Efeu - Die Kulturrundschau

Die Entdeckung der Prothetik

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12.06.2019. Rene Pollesch wird wohl neuer Intendant der Volksbühne, melden die Theaterkritiker. Hyperallergic feiert in London die Moderne des marokkanischen Künstlers Mohamed Melehi und der Casablanca Art School. Der Observer freut sich schon auf die große Cindy-Sherman-Retrospektive mit all ihren großen Serien. Die bequeme Zeit der Ironie ist zu Ende, lernt die FAZ bei Jim Jarmusch. Die SZ besucht den Komponisten Louis Andriessen. Die taz hat die Nase voll von gängigen Diskursen an deutschen Theatern.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.06.2019 finden Sie hier

Kunst

Ansicht aus der Ausstellung "New Waves: Mohamed Melehi and the Casablanca Art School" im Mosaic Room in London


In Hyperallergic stellt Naomi Polonsky den 82-jährigen marokkanischen Künstler Mohamed Melehi vor, der zusammen mit der Casablanca Art School die marokkanische Moderne verkörpert: "Sie vertraten mit dem Bauhaus die Auffassung, dass es keine Hierarchie zwischen Kunst, Handwerk, Design und Architektur geben sollte. 1969 bedeckten sie die Wände der Gebäude auf dem Jamaa el-Fna-Platz, der Medina von Marrakesch, mit wunderbaren, psychedelischen Bildern. Die Außenausstellung war ein Protest gegen die gleichzeitige Ausstellung Salon du Printemps (ein Relikt der marokkanischen Kolonialgeschichte), aber auch eine Absichtserklärung: Kunst könnte Teil des Alltags sein. Bei der Inszenierung von 'New Waves', der ersten Einzelausstellung Melehis in Britannien, standen die Kuratoren der Mosaic Rooms vor einer großen Herausforderung. Wie kann Melehi's subversive, oft ortsspezifische Kunst in einem umgebauten Londoner Stadthaus gezeigt werden? Wie kann die lebendige, überschwängliche Arbeit des Künstlers in einem sterilen 'White Cube'-Raum zur Geltung kommen? Die Kuratoren haben dieses Problem genial gelöst, indem sie den Geist und die Atmosphäre von Melehis Leben in einer Reihe von Momenten (oder, wie sie in der Ausstellungsbroschüre prunkvoll genannt werden, 'chronogeografischen Kapiteln') eingefangen haben."

Cindy Sherman, Untitled Film Still #56, 1980. Photograph: Courtesy of the artist and Metro Pictures, New York


Im Observer ist Sean O'Hagan voller Vorfreude auf die große Cindy-Sherman-Retrospektive, die ab 27. Juni in der Londoner National Portrait Gallery gezeigt wird: "Alle ihre großen Serien werden hier gezeigt, von den noch immer resonanten Untitled Film Stills, die sie begann, als sie Ende der 70er Jahre nach New York zog, über die umstrittenen Centerfolds, die noch umstritteneren Sex Pictures (sicherlich die groteskesten provokativen Bilder, die jemals in der Galerie ausgestellt wurden), die verbitterten Modebilder, die History Portraits, die Flappers und die Street Style Stars. Wenn man sieht, wie sich ihre kreative Reise entfaltet, von der Verwendung billiger Perücken und Secondhand-Kleidung über die Entdeckung der Prothetik bis hin zu ihren aktuellen Instagram-Experimenten zur digitalen Gesichtsmanipulation, fasziniert vor allem die konsequente kulturelle Resonanz ihrer Arbeit."

Besprochen werden außerdem eine Schau ausgewählter Neuerwerbungen aus dem letzten Jahrzehnt des Berliner Kupferstichkabinetts (Tagesspiegel), zwei Londoner Ausstellungen über Leonardo und die Wissenschaft: "Leonardo da Vinci: A life in drawing in The Queen's Gallery im Buckingham Palace und "Leonardo da Vinci. A mind in Motion" in der British Library (SZ), zwei Londoner Ausstellungen großer Künstlerinnen: Natalia Goncharova in der Tate Modern und Lee Krasner: Living Colour in der Barbican Art Gallery (Observer), die Fotoausstellung "This Place" über den Alltag in Israel und im Westjordanland im Jüdischen Museum in Berlin (FR, FAZ) und die Ausstellung "Fra Angelico und die Anfänge der Renaissance in Florenz" im Prado in Madrid (FAZ).
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Bühne

