Efeu - Die Kulturrundschau

Eros lebt in Brooklyn

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.05.2019. Die NZZ sucht nach dem Geheimnis der Spiegel und stößt auf den leeren Blick eines Buddhas. Die New York Review of Books feiert die schönen Knaben des Louis Fratino. SZ und nachtkritik stellen zwei neue Theaterleiter vor: Thorleifur Örn Arnarsson (Volksbühne) und Julia Wissert (Theater Dortmund). In der SZ geißelt der Geiger Frank Peter Zimmermann die miesen Geschäftspraktiken im Klassik-Betrieb. Und: Die Feuilletons verabschieden sich von der Kinderbuchautorin Judith Kerr.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.05.2019 finden Sie hier

Design

Nadia Mounier, The Barber Shop, 2015 © Nadia Mounier


Was ist ein Spiegel? Und warum verhüllt man ihn manchmal? Auf der Suche nach Antworten huscht Philip Meier für die NZZ durch die dunklen Ausstellungsräume des Schweizer Museums Rietberg, um Kazu Hugglers Installation zu finden, die hier im Rahmen einer Ausstellung zur Kulturgeschichte des Spiegels gezeigt wird: "Vor Kazu Hugglers Inszenierung einer weiß gewandeten Lichtgestalt aber kommen wir schon fast wieder zur Ruhe. Eine leuchtende Aureole aus strahlenkranzartig gefaltetem Sonnenplissee umrahmt das dahinter verborgene Haupt. Denn wir haben es hier mit einer shintoistischen Gottheit zu tun. Betritt man in Japan ein Heiligtum, wandert der nach Halt suchende Blick schnell zum Altar. Und finden wir dort das Antlitz Buddhas, wissen wir, dass wir uns in einem Tempel befinden. Ist dies aber nicht der Fall, stehen wir in einem shintoistischen Schrein. Kein Blick ruht dann auf uns. Wir treten vor eine Leerstelle. Nur ein Spiegel soll irgendwo im Inneren des Schreins verborgen sein. Und so ergeht es uns auch vor Kazus Kunstinstallation."

Weiteres: Auf Hyperallergic schreibt Susanne Guder über Frédéric Tchengs Dokumentarfilm "Halston", mit Tavi Gevinson als Archivarin/Erzählerin, die in einer Rahmenerzählung über Archivmaterial des amerikanischen Designers stolpert.
Archiv: Design

Film

Gesellschaftsposse zwischen Arm und Reich: Bong Joon-hos "Parasite"

Mit "Parasite" meldet sich der koreanische Regisseur Bong Joon-ho mit einer "bösen Gesellschaftsfarce" in Cannes zurück, schreibt Tim Caspar Boehme in der taz, der den Film über eine Familie, bei der ziemlich viel aus dem Ruder läuft, vor allem Freunden härterer Gangarten im Kino empfiehlt: "Was wie eine rasante Screwball-Comedy beginnt, in der die Verstellung ihrer Protagonisten als serielles Prinzip durchgespielt wird, nimmt irgendwann eine sehr düstere Wendung. Drastische Gewalt gehört bei koreanischen Filmen eben gern dazu. Die Unbarmherzigkeit, mit der Bong Joon-ho auch in diesen Teilen der Handlung zu Werke geht, sorgt in Kombination mit einem wunderbar pointierten Drehbuch dafür, dass 'Parasite' seine Spannung bis zum Ende auf Starkstrom hält."

Bong hat einiges über gesellschaftliche Spaltungsprozesse in seiner Heimat zu erzählen, erklärt Philipp Schwarz auf critic.de: "In einem makellos durcharrangierten Designerhaus stehen einander schließlich zwei Familien gegenüber, von der die eine nichts von dem verwandtschaftlichen Zusammenhang der anderen weiß. 'Parasite' inszeniert diese Verzahnung von Arm und Reich, von Oben und Unten als eine präzise Gesellschaftsposse, die von einem ständigen Wechsel der Rhythmen und Register geprägt ist, in der die Figuren auf groteske Art in den immergleichen Verhaltensmustern gefangen bleiben".

