Efeu - Die Kulturrundschau

Das auf Anhieb überzeugend Neue

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.06.2019. Im Tagesspiegel klopft Hans Kollhoffs Verteidigung zu seinem Walter-Benjamin-Platz auf eventuelle Löcher ab. Die taz lernt in Nordthailand, an der Kleidung den Wellenschlag des Mekong abzulesen. In der NZZ baut Nell Zink auf poetische Genauigkeit. Die SZ schwingt sich mit Stockhausen und dem Pelargos-Quartett in musikalische Helikopter-Höhen. Und die Welt stellt klar, dass Hollywood zwar in Sachen Abtreibung stets liberal dachte, aber nicht unbedingt bei der Selbstbestimmung von Frauen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.06.2019 finden Sie hier

Design

Nachtbasar von Chiang Mai, Foto: Adbar / Wikipedia unter CC-Lizenz


Natalia Bronny hat für die taz die nordthailändische Stadt Chiang Mai besucht, in der sich immer mehr auf Nachhaltigkeit setzende Modemacher und Kleidungshersteller finden. Neben einer ökologisch sorglosen Konsumkultur gebe es in Thailand schließlich auch "von Generation zu Generation vererbtes handwerkliches Wissen um Ressourcen und deren natürliche Verarbeitung, verankert in mannigfaltigen lokalen Kulturen. ... Vor gut 300 Jahren mehrheitlich aus China nach Thailand migriert, drücken diese der Natur verbundenen Gruppen ihre Identitäten durch eigene Sprachen, Feste und Bräuche aus - und eben durch Textilien. Für Hmong etwa, deren Sprache kein Schriftbild kennt, sind diese quasi als Medien derart zentral, dass der Brauch zu jedem Neujahrsfest im März neue Kleidung verlangt. Sie werden aus robusten, Kälte trotzenden Stoffen gefertigt, denn auch in Nordthailand kann es zu winterlichen Temperaturen kommen. Mit leuchtendem Blau und Grün, Pink, Lila und Orange werden Motive aus Flora und Fauna eingewoben. Vier um ihre Spitzen zu einem Quadrat arrangierte Dreiecke stehen für Berge, zickzackende Rauten für den Wellenschlag des Mekong." Eines der thailändischen Modelabels ist etwa Krit.Boutique, das auf Facebook Einblicke in seine Arbeit gestattet.

Außerdem in der taz: Brigitte Werneburgs Besprechung von Carolin Ermers Buch "Modedesign neu denken. Nachhaltigkeit in einer kreativen Disziplin".
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Architektur

Im Tagesspiegel greift Peter von Becker die Kontroverse um Hans Kollhoffs Walter-Benjamin-Platz auf, in den der Architekt ein Zitat des Dichters und Mussolini-Verehrers Ezra Pound eingelassen hat (unser Resümee). Um Mäßigung bemüht, aber am Ende ein bisschen ratlos, lässt er den attackierten Architekten zu Wort kommen: "Kollhoff sagt freilich: 'Der Vorwurf des Antisemitismus angesichts des Zitats aus Pounds 'Cantos' ist unsinnig und völlig inakzeptabel.' Er hält den neuen Vorschlag, Pound zumindest mit einem Zitat von Benjamin zu kontrastieren, zwar für interessant, aber es erschiene ihm 'als Relativierung oder Korrektiv, und dazu gibt es keinen Grund'. Kollhoff beharrt: 'Pound war kein Antisemit', weil er wenige Jahre vor seinem Tod im Gespräch mit dem (jüdischen) Dichter Allen Ginsberg seinen Antisemitismus den 'schwersten Fehler meines Lebens' genannt hatte. Also war Pound Mitte der 1930er Jahre, als er auch den Canto über 'Usura' schrieb, eben doch ein Antisemit? Im Normalfall, lautet die Antwort: ja. Andererseits war der zwischen Genie und Wahnsinn oszilliierende Dichter nicht der Normalfall, sondern ein Mann der Masken." Hoffentlich ist die Statik von Kollhoffs Gebäuden nicht so wackelig wie seine Argumentation!

