischen Denkmals sogar sprengt, weil man es weltweit hören kann."

Weiteres: Jonathan Fischer besucht für die SZ die Musikakademie in Mali. Besprochen werden ein Konzert der Jazzsängerin Somi in Frankfurt (FAZ), ein Konzert des Pianisten Alexander Lonquich mit allen fünf Beethoven-Klavierkonzerten in München (SZ) und ein Konzert mit den letzten drei Klaviersonaten von Beethoven mit Igor Levit, ebenfalls in München (SZ).
Archiv: Musik