Erst quirlig, dann elegisch: Xavier Dolans "Matthias & Maxime"

Als Wunderkind des Autorenfilms kann sich Xavier Dolan, mittlerweile 30 geworden, auch nicht mehr in Szene setzen. Nach sechs gefeierten und einem gefloppten Film stellt sein neuer, in Cannes gezeigter Film "Matthias & Maxime" eine Rückkehr zur alten Form dar, freut sich Joachim Kurz auf kino-zeit.de. Beeindruckend findet Frédeŕic Jaeger auf critic.de, wie Dolans Film sich in einer Szene völlig frei macht vom Rest des Geschehens: "Der Größenwahn tut gut." Und überhaupt hofft er, "das Werk von Xavier Dolan könnte für mich bald zu einem einzigen Stream of Consciousness werden. So unterschiedlich die Filme auch sind: Wie aufgeregt er inszeniert, das sorgt für eine innige Kommunikation zwischen ihnen. Wie die Menschen ineinander verschachtelt werden, die Kamera sie nervös und souverän zusammenbringt, die Dialoge sie entzweien, die Settings sie voneinander absetzen. Wie die Musik gegen den Fortlauf der Zeit ankämpft und gegen den normalen Gang der Dinge. Wie das Schauspiel in jedem Moment alles überstrahlen kann, den Film elektrisiert, ins Publikum hineinreicht und mich nicht mehr weggucken lässt."

Weiteres aus Cannes: Pedro Almodóvar und Isabelle Huppert zeigen sich in ihren Cannes-Filmen von bemerkenswert verletzlicher Seite, stellt Frédéric Jaeger auf SpOn fest. Till Kadritzke verliert auf critic.de harte Worte über Arnaud Desplechins "Oh Mercy": "Ein rätselhafter Film, vielleicht smart in seiner Ungreifbarkeit, vielleicht aber auch einfach feige." Und im Perlentaucher legt Lutz Meier seine abschließenden Impressionen aus Cannes vor: "Im Hype um Quentin Tarantinos neuen Film 'Once Upon a Time in Hollywood', der sich dann nicht mal als nichts erweist, erweist sich das Festival von Cannes als schöne Lüge. Eine Option aber ist er nicht mehr."

Aus der Filmwelt jenseits der Croisette: Anke Sterneborg hat für ZeitOnline Keanu Reeves getroffen, der gerade mit seinem neuen Actionfilm "John Wick 3" in den Kinos zu sehen ist Für den Freitag sichtet Hannah Schlüter neue Reise-Dokus. Alexander Menden gratuliert dem Schauspieler Ian McKellen in der SZ zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden Bertrand Mandicos "The Wild Boys" (critic.de, Artechock, mehr dazu bereits hier), die Doku "Sunset over Hollywood" über Rentner aus der Filmindustrie (Tagesspiegel, Dlf Kultur, Welt, SpOn), Edward Bergers "All my Loving" (Tagesspiegel, Artechock, FAZ), Guy Ritchies "Aladdin" mit Will Smith als Dschinn (Filmbulletin, Presse), Hafstein Gunnar Sigurdssons "Under the Tree" (Standard) und die neue Serienadaption von Umberto Ecos "Der Name der Rose" (Presse, FAZ).
Archiv: Film

Bühne

Zwei neue Theaterleiter hat das Land. In der SZ stellt Till Briegleb den Isländer Thorleifur Örn Arnarsson vor, der im Herbst zunächst für zwei Jahre als Schauspieldirektor an die Berliner Volksbühne kommt: "Diese Sternschnuppe will auf ihrer Kreisbahn sogar drei Universen verbinden. Und hat dafür große Vorbilder. 'Frank Castorf und ich sind ästhetisch völlig unterschiedlich', sagt Arnarsson in Hinblick auf die drohenden Vergleiche, wenn er als neuer künstlerischer Leiter im September mit einer 'Odyssee' die Volksbühne eröffnet. 'Aber wir finden uns beide wieder in einem collagehaften Denken, das die Welt als eine Mischung aus Politik, Ökonomie und Märchen betrachtet.' Und für die es eben auch mal sechs Stunden braucht, möchte man hinzufügen."