Im Vitra Design Museum in Weil am Rhein besucht Jeanette Kunsmann für die FAZ die bereits mehrfach besprochene Ausstellung des indischen Architekten Balkrishna Doshi, der Erdverbundenheit mit Anmut kombiniere: "Balkrishna Doshi denkt anders als viele seiner Kollegen. Er baut keine Häuser, sondern ein Zuhause."
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Bühne

Aus "LICHT": Luzifers Tanz. Photo Michel Schnater 

Das Holland-Festival in Amsterdam zeigt im Rahmen einer dreitägigen Megashow Karlheinz Stockhausens legendären Musikzyklus "Licht", oder in dem fünfzehnstündigen Auszug "aus Licht" zumindest die Hälfte des sieben Tage umfassenden Werks. Selbst für das Helikopter-Quartett haben sich die Streicherinnen des Pelargos-Quartetts in die Höhe schwingen lassen. SZ-Kritiker Reinhard Brembeck ringt nach Luft bei dem Spektakel, das Superlative und Firlefanz vereint: "Der tief religiöse Stockhausen, der täglich betete, war in seiner Begeisterungsfähigkeit so maßlos und naiv wie ein Kind. Jedes Phänomen, Helikopter wie Klangschalen, Esoterik, Zimbeln, Abzählreime, einfach alles brachte er in seinem 'Licht'-Kosmos unter, Irdisches befremdete ihn genauso wenig wie Metaphysisches. Dieser Synkretismus wird ihm gern vorgeworfen. Dabei inspirierte ihn der zu seinen beständigen Grenzüberschreitungen. Stockhausen ist kein destruktiver Zerstörer, sondern ein konstruktiver Weiterdenker des Vorhandenen. Nie schreibt er Oper wie gewohnt, oder wie es viele seiner Kollegen bis heute tun. Immer geht der stets Neugierige nicht nur ein, zwei oder drei Schritte übers Bekannte hinaus, sondern immer gleich meilenweit. Und dort, im Unbekannten, findet und erschafft er dann häufig das auf Anhieb überzeugend Neue."

Weiteres: Der Standard meldet, dass der Schauspieler Joachim Meyerhoff von der Wiener Burg an die Berliner Volksbühne kommt.

Besprochen werden Karol Szymanowskis Oper "Król Roger" unter Sylvain Cambreling und Johannes Erath an der Oper Frankfurt (FR, FAZRobert Wilsons "Mary Said What She Said" mit Isabell Huppert bei den Wiener Festwochen (taz, Welt), Stefan Puchers Inszenierung von Wedekinds "Lulu" an der Berliner Volksbühne (die SZ-Kritiker bei allem bemühten Antisexismus reichlich zäh fand), Richard Strauss' "Frau ohne Schatten" mit Christian Thielemann an der Wiener Staatsoper ("musikalisch beispielhaft" findet Christian Wildhagen in der NZZ), Barrie Koskys Inszenierung von Debussys "Pelléas und Mélisande" am Nationaltheater Mannheim (FR), Jules Massenets "Manon" an der Wiener Staatsoper (Standard), Jacques Offenbachs "Orpheus" an der Wiener Volksoper (Standard) und Verdis "Rigoletto" an der Berliner Staatsoper, der in Kooperation mit der New Yorker Met und deshalb nicht als Theater, sondern als "Arrangement von singenden Personen" produziert wurde (taz)
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Kunst

In der taz berichtet Juliane Streich von den Turbulenzen, die der Verein der Leipziger Jahresausstellung mit seiner Einladung für den AfD-nahen Künstler Axel Krause ausgelöst hat: "Es ging tatsächlich sehr schnell. Am Freitag reagierten die Veranstalter auf die Proteste und luden Krause wieder aus, da seine öffentlichen Äußerungen den 'ethischen Grundsätzen unseres Vereins' widersprächen: 'Politische Neutralität erweist sich in diesen Zeiten als unmöglich. Der Verein bekennt sich zur Freiheit der Kunst.' Ein Tag später dann die Absage der ganzen Ausstellung."

