Efeu - Die Kulturrundschau

Orgelsoli - im Ernst?

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14.05.2019. Die Feuilletons blicken nach  Cannes:  Für den Tagesspiegel sind die Filmfestspiele noch immer das Weltspitzenklassentreffen des Autorenkinos.  In der SZ berichtet Leila Slimani von der mühseligen Arbeit, prosaisch über Sex zu schreiben. Die NZZ erklärt: Otello muss schwarz bleiben, sonst ist sein Schicksal nicht mehr Drama, sondern Boulevardkomödie. Standard und FAZ dröhnt das das neue Rammstein-Album in den Ohren. Die Berliner Zeitung beobachtet betroffen, wie  der den digitalen Sturm gerade Verlagsmanager zersaust.  Und natürlich trauern alle um Doris Day.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.05.2019 finden Sie hier

Film

An der Croisette beginnen heute Abend die Internationalen Filmfestspiele von Cannes. Daniel Kothenschulte freut sich in der Berliner Zeitung auf den Glitz und den Glamour. Hier könne sich das Kino, das abseits der Festivaltempel auch in Frankreich immer weniger zu lachen hat, noch einmal selber feiern: "Wenigstens hier an der Croisette sind Regie-Stars noch Könige." Was allerdings auch umgekehrt zu einem gewissen Konservatismus führen kann, wie Verena Lueken in der FAZ anmerkt: Gegenüber Streamingdiensten hält Cannes wie im Vorjahr hartnäckig den Wettbewerb dicht, in dem sich darüber hinaus auch in diesem Jahr wieder einen nicht wirklich viele Frauen tummeln, dafür aber von Almodovar über Jarmusch bis zu Tarantino viele insbesondere in Cannes altbekannte Namen. Mag sein, pflichtet Christiane Peitz im Tagesspiegel bei, ja, die "Beharrungskräfte (und die Arroganz) sind beachtlich", aber ein "Weltspitzenklassentreffen des Autorenkinos" ist Cannes eben trotzdem. In der taz berichtet Tim Caspar Boehme derweil vom Ärger um eine Ehrenpalme für Alain Delon, der "seit einigen Jahren immer wieder mit öffentlichen Wortmeldungen auffällig geworden ist, in denen er sich mal sexistisch, mal homophob äußerte oder seine Sympathien für den Front National bekundete."

Die Feuilletons trauern um Doris Day, 1922 als Kind deutscher Eltern unter dem Namen Kappelhoff geboren. Dass sie oft als Frau Saubermann verschrien und ihre Filme als prüde abklassifiziert wurden, ist ein großer Irrtum, schreibt Birgit Roschy in einem großen Nachruf auf ZeitOnline mit Blick auf Days romantische Komödien mit Rock Hudson. "Dass die vermeintlich frigide Jungfrau vom Dienst in diesen gefinkelten Scharaden die männliche Erobererrolle übernimmt, haben zumindest Zuschauerinnen schon damals kapiert. Männer sind im Doris-Day-Universum oft Störenfriede, berufliche Konkurrenten oder unzufriedene Gatten, die dem Karrieregirl mit unfairen Tricks oder mit Spott versuchen, in die Parade zu fahren. Vor allem aber sind diese als Komödien vermarkteten Genderspäße ein auch ästhetisch überzeugendes Plädoyer für Emanzipation, sprich: ein eigenes Bankkonto, und das in den vermeintlich spießigen Fünfzigern."

Welt-Kritiker Manuel Brug spiegelt in seinem Nachruf dagegen eher die Verachtung wider, die Filmkritiker und -regisseure für die "keimfreie Sauberfrau und trällernde Schlagerlieferantin", diese "bieder-patent domestizierte" Frau hegten, deren Karriere 1968 endete. Weitere Nachrufe in FAZ, SZ, NZZ, Tagesspiegel und Presse. Hier schäumt sie in "Pillow Talk" vor Wut:



Weiteres: Für das BFI sucht Patrick Gamble in Estland nach den Drehorten von Andrej Tarkowskijs "Stalker". Besprochen werden Sherry Hormanns Spielfilm "Nur eine Frau" über die Ermordung von Hatun Aynur Sürücü (Freitag), der Liebesfilm "Anything" mit John Carrol Lynch (Presse), die neue Episode der letzten "Game of Thrones"-Staffel (ZeitOnline, NZZ) und die HBO-Mini-Serie "Chernobyl" (FAZ).
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Bühne