Julia Wissert, designierte neue Dortmunder Schauspielintendantin, erklärt im Interview mit der nachtkritik, wie sie sich ihre Arbeit in Dortmund vorstellt: "Ich höre viele Menschen darüber sprechen und klagen, was alles nicht funktioniert, wie unsere Gesellschaft auseinanderbricht, wie wir nicht mehr miteinander leben können. Doch es fehlt der Gegenentwurf. Deshalb ist die Frage der ersten Spielzeit: Wie wollen wir leben? Was ist ein gutes Leben? Wie können wir Verschiedenheiten aushalten? Und wie können wir im Theater Räume schaffen, die während der Kunstproduktion den Fokus nicht mehr ausschließlich auf das künstlerische Endprodukt richten, sondern gleichzeitig auf den Entstehungsprozess - als modellhaften Prozess auch für gesellschaftliche Prozesse."

Weiteres: Um Partizipation aller Bürger geht es auch beim 4. Europäischen Bürgerbühnen Festival am Staatsschauspiel Dresden, von dem Nikolaus Merck in der nachtkritik berichtet. Sabine Leucht besucht für die SZ das Münchner Festival Dance. Besprochen werden Milo Raus "Orest in Mossul" am Bochumer Schauspielhaus (taz) und Sergej Prokofjews "Die Liebe zu den drei Orangen" im Nationaltheater an der Moldau in Prag (nmz).
Archiv: Bühne

Literatur

Trauer um Judith Kerr (Bild: Christoph Rieger, CC BY-SA 4.0)

Die Feuilletons verabschieden sich von der Kinderbuchautorin und Illustratorin Judith Kerr, die im Alter von 95 Jahren gestorben ist. Die Tochter des Theaterkritikers und Schriftstellers Alfred Kerr floh mit ihrer Familie vor den Nazis nach Großbritannien - eine Erfahrung, die sie in ihrem Klassiker "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl" verarbeitete. "Für die, die das Buch vielleicht Ende der 70er-Jahre und vielleicht als Kinder gelesen haben - in jeder Hinsicht im richtigen Moment -, dürfte sich das Leben seither in die Zeit teilen, bevor sie 'Als Hitler das rosa Kaninchen stahl' kannten, und in die Zeit danach", schreibt Judith von Sternburg in der Berliner Zeitung. "Das ist keine Übertreibung. Viel hatten diese Kinder da vermutlich schon über die Bombennächte gehört, aber von der Emigration wussten sie so gut wie nichts."

In Großbritannien wurde sie rasch heimisch, erzählt Lothar Müller im SZ-Nachruf: "Die englische Literatur ist reich an großartigen Kinderbüchern und reich an großen Zeichnern, die sie illustriert haben. Judith Kerr wurde in England berühmt, weil sie beides zugleich war, und auch in den Bilderbüchern, mit denen sie rasch großen Erfolg hatte, spielen immer wieder Tiere die Hauptrollen, schon vor dem rosa Kaninchen und der Romantrilogie über die Flucht, die Ankunft im Exil und die Kriegsjahre." In Großbritannien kennt man sie unterdessen vor allem wegen des Buchs, mit der ihr 1968 der Durchbruch gelang: "Ein Tiger kommt zum Tee" - "vielleicht eine zutiefst englische Geschichte, ganz bestimmt eine ganz typische Geschichte für Judith Kerr", schreibt Wieland Freund in der Welt, "handelt sie doch - erstens - von der Unberechenbarkeit des Lebens und zweitens davon, wie man das Beste daraus macht." Weitere Nachrufe schreiben Tagesspiegel, SpOn, taz, Presse, Standard, FAZ und ZeitOnline. Dlf Kultur hat ein großes Gespräch mit der Autorin aus dem Jahr 2017 wieder online gestellt.

