Efeu - Die Kulturrundschau

Weg mit dem Curriculum Vitae!

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.05.2019. Die Berlinale bekommt mit der Sektion "Encounters" einen dritten Wettbewerb: Der Tagesspiegel quittiert etwas verwundert ein solches Bekenntnis zur Breite in bester Kosslick'scher Tradition. Die SZ erkennt in Oberhausen die Ortlosigkeit der heutigen Kurzfilmkultur. Die FR stellt die Biennale-Künstlerin Natascha Süder Happelmann vor. Wozu hat ein Intendant Macht?, fragt die FAZ den Frankfurter Schauspiel-Chef Anselm Weber. ZeitOnline verteidigt die solidarische Utopie, die  Identitätsfetischisten von Links und Rechts dem Pop gerade austreiben.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.05.2019 finden Sie hier

Film

Die neuen Berlinale-Chefs Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek haben weitere Veränderungen bei der Berlinale bekanntgegeben: Das Kulinarische Kino und die kleine Native-Sektion werden abgeschafft, dafür wird es einen dritten Wettbewerb geben: "Encounters" mit Spiel- und Dokumentarfilmen ab 60 Minuten. Dieter Kosslick dürfte sich über ein solches Bekenntnis zur Breite freuen, meint Christiane Peitz im Tagesspiegel, glaubt aber nicht, dass sich dieses Format von Cannes oder Venedig auf Berlin übertragen lässt: "Cannes braucht einen Neben-Wettbewerb für Newcomer und weniger bekannte Regisseure, weil es im Palmen-Programm die großen, bewährten Namen des Autorenfilms präsentiert. Venedig ebenfalls, denn der Löwen-Wettbewerb ist von Oscar-Anwärtern dominiert. Die Berlinale setzt im Bären-Rennen jedoch seit einiger Zeit ohnehin auf das besondere Arthouse-Kino, auch mit unbekannteren Filmemachern."

Still aus Philbert Sharangabos Gewinnerfilm "I got my things and left"

In der SZ resümiert Juliane Liebert die Kurzfilmtage Oberhausen und überlegt, wie sich das Festival positionieren könnte in einer Zeit, in der einem permanent ein kurzes Video vor die Nase gehalten wird: "Haben Begriffe wie 'Avantgarde' oder 'experimentell' als Attribute heute noch Bedeutung? Gerade das auf den ersten Blick Abseitige am Standort Oberhausen passt zu der potenziellen Ortlosigkeit der heutigen Kurzfilmkultur. Eine Bilderplattform, die nicht nur 'Werke' zeigt, sondern auf den Prozess- und Montagecharakter des Filmemachens gerade angesichts des Bilderüberflusses verweist und damit spielt. Ein melancholisches Remixen all dessen, durch das wir mittlerweile mehr hindurchschauen. Oder eben ein besonders verdichtetes Erzählen, das die kürzere Aufmerksamkeitsspanne mit epischen Erzählmustern konfrontiert." In der FAZ widmet sich Bert Rebhandl dem Schwerpunkt, den das Festival den frühen Werken des russischen Filmemachers und "Realpolitikers" Alexander Sokurov.

Weiteres: Jan Künemund blickt in der taz auf queere Filmfestival Xposed voraus, das morgen in Berlin beginnt. Besprochen werden Sherry Hormanns Film über die ermordete Hatun Sürücü "Nur eine Frau" (FAZ, auf Zeit online unterhält sich Martin Schwickert mit der Regisseurin über ihren Film: "Das Publikum soll spüren, wer uns da durch diesen Mord verloren gegangen ist", sagt sie) und der Dokumentarfilm "Kleine Germanen" über Kinder in rechtsextremen Familien (dem David Steinitz in der SZ nicht sonderlich ergiebig findet, der aber in den entsprechenden Netzwerken schon genüsslich verteufelt wird).
Archiv: Film

Kunst



in der FR stellt Simone Dattenberger die Bremer Künstlerin Natascha Sadr Haghighian vor, die unter dem Natascha Süder Happelmann den deutschen Pavillon bei der anstehenden Biennale in Venedig bespielen wird: "Tatsächlich möchte Sadr Haghighian nicht beim Spiel 'Künstlergenie' mitmachen. Deswegen rief sie bereits im Jahr 2004 die Biografie-Tauschbörse bioswop.net ins Leben: Weg mit dem Curriculum Vitae!"

Für den Tagesspiegel schickt Nicola Kuhn erste Eindrücke von der Biennale in Venedig, die für das Publikum am Samstag eröffnet, für Kulturbetrieb und Jetset aber schon jetzt zu besichtigen ist: "Gucci, Prada, die Edelmarken drängen sich in den Sälen, werden zur Kunst ausgeführt. Die Biennale ist immer auch Laufsteg. Dem kritischen Geist der Kunst, der Leistungsshow in den nationalen Pavillons widerspricht dies nicht", versichert sie.

Besprochen werden eine Ausstellung über die Aufklärung in der islamischen Kunst in der Leipziger Baumwollspinnerei (taz), die neue Dauerausstellung im Neuen Museum Weimar (SZ) und eine Schau zur Restaurierung von Johannes Vermeers "Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster" in der Dresdner Gemäldegalerie Alte Meister (FAZ).
Archiv: Kunst

Bühne

Am Frankfurter Schauspiel rumort es, berichtet Simon Strauß in der FAZ. Intendant Anselm Weber setzt auf Auslastung und gute Ertragszahlen. Die beiden künstlerisch herausragenden Produktionen, Ulrich Rasches "Perser" und Luk Percevals "Mut und Gnade" hat er vorzeitig aus dem Programm genommen. Die Dramaturgin und Ko-Intendantin Marion Tiedtke verlässt das Haus. Hat Weber zu viel Macht oder nutzt er sie nicht?, fragt Strauß: "Wozu hat ein Intendant Macht? Jedenfalls nicht nur, um sein Haus effektiv leiten und die organisatorischen Abläufe bestimmen zu können. Sondern auch, um ästhetische Wagnisse einzugehen. Außerordentliche künstlerische Entscheidungen zu treffen. Seine Macht gibt ihm auch eine Verpflichtung: Sich für die Kunst zu verausgaben und für die Regisseurinnen und Regisseure an seinem Haus ein vertrauensvoller Förderer zu sein."

