Efeu - Die Kulturrundschau

Das kratzt schon kräftig am Tabu

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11.06.2019. In der Berliner Zeitung findet die Schriftstellerin Elif Shafak auf dem Istanbuler Friedhof der Geächteten Geschichte und Gegenwart der türkischen Gesellschaft. Auch ganz ohne Frauenquote setzten sich Frauen bei den Autorentheatertagen durch, freut sich die SZ. Die Welt wird nicht besser, nur weil drei Frauen drei Stücke von drei Frauen auswählen, giftet die FAZ. Theater ist ohnehin nicht mehr das, was es einmal war, seufzt Autorenverleger Karlheinz Braun in der Nachtkritik. Die taz blickt mit dem nüchternen Blick des Franco Zecchin auf die Brutalität des Mafiakrieges in Palermo.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.06.2019 finden Sie hier

Bühne

"Zu unseren Füßen, das Gold, aus dem Boden verschwunden." Foto: Arno Declair

Auch ganz ohne Frauenquote haben es mit Svealena Kutschke, Eleonore Khuen-Belasi und Lisa Danulat drei Frauen bei den Autorentheatertagen am Deutschen Theater in die Endauswahl geschafft - und dann auch noch ohne sich mit Sexismus oder Empowerment zu beschäftigen, freut sich in der SZ Anna Fastabend. Stattdessen handeln die Stücke von Schuld, Privilegienverlust oder dem aktuellen Rechtsruck, wie Kutschkes von Andras Dömötör inszeniertes Stück "Zu unseren Füßen, das Gold, aus dem Boden verschwunden": "Der Schauplatz ihrer Geschichte ist ein Mietshaus im Norden Berlins, wo viele Menschen die AfD gewählt haben. Dennoch leben die Bewohner in friedlicher Koexistenz, bis ein geflüchteter Syrer im Erdgeschoss einzieht und die Lage eskaliert. Der künstlerische Kniff des Stückes: Kutschke lässt alle Beteiligten zu Wort kommen, außer den Geflüchteten selbst, der damit zur Projektionsfläche für die Vorurteile der anderen wird." Während Fastnacht das Stück schließlich doch zu "identitätspolitisch" findet, meint Nachtkritiker Michael Laages: Das "bürgerliche Pandämonium bringt Andras Dömötör uns extrem nahe".

"Wird die Welt besser, wenn drei Frauen drei Stücke von drei Frauen für eine Veranstaltung auswählen? Zumindest für die Theaterwelt trifft dies nicht unbedingt zu", giftet Irene Bazinger in der FAZ: Die ausgewählten Stücke, seien zwar "relevant", "dabei jedoch von einer seltsam theaterverweigernden Haltung geprägt. Man spricht, aber nicht miteinander, man sieht Figuren, aber ohne szenisches Profil, man hört von Konflikten, die aber oft kaum vermittelt werden. Ist das die weibliche Sicht auf unsere heutige Gesellschaft? Oder die Ratlosigkeit von Sprachkünstlerinnen angesichts der Aufgabe, komplexe Lebensrealitäten mit den Mitteln des Theaters ausdrücken zu sollen?"

Einst war das Theater "moralische Instanz" einer Stadt, seufzt im Interview mit Nachtkritiker Georg Kasch indes Karlheinz Braun, Mitbegründer und Co-Leiter des Verlags der Autoren und erklärt, weshalb es in der aktuellen Dramatik kaum noch große gesellschaftlich relevante Stücke gibt: "Ein Grund ist der, dass die Theater den Autoren nicht mehr vertrauen und nur noch Aufträge für die kleine Bühne vergeben. Die Autoren haben sich voll auf diese Dimension eingestellt. Ein anderer Grund ist der, dass die Autoren oft nur noch Stückvorlagen schreiben, weil sie wissen, dass die Regisseure daraus nur ihre eigenen Stücke realisieren, und wer gibt sich schon dafür her? Ich übertreibe, aber in der Übertreibung steckt auch immer etwas Wahres. Und schließlich: weil die Stücke nach der Uraufführung kaum noch nachgespielt werden - wovon soll der Autor, die Autorin denn leben?"