Außerdem: Im Tagesspiegel verabschiedet sich Lars von Törne vom Verleger David Basler, der nach 40 Jahren die Führung des Comicverlags Edition Moderne abgibt. Für die taz spricht Julika Kott mit dem Autor Juan S. Guse über dessen Roman "Miami Punk".  Besprochen werden unter anderem eine Neuausgabe von Longos' "Daphnis und Chloe" (NZZ), eine Ausstellung über Comic und Journalismus im Museum für Kommunikation in Berlin (taz), eine Manga-Ausstellung im British Museum in London (Dlf Kultur), Josefine Klougarts "Einer von uns schläft" (Tagesspiegel) und Doris Knechts "weg" (SZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
Archiv: Literatur

Kunst

Louis Fratino. Bild aus seiner Ausstellung "Come softly to me" in der Galerie Sikkema Jenkins & Co. in New York


Christopher Alessandrini schwebt förmlich, als er aus einer Ausstellung des Malers Louis Fratino kommt, die in der New Yorker Galerie Sikkema Jenkins & Co. gezeigt wird. "Eros lives in Brooklyn", verkündet er in der New York Review of Books, "in a two-bedroom walk-up off the Grand Street L, probably with roommates. You might have seen him dancing past midnight at Metropolitan on Lorimer Street, or walking his dog under the Manhattan Bridge. Maybe you've exchanged messages on Grindr; met at a friend's birthday drinks; made eyes on the subway, in the locker room, during a poetry reading. Elusive, mysterious, overbooked, uncomfortably attractive-the type of boy in Louis Fratino's paintings seems both ordinary and timeless, fellow subway passenger and saint, superficially of the moment but rooted, also, in a deeper, stranger classicism."

Weiteres: Im Standard annonciert Stefan Weiss fürs Wochenende die Eröffnung eines Museumsneubaus in Krems. Besprochen wird die Ausstellung "Chinas alte Seidenstraße - ein Kaleidoskop" im KunstHaus Potsdam (taz).
Archiv: Kunst

Musik

Sehr harsch äußert sich der Geiger Frank Peter Zimmermann im SZ-Gespräch über die Geschäftspraktiken der großen Labels im Klassikbereich: Er selbst begreife Aufnahmen in erster Linie als Dokument künstlerischer Arbeit, für die Labels hingegen seien CDs lediglich Werbematerialien für Tourneen und Tourneen Werbematerialien für CDs. Zu leiden haben darunter die Künstler, die umso interessanter werden, je eher sie sich auf crossmediale Promotions einlassen: "Den Stars küsst man nach wie vor die Hand, wenn sie gleichzeitig bereit sind, für Rolex Werbung zu machen", doch "wenn junge Musiker heute zum Beispiel Wettbewerbe gewinnen, beginnt für sie oft ein Teufelspakt.... Eine Firma bietet an, dass junge Künstler von ihren Konzertgagen zehn bis dreißig Prozent an sie zahlen müssen. Sie argumentiert, die Konzerte seien nur durch den Werbeeffekt der entsprechenden Platte zustande gekommen. Man verkauft also seine Konzerte im Voraus, nimmt quasi einen Kredit bei der Plattenfirma auf." Früher leisteten Labels noch Aufbauarbeit, heute aber "wird man über fünf bis zehn Jahre ausgelutscht, notfalls mit dreihundert Konzerten im Jahr und entsprechend vielen Interviewterminen drumherum. Deshalb geht es auch mit großen Stars inzwischen oft relativ schnell wieder zu Ende."

Weitere Artikel: Eoin Murray wirft für The Quietus einen Blick in die Undergroundszene Irlands. Besprochen werden Flying Lotus' neues Album "Flamagra" (Pitchfork), die Compilation "Nigeria 70. No Wahala: Highlife, Afro-Funk & JuJu 1973-1987" (Skug), das neue Album der Band Soft Grid (Tagesspiegel), das neue Rammstein-Album (NZZ, mehr dazu hier und dort) und das neue Album von Jay-Jay Johnson, vor dessen Schmelz Presse-Kritiker Samir H. Köck begeistert auf die Knie geht. Ein aktuelles Video:

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