Efeu - Die Kulturrundschau

Narretei und Drolerie

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17.06.2019. Zeit Online erlebt auf der Art Basel mit dem saudischen Künstler Abdulnasser Gharem, wie der Journalist Jamal Khashoggi zu Beethovens siebter Sinfonie ermordet wurde. Die taz zieht sich in Bern lieber mit gigantomanischen Insekten in die Beichtstühle der Amelie von Wulffen zurück. Die FAZ beobachtet mit Grauen, wie in Usbekistan Denkmäler zerstört und für frei erfundene Monumentalbauten ersetzt werden. Die SZ sucht Strandlektüre und greift zum Porno. Und alle trauern um den italienischen Regisseur Franco Zeffirelli.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.06.2019 finden Sie hier

Kunst

Amelie von Wulffen, 'Hast Du schon House of Cards gesehen?', 2018, Courtesy Giò Marconi

Es ist schon erstaunlich, wie die Malerin Amelie von Wulffen in ihren Arbeiten Hierarchien auf den Kopf stellt und hohe Malerei und "Nippes" mixt, bemerkt taz-Kritikerin Katharina J. Cichosch in der Ausstellung "Hast Du schon House of Cards gesehen?" in der Kunsthalle Bern, die ihr neben Beichtstühlen, Muschel-Skulpturen und Comics auch eine Überfülle an Gemälden präsentiert: "Das Vokabular, mit dem von Wulffen ihre Bilder inszeniert, umfasst gigantomanische Insekten, Hunde und Katzen, Zombies und Fratzen, die sich aus dem neuerdings entdeckten Reißlack schälen, gescholtene und ihrerseits gemein agierende Kinder, Eiscreme, lustvolle bis mitunter in Ekel und Verstörung rutschende Gesten, heimliche Behaglichkeit beim Serienschauen am Laptop, dunkel verholzte Bauernstuben, wie man sie im süddeutschen Raum findet, wo von Wulffen geboren und aufgewachsen ist. Dazu arbeitet sie mit Motiven aus dem eigenen Leben - Familienfotos, Kinderfotos, eingespeicherte Erinnerungen. Dies alles friert die Malerin kühn zu gern apokalyptischen Ansichten ein, die sich mal vor Science-Fiction-B-Movie-Landschaften, mal am heimischen Familientisch entfalten."

Abdulnasser Gharem. The Safe, 2019.

Als "Sensation" würdigt Zeit-Online-Kritiker Werner Bloch auf der diesjährigen Art Basel die Arbeit des saudischen Künstlers Abdulnasser Gharem, der eine Rauminstallation entworfen, die an die Ermordung des saudischen Journalisten Jamal Khashoggi (Unsere Resümees) erinnert: "Wer nun auf der Art Basel durch jene Tür ins Innere des Raums dahinter gelangt, erlebt das Grauen einer steril weißen Horrorzelle auf sechs mal vier mal drei Metern am eigenen Leib. Der Raum erinnert an eine Gummizelle, wie man sie in Gefängnissen oder in der Psychiatrie findet. (…) Im Hintergrund läuft klassische Musik, weil der Gerichtsmediziner, der Khashoggis Leiche zerlegt haben soll, angeblich immer klassische Musik hört, wenn er seinem Beruf nachgeht, am liebsten das Allegretto aus Beethovens 7. Sinfonie. Der Gerichtsmediziner soll für Khashoggi nur 15 bis 20 Minuten gebraucht haben."

Weitere Artikel: Ein wenig mulmig zumute wird FR-Kritikerin Sandra Danicke dann doch in der Ausstellung "Emphatische Systeme" im Frankfurter Kunstverein, in der die Künstler Yves Netzhammer, Theo Jansen und Takayuki Todo ausloten, wie Menschen auf ihre digitalen Stellvertreter reagieren.

Besprochen werden die Kurt-Schwitters-Ausstellung "100 Jahre Merz" im Sprengel-Museum Hannover (SZ) und die Ausstellung "Max Liebermann und Lesser Ury. Zweimal. Großstadt Berlin" in der Liebermann-Villa am Wannsee (FAZ).
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Film

Mit dem 96-jährig gestorbenen Film- und Opernregisseur Franco Zeffirelli verlässt ein streitbarer Grenzgänger zwischen den Inszenierungskünsten die Bühne des Kulturlebens. "Bei dem Streit, den seine Filme immer wieder auslösten, ging es ums Ganze, um den Kern von Zeffirellis künstlerischem Schaffen. Ein Zeffirelli-Film ist eine Kollision von Oper und Kino", erklärt dazu Stephan Ahrens im Filmdienst. Der Visconti-Schüler "ging in seinem Kunstschaffen einen Schritt weiter" als sein Lehrmeister: "Er adaptierte seine opulenten Operninszenierungen, die er in Mailand, London, Berlin oder New York auf die Bühne brachte, auch für die Leinwand. ... Während er auf der Bühne die Schranken des Guckkastens nicht antastete, wenngleich er den Blick des Publikums durch eine umfassende Durchgestaltung befreite, löste er sich in seinen Filmen von jeglicher räumlichen Beschränkung." Auch deshalb ist er für Ahrens, wie dieser in in der taz in seinem zweiten Nachruf  schreibt, der "letzte Bewahrer hemmungsloser Kunstwerke".