Weiteres: Philipp Meier erkundet in der NZZ mit Jean-Luc Nancy und am Beispiel eines japanischen Tontopfes von Daikichi, was Kunst ist. Besprochen werden die große Baselitz-Richter-Polke-Kiefer-Schau in der Staatsgalerie Stuttgart (SZ) und eine Ausstellung von Franz Marcs Skizzenbüchern im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg (FAZ).
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Literatur

Roman Bucheli schreibt in der NZZ über die Bücher der viel gelobten Nell Zink, die gerade bei den Solothurner Literaturtagen aufgetreten ist. "Man brauche nicht viele Einzelheiten, sagt Nell Zink, um sich das Universum eines Romans aus dem Gedächtnis zu erschaffen. Nicht die Menge des Wissens mache den Unterschied, sondern die Bildkraft der Erinnerung. Diese Gedächtnisspur sei die Voraussetzung gewesen für die Plausibilität des Erzählten. ... Darin liegt wohl das dringlichste Anliegen und die aufwühlendste Kraft der Literatur: mit der poetischen Genauigkeit auch eine Glaubwürdigkeit und Gültigkeit des Erzählten jenseits der historischen Fakten herzustellen."

Für manche Demokraten in den USA ist Alexandria Ocasio-Cortez als linker Polit-Shooting-Star ohnehin schon eine Superheldin - seit Mitte Mai ist sie das auch für den Rest der Öffentlichkeit in Form eines von zahlreichen Autorinnen und Autoren gestalteten Superheldinnen-Comics, schreibt Marc Neumann in der NZZ, der das Heft bereits gelesen hat. "Das ist alles ansehnlich und vergnüglich, hatte aber kaum das Zeug zum Blockbuster - bis zu einer überraschenden Abmahnung. Denn für das Titelblatt einer auf 250 Exemplare limitierten Sonderausgabe hatte die Künstlerin Carla Cohen Ocasio-Cortez unverwechselbar als Wonder Woman gemalt. ... Unmissverständlich forderte DC Comics einen Verkaufsstopp und das Einstampfen der Sonderausgabe. Fox News bekam Wind von der Story und hob sie ins nationale Bewusstsein." Das nennt man bekanntlich einen Streisand-Effekt.

Weitere Artikel: Liao Yiwu hat sein 1989 in der Nacht vor dem Massaker auf dem Tiananmen-Platz verfasstes und anschließend per Tonbandkassette vertriebenes Langgedicht "Massaker" in Murnau rezitiert, berichtet Sabine Reithmaier in der SZ.  In der Welt referiert Matthias Heine die Ursprungsgeschichte des Schimpfworts "Honk". Besprochen werden Alina Bronskys "Der Zopf meiner Großmutter" (Tagesspiegel), diverse neue Comics, darunter die Gesamtausgabe von Jason Lutes' "Berlin" (The Quietus), Thomas Stangls "Die Geschichte des Körpers" (NZZ) und Siri Hustvedts "Damals" (FAZ).
Archiv: Literatur

Film

Mit seinem geplanten neuen, aberwitzig verschärften Anti-Abtreibungsgesetz HB481 schießt sich der US-Bundesstaat Georgia gerade gehörig ins eigene Bein. Der Bundesstaat zählt mit zu den wichtigsten Drehorten für die US-Film- und Fernsehindustrie, deren Big Player gerade einer nach dem anderen ankündigen, ihre Produktionen verlagern, berichtet Hanns-Georg Rodek in der Welt. Einerseits ist das löblich und typisch für das seit den Siebzigern sehr liberale Hollywood, andererseits findet Rodek, dass Hollywoods "eigene Geschichte in Sachen Abtreibung kein Ruhmesblatt ist. Generell galt das Axiom, dass sich die Rollen des Glamour-Stars und einer Mutter mit Kindern nicht vereinbaren ließen. Leinwandgöttinnen werden nicht schwanger, nicht einmal im Zuge einer unbefleckten Empfängnis; Kinder waren unerwünscht, und so gibt es Legionen von Geschichten von Stars, die in einer vom Studio gemieteten Krankenhaus-Suite abtreiben ließen, von Jean Harlow über Lana Turner und Bette Davis bis zu Joan Crawford."