Weiteres: Der Standard berichtet kurz über das DramatikerInnenfestival Graz (Standard). Im Aufmacher des SZ-Feuilletons stellen Peter Laudenbach und der Soziologe Stefan Kühl derweil fest, dass das New-Work-Konzept - die von Unternehmen geforderte Symbiose von Mensch und Arbeit - auch das Theater erreicht hat - mit ungeahnten Folgen: "Regisseure berichten vermehrt von jungen Schauspielern, die sich weigern, bestimmte Szenen oder Rollen zu spielen, weil sie sich nicht mit ihnen identifizieren können und etwa die in ihnen gezeigte Gewalt oder Geschlechterklischees ablehnen. Auf den Sex-und-Crime-Dramatiker Shakespeare, den Tarantino des 16. Jahrhunderts, könnten schwierige Zeiten zukommen." Besprochen wird der Kastratenabend "One God, one Farinelli…" bei den Pfingstfestspielen Salzburg (FAZ).
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Film

Kerstin Holm meldet in der FAZ, dass der russische Staatssender NTW nach dem Erfolg der HBO-Miniserie "Chernobyl" eine eigene Serie über das Reaktorunglück produzieren will, bei der allerdings der CIA eine Beteiligung an der Katastrophe unterstellt werden soll.

Besprochen werden Jim Jarmuschs Zombiefilm "The Dead Don't Die" (Presse), Olivier Assayas' "Zwischen den Zeilen" (Freitag, unsere Kritik hier) und Lee Chang-dongs "Burning" (Freitag, unsere Kritik hier).
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Stichwörter: Jarmusch, Jim, Hbo

Kunst

Die ganze Brutalität der bleiernen Jahre in Palermo, als der Mafiakrieg die Stadt mit Bombenexplosionen, zahlreichen Morden an Politikern, Richtern und Mafiabossen lahm legte, erkennt taz-Kritiker Andreas Rossmann im Centro Internazionale di Fotografia in Palermo, wo derzeit in der Ausstellung "Continente Sicilia" Arbeiten des Magnum-Fotografen Franco Zecchin zu sehen sind, die zwischen 1974 und 1993 entstanden, als Zecchin für die linke Tageszeitung L'Ora unter anderem Tatorte fotografierte: "Zecchin nähert sich ihnen geradezu diskret, mit einem offenen, nüchternen Blick, der harte Kontraste setzt, überraschende Ausschnitte wählt und ungewöhnliche Perspektiven einnimmt, sich Sentimentalität wie Skandalisierung verbietet. (…) Zecchin ist mehr als 'nur' Chronist, immer wieder gelingen ihm Kompositionen von symbolischer Kraft. Das Foto vom Mord an dem Gärtner Benedetto Grado 1983 ist ein herausragendes Beispiel: Hinter dem von einem Laken bedeckten Leichnam, aus dem Blut fließt, tragen drei Frauen schon schwarz, rechts sitzt die Witwe des Opfers, links kniet die eine und dazwischen steht die andere Tochter, deren Gesicht die Pfütze im Vordergrund spiegelt. Doch nicht in Wasser erscheint ihr Porträt, sondern in Blut."

Beschwingt kommt FAZ-Kritikerin Brita Sachs aus der Münchner Pinakothek der Moderne, die dem belgischen Maler und Sportreporter Raoul de Keyser eine große Werkschau widmet. Wie Keyser Regeln und Stile der Malerei gegen den Strich bürstete, etwa in dem er Bilder Jahre später wieder übermalte, erkennt Sachs im Werk "Baron in Al Held-veld": "Den wuscheligen, 1964 expressiv gemalten Familienhund Baron bettet De Keyser nach dem Besuch einer Al-Held-Ausstellung 1966 auf einen strengen Farbfeldgrund nach Art des amerikanischen Hard Edge-Vertreters. Das kratzt schon kräftig am Tabu, aber so führt man Stildogmen ad absurdum und vergisst über ernsten Fragen das Lachen nicht. Im Konterkarieren des Serienprinzips, Bildern einer Reihe gibt er unterschiedliche Formate und allen denselben Titel, setzt De Keyser die spielerischen Prüfungen fort oder auch, wenn er farbgetränkte Pinsel auf die Leinwand wirft, um die Kontrollfunktion des Künstlers zu testen."