Der Kern des Theaters ist die Repräsentation, die Darstellung eines Menschen durch einen anderen, betont Michael Stallknecht, der in der NZZ die Spielregeln der Identitätspolitik nicht auf den Bühnen gelten lassen möchte. Eine naturalistische Darstellung, bei der Weiße von Weißen und Schwarze von Schwarzen gespielt werden, kennt eigentlich nur das amerikanische Musical, und Othello muss schwarz sein, um ihn als Außenseiter zu markieren, meint er: "Dabei interessiert sich der Text von Verdis Oper gar nicht sonderlich für die Herkunft des Titelhelden, wie zu Recht konstatiert wird. Er bleibt aber zentral für die dramatische Fallhöhe. Die Oper beginnt nämlich mit einem Stück gelebter Utopie: Ein schwarzer Mann und eine weiße Frau lieben einander so innig, wie dies zwei Menschen nur tun können. Entsprechend positiv wird Otello gezeichnet. Dass er, angetrieben von Jagos Intrigen, in archaische Verhaltensmuster verfällt und die geliebte Desdemona ermordet, macht seine Tragik wie diejenige des Stoffes aus. Wo die ethnischen Unterschiede geleugnet werden, verhandelt die Oper deshalb nur noch ein allenfalls boulevardkomödientaugliches Sonderproblem unter bürgerlich Gleichen... Die Spielregeln der Identitätspolitik sind dagegen nur geeignet, den politischen Diskurs gerade auch dort zu unterbinden, wo sie vermeintlich dem Schutz des Außenseiters dienen."

Besprochen werden Peter Brooks "Prisoner" bei den Ruhrfestspielen (FAZ), Dieter Dorns Inszenierung von Feydeaus "Herzliches Beileid" in Nürnberg (SZ), Claus Guths "unheimlich einleuchtende" Inszenierung von Händels "Rodelinda" an der Oper Frankfurt (FR) und Markus Öhrns "3 Episodes of Life" im Wiener Studio Molière (Standard).
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Literatur

Im SZ-Gespräch wundert sich die französisch-marokkanische Schriftstellerin Leïla Slimani, wieviele Menschen Promiskuität für Freiheit halten. In ihrem neuen Roman "All das zu verlieren" hat sie das Porträt einer sexsüchtigen Frau verfasst - auch als Reaktion darauf, dass in der Öffentlichkeit nur das Klischee vom sexsüchtigen Mann flottiert. Über Sex zu schreiben, war eine Herausforderung, sagt sie: Es "ist ein sprachliches Problem: Man hat die obszöne Sprache der Pornografie oder die blumige Sprache des Erotizismus zur Verfügung. Sex so zu beschreiben, wie meine Protagonistin Adèle ihn erlebt, nämlich distanziert und prosaisch, war mühselig. Über Gewalt zu schreiben, finde ich dagegen aufregend, weil ich große Angst vor ihr habe. Schreiben heilt mich."

In der Berliner Zeitung kommentiert Cornelia Geißler betroffen die neueste Meldung aus der gerade heftig umtosten Verlagswelt, derzufolge Gunnar Cynybulk den Ullstein-Verlag verlässt: "Manchmal hofft ja unsereins noch, es wäre vielleicht möglich, einigermaßen unzerzaust unter dem digitalen Sturm der Veränderungen durchzuspazieren. Dass es wohl nicht geht, zeigt eben auch diese Personalie."

Weitere Artikel: Cornelia Geißler unterhält sich außerdem in der Berliner Zeitung mit Laureen Nussbaum über Anne Frank, deren Romanentwurf "Liebe Kitty" - der zuvor in Franks Tagebuch amalgamisiert wurde - nun auf Nussbaums Initiative hin als eigenständiges Werk veröffentlicht wird. Für die Welt am Sonntag hat sich Martin Scholz mit Patti Smith zum Gespräch über deren neues Buch "Hingabe" getroffen. Besprochen werden unter anderem

Martin Schneitewinds auf verdächtige Weise von Michael Köhlmeier entdeckter und von Raoul Schrott übersetzt und herausgebener Roman "An den Mauern des Paradieses", die laut SZ-Kritikerin Kristina Maidt-Zinke durchaus als eigentliche Autoren des Werks in Frage kommen, Sibylle Bergs "GRM. Brainfuck" (NZZ), Jonathan LIttells "Eine alte Geschichte - neue Version" (Berliner Zeitung), Don Winslows "Kartell" (Zeit) und Tadeusz Dąbrowskis Debüt "Eine Liebe in New York" (FAZ).
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Kunst

Carmela Thiele besucht für die taz die Ausstellung "unspeakable home, enchanting companions" im Badischen Kunstverein in Karlsruhe, die politische Kunst aus Istanbul zeigen. Dabei fällt Thiele eine leichte Verschiebung auf: "Während in den 1970er Jahren an Akademien ausgebildete Künstlerinnen politische und feministische Themen aufgriffen, nutzen heute Aktivistinnen künstlerische Mittel für ihre Botschaften." Als gute Nachricht wertet Kertin Holm in der FAZ, dass der Gas-Oligarch Leonid Mikhelson in Moskau, direkt gegenüber dem Kreml, ein neues Mega-Kulturzentrum errichten lässt, das Kunstlabor, Ausstellungsplattform und Konzertbühne zugleich sein soll, innovativ und exklusiv. Raffaela Angstmann porträtiert in der NZZ den Fotografen Daniel Meuli, der die Slow Photography ins Engadin gebracht hat.