Weitere Artikel: In The Quietus spricht die Filmemacherin Jeanie Finlay über ihre Arbeit am Making-Of der letzten Staffel von "Game of Thrones". Besprochen werden Radu Judes "Mir ist es egal, wenn wir als Barbaren in die Geschichte eingehen" (Tagesspiegel, unsere Kritik hier), Olivier Assayas' "Zwischen den Zeilen" mit Juliette Binoche (Presse), Hans Karl Breslauers von Arte online gestellter Stummfilm "Stadt ohne Juden" aus dem Jahr 1924 (FAZ), die Netflix-Serie "How to sell Drugs online (fast)" (Presse) und eine Arte-Doku über Liu Xiaobo (FAZ).
Archiv: Film

Musik

Üblicherweise machen die Weilheimer Acher-Brüder mit smartem, von ausgetüftelter Electronica unterlegtem Indie-Pop (The Notwist), ebenfalls elektronisch grundierten Jazz-Experimenten (Tied & Tickled Trio) und ähnlichen Klang-Expeditionen von sich reden. Noch relativ neu im Portfolio des stetig wachsenden Weilheimer Musikuniversums ist die Hochzeitskapelle, für die sich Markus und Michael Acher gemeinsam mit einigen Gefährtinnen und Gefährten im Instrumentenfundus der Blasmusik bedienen, erklärt Andreas Schäfler in der taz. Geschunkelt und geschuhplattlert wird dennoch nicht, verschrieben hat man sich dem verschrobenen Eigensinn: Die mancherorts zu lesende Bezeichnung "Rumpeljazz" könne man schon gelten lassen, "wenn man Jazz beim Wort nimmt, wie es ursprünglich mal gemeint war: Als Synonym für Speed, also für Tempo, Tumult und anderes Teufelszeug. Aber Jazz ohne jeden Virtuosenstress, die Hochzeitskapelle mag es ganz gern gemächlich und schwelgt in behaglichen Refrains. Bayerisch ist hier allenfalls die gelassene Haltung, mit der das reiselustige Repertoire gespielt wird: leicht untertourig, betont obergärig, gekonnt austariert. Hier sind keine wirklich alten, aber durchaus erfahrene Hasen am Werk und nicht etwa Zirkuspferde." Das aktuelle Album steht auf YoutubeMusic:



Weitere Artikel: Für den Standard blättert sich Karl Fluch durch Nick Caves Onlinejournal Red Hand Files, in dem der Musiker Fragen seiner Fans beantwortet, für den Kritiker "in ihrer Art ein Gegengift zum schnellen Gekeife der sozialen Medien."

Besprochen werden Denzel Currys Album "Zuu" (Pitchfork), ein Konzert von The Good, the Bad & The Queen (eine "perfekt eingespielte Musikmaschine", schreibt Jörg Wunder im Tagesspiegel), neue Klassikveröffentlichungen, darunter eine Berlioz-Aufnahme (die Wiener Symphoniker unter Philippe Jordan "beeindruckend flexibel, wenn es darum geht, all die instrumentalen Farben und Stimmungen dieser exzentrisch-genialen Programmmusik zu zelebrieren", schreibt Ljubisa Tosic im Standard) und neue Wiederveröffentlichungen, darunter das Album "Stairsteps" der Five Stairsteps (SZ). Wir hören rein:

Archiv: Musik