Weitere Artikel: Im taz-Gespräch mit Alexander Stumm spricht der Fotograf Armin Linke, der den offiziellen Beitrag zur XXII. Triennale von Mailand gestaltet, über seine Arbeit "Carceri d'Invenzione" und den Zustand des Kapitalismus. In der Presse hat Almuth Spiegler nichts dagegen, wenn die Wiederentdeckung des Exotismus, der die Kunst der europäischen Avantgarden prägte, so meisterhaft daherkommt wie bei Peter Doig, dessen Arbeiten derzeit in der Wiener Secession zu sehen sind.

Besprochen werden die Ausstellung "Leonardo da Vinci - die Zeichnungen im Kupferstichkabinett" im Keller der Hamburger Kunsthalle (taz) und die Ausstellung "Rembrandts Stich" im Residenzschloss Dresden (Tagesspiegel).
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Musik

Aus dem Staunen nicht mehr heraus kommt SZ-Klassikkolumnist Harald Eggebrecht, als er die neue Einspielung von Bachs Goldberg-Variationen durch das Trio Zimmermann auflegt: "Durchsichtigkeit des dreistimmigen Geflechts, Intonationsklarheit und absolute Gewaltlosigkeit in der Klangproduktion" sind nichts weniger als bewundernswert. "Hinzu kommt das souveräne Timing, das weder Hetzen noch Schleppen zulässt. Fast möchte man meinen, hätte Bach diese drei Meistermusiker hören können, er hätte ihnen wohl gleich ein ganzes Paket an Streichtrios geschrieben." BR-Klassik hat sich kürzlich mit Trioleiter Frank Peter Zimmermann unterhalten.

Weitere Artikel: Bill Calahan steht The Quietus Rede und Antwort. Für die NZZ plaudert Jonathan Fischer mit dem jamaikanischen Labelmacher Chris Blackwell, der einst Reggae und Bob Marley zu Weltruhm verhalf und sich heute um die "Golden Eye"-Villa kümmert, in dem Ian Fleming James Bond erfand. In der SZ spricht die Pianistin Ragna Schirmer über die Komponistin Clara Schumann. Ruben Donsbach erzählt im ZeitMagazin wie mit den US-Soldaten, darunter ein gewisser Elvis Presley, die Popmusik über Bremerhaven nach Deutschland kam. Karl Fluch erinnert im Standard an Joy Divisions vor vierzig Jahren veröffentlichtes Album "Unknown Pleasures", mit dem die Band die Begrenztheiten des Punk überwand und den Post-Punk ausrief.



Besprochen werden die Wiederveröffentlichung des Gesamtwerks der feministischen Punkband Team Dresch (Pitchfork), das neue Madonna-Album "Madame X" (Tagesspiegel, mehr dazu bereits hier und hier),  Ryuichi Sakamotos Soundtrack zu einer Episode der Netflix-Serie "Black Mirror" (Pitchfork), Udo Lindenbergs Berliner Konzert (Tagesspiegel), ein Konzert von Jack White, dessen das Sozialverhalten stimulierendes Smartphone-Verbot Freitag-Kritiker Konstantin Nowotny für eine ziemlich tolle Sache hält, das neue Album "Old Star" der Black-Metal-Pioniere Darkthrone (Pitchfork), ein Konzert des Metal-Urgesteins Manowar (NZZ), Phil Collins' Auftritt in Berlin (Tagesspiegel)  und weitere neue Musikveröffentlichungem, darunter András Schiffs Aufnahmen aus Schuberts Spätwerk (FAZ).

In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Katharina Cichosch über den Evergreen "Video Killed the Radio Star" von The Buggles:

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Literatur

Die türkische Schriftstellerin Elif Shafak will Istanbul nicht aufgeben - nicht gegenüber den Männern, die die Stadt "ab einer gewissen Uhrzeit" in Beschlag nehmen, und schon gar nicht gegenüber Erdogan und dem Mentalitäts-Backlash in der türkischen Gesellschaft, der mit dessen Namen verbunden ist. In ihrem neuen, einen Zeitraum von den 60ern bis zum Jahr 1990 umspannenden Roman geht es um einen außergewöhnlichen Friedhof etwas außerhalb der Stadt, erzählt sie in der Berliner Zeitung. Es handelt sich um den "Friedhof der Geächteten. Dort gibt es keine Grabsteine, keine Namen auf den Gräbern, nur Nummern. Es ist ein Ort, an dem Menschen zu Nummern werden. Begraben liegen dort meistens Menschen, die von ihren Familien verstoßen wurden. Sie sind an Aids gestorben, gehörten zur LGBT-Community, waren Sexarbeiterinnen, Transgender, Selbstmörder, ausgesetzte Babys. ... Ich wollte damit politische Geschichte und die Geschichte von Frauenrechten verbinden. Und ich wünschte, ich könnte Ihnen sagen, dass es seit der Zeit Fortschritt gegeben hat, aber wir entwickeln uns rückwärts. Es gibt mehr Nationalismus als damals, mehr religiösen Fundamentalismus und definitiv mehr Autoritarismus."