Philipp Meier wütet zudem in der NZZ weiter gegen den Schweizer Künstler Christoph Büchel, der ein Flüchtlingsschiff vor der Biennale aufbocken ließ und erklärt kurzerhand: "Provokation ist keine Kunst." FR-Kritikerin Simone Dattenberger sieht dagegen in der Barca Nostra das Wahrzeichen der Biennale und empfihelt unbedingt die Schau im Arsenal vor jedem Besuch der Giardini.

Besprochen werden die "exquisiten" Jubiläumsausstellung "Drawing the Future" in Turin, die einige von Leonardo da Vincis eindringlichsten Zeichnungen zeigt (Tsp), die performativen Installationen in der Galerie Nord, in denen das Künstlerpaar Elisa Luca und Robin Detje den Berliner Stadtteil Moabit porträtiert (taz).
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Design

Auf ZeitOnline schildert Jan Maruhn Probleme und Herausforderungen beim Sammeln von Bauhaus-Möbeln. Eines davon: Original-Möbel aus den Zwanzigern und Dreißigern sind zumindest auf dem Markt nur noch an wenigen Orten in niedriger Stückzahl auffindbar, auch weil viele Entwürfe gar nicht erst in Serienproduktion gingen. Und: "Die Datierung ist, wie bei fast allen Möbeln von Bauhäuslern, schwer nachweisbar. 'Kaum jemand kennt sich wirklich aus', sagt der Berliner Torsten Bröhan, Pionier und exzellenter Kenner auf dem Gebiet. ... Hinzu kommt: Da die Werke der Weimarer Zeit experimentell in der Holzwerkstatt entwickelt wurden, gibt es keinen Prototyp, kein 'Original'. Die Lehrer und Studenten probierten erst einmal aus, was überhaupt geht."
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Stichwörter: Bauhaus, Möbeldesign, Möbel

Musik

Am Freitag erscheint das neue Album von Rammstein - ein Fest für das Feuilleton, zumal die Band mit ihrem ersten Video dazu vor einigen Wochen sofort Debattendominanz erlangte (unsere Resümees hier und dort). "Rammstein gilt als die am schrecklichsten missverstandene deutsche Band", erklärt Karl Fluch im österreichischen Standard, dem vor allem die erste Hälfte des Albums durchaus mundet. Doch zeigt sich im Laufe auch, "dass Rammstein ohne ihre Videos und ohne ihren live aufgeführten Kirtag bloß Meterware im Fach des gebackenen Hardrock spielen. Orgelsoli - im Ernst? Ungeachtet aller Einwände gegen diese aufgeblähten Schlichtheiten wird das Album traditionell ein Erfolg werden." Etwas matt berichtet auch Tobias Rüther in der FAZ, dem es ein Rätsel ist, dass Rammsteins Provokationspotenzial noch immer so verfängt: Schließlich ist die Band "ihr eigener Gewöhnungseffekt geworden" und "die Theorie, dass Rammstein und ihr Spiel mit Aufmarsch- und Leni-Riefenstahl-Ikonographien irgendwie gut sein könnten für das Land, weil es in solchen Provokationen ungeklärten Affekten begegnen könnte, glaubt man einfach nicht. Vielmehr sieht man einer Band seit fünfundzwanzig Jahren dabei zu, wie die mit ihren Affekten ringt."

Michael Pilz geht in der Welt fest davon aus, dass es sich wohl um das letzte Album der Band handeln dürfte, und bespricht gleich die ganze Band im Nachruf-Modus als ein Projekt, das aus dem Ost-Punk hervorging, den Lufthauch der Anarchie der Wende schnupperte und dann nach der Wiedervereinigung Fragen deutscher Identität aufsog: "Kein Wir bleibt übrig. Weder das der anderen, das fremde, das die Rechten ethnopluralistisch nennen, noch das nationalneurotisch eigene. Identität ist individuell, das Kollektiv ist ein Konstrukt, vom Wir zurück zum Ich. Vom Flächenbrand zum Zündholz." Vor kurzem erschien das Rammstein-Video "Radio":



Weiteres: Im großen Quietus-Gespräch blickt der Avantgarde-Gitarrist Caspar Brötzmann anlässlich der Wiederveröffentlichung seiner LPs auf seine Karriere zurück. Für den Standard spricht Marco Schreuder mit österreichischen ESC-Kandidatin Pænda. Mario Lackner geißelt derweil im Standard die mangelnden Ambitionen zahlreicher teilnehmender Parteien am Eurovision Song Contest. Für die Berliner Zeitung war Markus Schneider beim Berliner XJazz-Festival. Hannes Soltau erinnert sich im Tagesspiegel an die ersten, unbeschwerten Jahrgänge des Fusion-Festivals.

Besprochen werden Vivian Goldmanns auf Englisch erschienenes Buch "Revenge of the She-Punks" (Jungle World), das neue Album der japanischen Rock'n'Roll-Band Guitar Wolf (Pitchfork), Craig Leons "The Canon: Anthology of Interplanetary Folk Music Vol. 2" (The Quietus) und neue Klassikveröffentlichungen, darunter eine Schubert-Aufnahme der Pianistin Pi-hsien Chen (SZ).
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