Besprochen werden Detlev Glanerts Oper "Oceane von Parceval" nach Theodor Fontane in Berlin (SZ), türkische Produktionen beim Heidelberger Stückemarkt" (SZ) und Tom Luz' Stück "Girl from the Fog Machine Factory" als Gastspiel beim Berliner Theatertreffen (Berliner Zeitung).
Archiv: Bühne

Literatur

Im Interview mit der FR hängt auch der bald 80-jährige Volker Braun dem Glauben vom bösen Westen an, der nach der Wende die Ostdeutschen um ihr Volkseigentum und ihr Leben betrogen habe: "Der Osten war für den Westen offen, doch die große Masse wurde verprellt. Das begann damit, dass sie ihr Leben in Gänze verworfen sah. Sie wurde aus den Hallen in Schöneweide oder Schönebeck herausgekehrt. Ein Kombinatsdirektor, SKET und Kraftwerksanlagenbau, sagte nach der Lesung aus den 'Hellen Haufen': Es war eine konzertierte Vernichtung. So wurden Problemzonen produziert. Das nicht geheure Volkseigentum - über das wir nicht verfügten - war aus der Welt geschafft."

Florian Gasser traf für die Zeit einen nervösen Clemens Setz, der sich in einer Krise befindet: Kann er mit seiner Literatur auf die Dauer genug Geld zum Überleben verdienen? "Reichtum bedeutet ihm nichts, aber finanziell mit dem eigenen Tun das Auslangen finden, das möchte er. 'Ich werde sicher kein Stadtschreiber, und für Stipendien bewerbe ich mich nicht. Ich habe eine Abneigung gegen diese inbrünstige Erwartung, dass der Staat einen erhalten möge', sagt er. Wenn er so spricht, wirkt er plötzlich nicht mehr wie ein feingeistiger Autor, dem zu jedem Vogelgezwitscher ein Aphorismus einfällt, sondern fast wie ein neoliberaler Agitator. Junge Künstler sollten gefördert werden, 'aber mit 45 zu sagen, der Staat oder private Stiftungen sollen das machen, weil meine Kunst so wichtig ist, das hat etwas Schädliches für die eigene Psyche', sagt er. 'Man sollte mehr Verantwortung tragen.'"

Weitere Artikel: In der Welt stellt Wieland Freund den Comiczeichner Flix vor. Paul Jandl besucht für die NZZ zwei Fontane-Ausstellungen in Neuruppin und in Potsdam. Oliver Jungen hörte für die FAZ Marcel Beyers Poetik-Vorlesung in Bonn.

Besprochen werden Norbert Zähringers Roman "Wo wir waren" (Welt), Kinderbücher über den Klimawandel (NZZ), das Vorlesebuch "Trudel Gedudel purzelt vom Zaun" (NZZ), Heinz Budes Buch über "Solidarität" (FAZ).
Archiv: Literatur

Musik

Kann Pop die Menschen noch verbinden, oder hilft er inzwischen auch nur dabei, identitäre Grüppchen zu bilden? Überhaupt, was ist aus dem Utopieversprechen des Pop geworden, fragt sich leicht verzweifelt Jens Balzer auf Zeitonline. "Während auf der 'rechten' Seite die rücksichtslose Vergröberung der Rhetorik und des individualistischen Kampfes aller gegen alle und der Stärkeren gegen die Schwächeren wütet, herrscht auf der 'linken' Seite eine unendliche Verfeinerung und Binnendifferenzierung, in welcher der richtige Gebrauch von individuell geprägten Neologismen zur Beschreibung einer bestimmten sexuellen Identität wichtiger scheint als die Feier des Nichtidentischen und wesentlicher als die Solidarität mit all jenen, denen das Nichtidentische ebenso wichtig ist wie der Kampf gegen die identitäre Verhärtung auf Seiten der Rechtspopulisten". (Der Text ist ein Auszug aus Balzers demnächst erscheinenden Buch "Pop und Populismus")

Die 79-jährige Mavis Staples dagegen glaubt noch an eine "Weltsprache des Humanismus", lernt ein entzückter Michael Pilz (Welt) aus dem neuen Album "We get by" der Soulsängerin: "Was nicht nur dort, wo der Soul erfunden wurde, vor sich geht, ist eine finstere Sozialretromanie: Alles soll, auch im Sinne des amtierenden Präsidenten, wieder weiß und schwarz, männlich und weiblich, gleich und fremd sein. Dagegen singt Mavis Staples so beharrlich, großmütterlich und bewegend an wie schon zur Amtseinführung von Barack Obama, im vergangenen Jahr mit Dolly Parton und nun in Protestliedern wie 'Anytime', 'Brothers and Sisters' und am Ende 'One More Change', der Hymne auf ein neues Zeitalter, das ebenfalls so wäre wie ein altes, aber anders. Retro gegen retro."

Hier fordert sie: Change



Weiteres: Hanspeter Künzler unterhält sich für die NZZ mit Mark Knopfler, der morgen abend in Zürich spielt. Besprochen werden die Solo-CD "Aber am Abgrund" von Koljah aus der HipHop-Band Antilopen Gang (taz) und "U.F.O.F", das neue Album von Big Thief (SZ).
Archiv: Musik