Felix Philipp Ingold singt in der NZZ ein Loblied auf Thomas Pynchon und Elena Ferrante, die sich dem Betriebsgesumm und -gebrumm um den Schriftsteller als öffentliche Persona mit medialer Dauerpräsenz konsequent verweigern. Eine äußerst rare Geste, in einem von Verlagen emsig bestellten Feld: "Vorrangig bleibt dabei stets das Image des Autors, der vor seinen Text, vor sein Buch hintritt und es durch seine Person gleichsam überblendet. Der Schreiber gewinnt somit fast schon naturgemäß Vorrang vor dem Geschriebenen. Die Präsenz beziehungsweise das repräsentative Image des Autors lenkt tendenziell von den Qualitäten wie von den Mängeln des Werks ab, erschwert dessen objektive Lektüre und Einschätzung, führt letztlich dazu, dass der Text als Produkt dem Verfasser als Produzenten nachgeordnet wird."

Auf ZeitOnline widmet sich Johannes Franzen dem Phänomen literarische Quereinsteiger aus benachbarten Künsten, die ihren bereits etablierten Namen auch mit Romanen monetarisieren - so etwa im Fall von Bela B. Felsenheimer, Dirk von Lowtzow, Axel Milberg und anderen. "Eine von der Medienkonkurrenz gebeutelte Branche darf an der Aufmerksamkeit der großen Namen partizipieren, während die großen Namen mit dem nach wie vor großen kulturellen Kapital des Literarischen ausgestattet werden. ... An dieser Entwicklung sind auch die Feuilletons beteiligt, die ihre Aufmerksamkeit immer mehr in große Namen investieren." Verlagen wie Kritik rät Franzen, den eigenen Ruf als Gatekeeper des kulturellen Kapitals nicht voreilig auf dem Altar der Popularität zu opfern.

Weitere Artikel: Bereits am Samstag - und von uns hiermit nachgereicht - schrieb Carsten Otte in der taz mit Blick auf das Stadt-Land-Gefälle in den Ergebnissen der letzten Wahlen und dem damit verbundenen Erfolg des Rechtspopulismus darüber, wie sich die Literatur am Dorfleben abarbeitet. Im Interview mit dem Standard spricht die Autorin und Genetikerin Ljudmila Ulitzkaja über ihre Bücher, ihre Kunst und Politik in Russland. Erhard Schütz schreibt im Freitag über die Lust jüngerer Autoren an der Dystopie. Online nachgereicht aus der Literarischen Welt, erinnert Jan Küveler daran, wie Antonin Artaud bei einer Fährenüberfahrt sich offenbar so dermaßen daneben benahm, dass er in einer Zwangsjacke wieder auf festen Boden kam. Im Interview mit der FR plaudert der Schriftsteller Jan Brandt über seinen neuen Roman "Eine Wohnung in der Stadt/Ein Haus auf dem Land" und die Wohnungssuche in Berlin. Judith Neschma Klein schreibt in der FAZ einen Essay über die literarische Darstellung von Anmut und Weisheit im Alter.

Besprochen werden Alina Bronskys "Der Zopf meiner Großmutter" (taz), Fatima Farheen Mirzas "Worauf wir hoffen" (Presse, SZ), Eva Schmidts "Die untalentierte Lügnerin" (Standard), Colson Whiteheads "Die Nickel Boys" (Zeit), Jan Brandts "Ein Haus auf dem Land" (Zeit) und Artur Beckers "Drang nach Osten" (ZeitOnline).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt über Mathias Mayer über Gotthold Ephraim Lessings "Eine Gesundheit":

"Trinket, Brüder, laßt uns trinken
Bis wir berauscht zu Boden sinken
..."
Archiv: Literatur