Rene Pollesch soll die Volksbühne übernehmen, meldet Peter Laudenbach in der SZ: "Seine Berufung ist eine durchaus riskante Wette mit offenem Ausgang", meint der Kritiker, der sehr zufrieden mit der Entscheidung scheint, weil Pollesch in der Tradition der Volksbühne steht. "Pollesch ist der richtige Mann, mit dem die besten Schauspieler Deutschlands zusammenarbeiten wollen und der Freunde und Bewunderer auf allen Seiten der im Volksbühnen-Streit aufgerissenen Gräben hat", meint auch Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung. Von wegen Risiko, denkt sich dagegen Rüdiger Schaper im Tagesspiegel: "Castorf arbeitet am Berliner Ensemble. Und natürlich stellen sich die Fans jetzt die Frage, ob er eines Tages wieder an der Volksbühne auftauchen wird. Mit einem Intendanten Pollesch steigt die Wahrscheinlichkeit. Dass Nostalgie bei alldem eine Rolle spielt, ist nicht von der Hand zu weisen",

Eine höchst maue "Lange Nacht der Autor_innen" am Deutschen Theater erlebte taz-Kritikerin Barbara Behrendt: "Ein Stück, das sich in diskursivem Geraune über die zerbröckelnde Welt erschöpft, ein zweites, das höchst ungefähre Parallelen zweier bedrohter Frauenbiografien in einer Collage verschnipselt, und ein drittes, das aus den Monologen gar nicht herauskommt und dem alles Szenische, Dialogische abgeht?", fragt sie ungläubig. "Eine solche Auswahl bestätigt den Verdacht, dass der theaterbetriebsunabhängige Autor, der nicht die gängigen Diskurse wiederkäut, an den Bühnen kaum noch gesucht wird. Kommt es zur Auseinandersetzung zwischen Regie und Autor, hat der Text ohnehin verloren - die Machthaber am Theater sind die Regieführenden."

Weitere Artikel: Matteo Terzaghi besucht für die NZZ ein Baustellentheater des Künstlers Onzgi in Mendrisio. In Frankfurt streitet man inzwischen mit recht harten Bandagen über die Zukunft der Städtischen Bühnen, berichtet Claus-Jürgen Göpfert in der FR. Manuel Brug amüsiert sich für die Welt bei Cecilia Bartolis Salzburger Pfingstfestival, wo er nicht nur die Meistersängerin, sondern auch die "Elite der Counter-Tenöre" hören durfte. Im Standard ist Ljubisa Tosicj noch ganz berauscht von Bartolis Alcina in der gleichnamigen Händel-Oper.

Besprochen werden ein "Rigoletto" an der Berliner Staatsoper (nmz), und der Ballettabend "b.40" an der Düsseldorfer Oper am Rhein (FAZ).
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Film

Große Namen, große Popfiguren: "The Dead Don't Die"

Irgendwie ja schon ganz liebenswert, was Jim Jarmusch mit einem ganzen Strauß an namhaften Schauspielern (Tilda Swinton, Bill Murray, Iggy Pop, Tom Waits, Adam Driver, ...) in seinem Zombiefilm "The Dead Don't Die" auf die Beine stellt, aber so ganz überzeugt kam SZ-Kritikerin Juliane Liebert spürbar doch nicht aus dem Saal. Für eine kleine Meditation über Jim Jarmuschs sehr spezifisches Star-System bot der Film aber immerhin Anlass: "Jeder wird in Jarmuschs Filmen zur Popfigur, jeder verschwindet in den besten Momenten dahinter. Hier zeigt sich der Unterschied zum klassischen Starprinzip. In dem müssen die Schauspieler sowohl möglichst theatralisch mit ihrer Rolle verschmelzen als auch als berühmte Gesichter erkennbar bleiben. Bei Jarmusch spazieren sie eher als absurde Heiligenbilder durch den Film und werden genau deshalb frei, etwas ganz anderes zu repräsentieren. ... Wie die Industrie, die immer wieder berühmte Schauspieler in die immer gleichen Abläufe der bekannten Erfolgsschemata presst, verwandelt Jarmusch seine Hoftruppe in Zombies; seelenlose Wesen mit vertrauten, aber auch halbverschimmelten Gesichtern, die durch bekannte Plots stolpern."

Immerhin geht es in diesem Film laut FAZ-Kritiker Axel Weidemann auch mal "bissig, beschwingt und sogar entspannt" zu. Aber auch ein neues Paradigma nimmt er aus dem Kino mit: "Vielleicht ist die bequeme Zeit der Ironie und der Uneindeutigkeit in einem Zeitalter der Überforderung durch Kommunikation und deren Echtzeitbewertung nun zu Ende. Vielleicht muss, wer etwas zum Guten bewegen will, wieder klar Position beziehen. Mit einem Wort sagen, was er will. Wie ein Zombie."

Besprochen wird außerdem László Nemes' "Sunset" (ZeitOnline).
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Literatur

In der NZZ-Reihe über Gottfried Keller widerspricht der ehemalige Zürcher Regierungsrat Markus Notter der weitverbreiteten Ansicht, der Schweizer Schriftsteller sei bieder gewesen: "Er ist oft hintersinnig und setzt seine biederen Protagonisten dem Spott und Gelächter aus. Peter von Matt hat in einem Aufsatz einmal darauf hingewiesen, dass zur Demokratie das Gelächter gehöre" - weshalb Notter davon erzählt, wie er eine satirische Parlamentssitzung bei Keller einmal im Kantonparlament rezitiert und damit voll ins Schwarze getroffen habe.

Weitere Artikel: Udo Badelt ist für den Tagesspiegel anlässlich des heutigen 90. Geburtstags von Anne Frank zum Gedenkmuseum nach Amsterdam gereist. Martin Krumbholz (NZZ), Matthias Heine (Welt) und Gerhard Stadelmaier (FAZ) schreiben Nachrufe auf die Schriftstellerin und Dramatikerin Gerlind Reinshagen. Besprochen werden unter anderem Marlene Streeruwitzs "Flammenwand" (NZZ) und Tracy Barones "Das wilde Leben der Cheri Matzner" (FAZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Musik

Franziska Dürmeier hat für die SZ den niederländischen Komponisten Louis Andriessens, der gerade Achtzig wurde, in Amsterdam besucht und mit ihm Rückschau gehalten: In seinen "Ensembles und Kollektiven wird die Rolle von Musiker und Komponist fließend, jeder gestaltet mit, im Ensemble Hoketus gibt es keinen Dirigenten. Dahinter steht ein demokratischer Gedanke", denn viele seiner früheren Mitstreiter in den Siebzigern "seien Jazzmusiker gewesen und politisch links, erzählt Andriessen. Inhaltlich ging es ihnen vor allem um Abgrenzung: 'Wir wussten genau, was wir mochten und was nicht. Wir mieden banale Musik. ... Mein Vater war ein großartiger Mann. Er sagte: 'Geld hat keinen Wert'. Das war sehr profund.'" Aus den Siebzigern stammt auch seine Komposition "Workers Union":



Weitere Artikel: Beim Jazzfestival in Moers "ist man Atonales gewöhnt und hat gelernt, es zu genießen, während sich andere noch darüber wundern", erklärt Lars Fleischmann in der taz. Bei den Regensburger Tagen Alter Musik widmete man sich insbesondere Leopold Mozart, schreibt Anja-Rosa Thöming in der FAZ. Für die NMZ berichtet  Juan Martin Koch. Andreas Busche schreibt im Tagesspiegel einen Nachruf auf den Rapper Bushwick Bill. Zu dessen größten Hits zählt "My Mind Playing Tricks On Me" mit den Geto Boys:



Besprochen werden Konzerte von Lafawndah (Tagesspiegel), und Kris Kristofferson (Tagesspiegel), sowie neue Alben von Joy Williams (online nachgereicht von der FAZ), Kevin Morby (FR) und unter anderem von Bonaparte, auf dessen Stück "Big Data" Bela B. und Farin Urlaub auf eine Weise zu hören sind, "man die beiden Ärzte noch nie gehört" habe, verspricht SZ-Popkolumnist Max Fellmann. In der Hörprobe kann man sich das genauer anhören:

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