"Passion und Kostümwut des offen homosexuellen Traditionalisten wandelten nicht selten am Rande der Komik", hält in der Welt Kai Luehrs-Kaiser fest - sowie auch, dass Zeffirelli "als Pappmascheefex der Oper gefürchtet und als König des Ausstattungskinos adoriert" war. Standard-Kritiker Bert Rebhandl sieht den Verstorbenen als den Außenseiter des italienischen Nachkriegskinos, "weil er ästhetisch unbeirrt konservativ blieb. Er war ein Mann der großen Stoffe, die er nicht an eine Gegenwart verraten wollte, zu der er sich in aristokratischer Distanz sah." In seinen späten Jahren floh er zusehends "in eine restaurative Geisteshaltung: Dass er für Berlusconis Forza Italia in die Politik ging, dass er prächtige Inszenierungen für den Vatikan ausrichtete, sah er alles in seiner Idee von Hochkultur aufgehoben." Weitere Nachrufe in NZZ, SZ und Presse.

Weitere Artikel: Dominik Kamalzadeh berichtet im Standard von seiner Begegnung mit dem Schauspieler Caleb Jones, der derzeit in Jim Jarmuschs "The Dead Don't Die" zu sehen ist.

Besprochen werden die mit Meryl Streep, Nicole Kidman, Reese Witherspoon, Laura Dern, Shailene Woodley und Zoë Kravitz Aufsehen erregend prominent besetzte HBO-Serie "Big Little Lies", deren feministische Agenda NZZ-Kritikerin Claudia Schwartz völlig in den Bann zieht, Philipp Eichholtz' Impro-Komödie "Kim hat einen Penis" (Tagesspiegel), Kaspar Astrup Schröders Dokumentarfilm 'Don't Give a Fox' über eine Gruppe junger Kopenhagener Skaterinnen (Jungle World), Béla Tarrs Filminstallation "Missing People" bei den Wiener Festwochen (taz), Jim Loachs "Measure of a man" (Tagesspiegel) und neue DVDs, darunter Bill Watersons "Dave made a Maze", laut SZ-Kritiker Fritz Göttler "einer der verrücktesten Filme des vorigen Jahres", nämlich "ein Monsterspektakel ganz aus Pappe." Das klingt so vielversprechend, da verlinken wir ausnahmsweise auch mal einen Trailer:

Archiv: Film

Musik

Für ZeitOnline begleitet Jana Luck den Teeniestar Mike Singer durch den  Europa-Park in Rust. Im Tagesspiegel spricht Ken Münster mit dem Pianisten Jamie Cullum. Für Pitchfork holt Steve Kandell AC/DCs "Back in Black" wieder aus dem Plattenschrank hervor. Besprochen wird Holly Herndons Auftritt in der Berliner Volksbühne (Tagesspiegel).
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Bühne

Sandra Hüller. Schauspiel Bochum JU Bochum

Einen solchen "Hamlet", wie ihn Johan Simons am Schauspielhaus Bochum mit einer furiosen Sandra Hüller in der Hauptrolle inszenierte, hat Nachtkritiker Andreas Wilink lange nicht gesehen: "Unbefangen, informell, ja, kinderleicht, als verlöre Schwermetall durch chemisches Zutun oder durch Alchemie sein stoffliches Gewicht, erzählt Simons das Drama ohne Druck und Drang. Die bekannten Sentenzen und irre klugen Paradoxien hören wir wie zum ersten Mal. 'Hamlet' - eine Offenbarung. Jedes Zeremoniell ist aufgehoben. Es bleibt das Ritual in der Rahmung einer artifiziellen Installation. Die Inszenierung wagt es, zu tanzen mit Irritation und Widersinn, Verrat und Verlust, Spaß und Spott, Narretei und Drolerie, Tod und Verzweiflung. So gewinnt sie Schönheit, Anmut und Befremden, graziöse Wucht, uneindeutige Zeichenhaftigkeit, Tiefe und Klarheit."

Für den Standard hat sich Renate Graber mit Burgtheater-Chefin Karin Bergmann zum großen Abschiedsinterview getroffen und mit ihr auch über die Theaterliebe der Wiener geplaudert: "Der Hang der ganzen Nation zum Theatralen ist enorm. Österreicher haben viel Fantasie, einen Hang zur Inszenierung - mit allem Schönen und Schrecklichen, das dazugehört. Die Österreicher können sich nicht nur in allem mehr vorstellen, sondern sie trauen sich auch, es zu leben, ihre Brutalität, ihr Enflammiertsein und ihre Zuwendung zu bekunden."

Weitere Artikel: "Gut is gangen, nix is gschehn", bilanziert Nachtkritiker Martin Thomas Pesl die ersten von Christoph Slagmuylder verantworteten Wiener Festwochen. In der Welt gratuliert der Schriftsteller Joachim Lottmann dem Schauspieler Jens Harzer zum Iffland-Ring.

Besprochen werden Bela Tarrs Installation "Missing People" bei den Wiener Festwochen (taz) Paul Abrahams Fußball-Operette "Roxy und ihr Wunderteam" in der Inszenierung der Geschwister Pfister an der Komischen Oper Berlin (SZ), Felix Rothenhäuslers Inszenierung von Lars von Triers "Melancholia" an den Münchner Kammerspielen (SZ, nachtkritik) und Dirk Schmedings Inszenierung von Albéric Magnards Oper "Guercoeur" an der Oper Mannheim (FAZ).
Archiv: Bühne

Literatur

Wer etwas über die gerade die Schwelle zum Erwachsenenalter überschreitende Generation erfahren will, muss die Romane der irischen Autorin Sally Rooney (im Perlentaucher bislang nur in den Magazinrundschauen in Erscheinung getreten) lesen, rät Katharina Laszlo in der FAZ. In diesen Büchern erhalte man aus erster Hand Erfahrungen jener Altersgruppe, für die es keine bewusste Zeit vor dem Siegeszug des Internets mehr gibt: Die Figuren durchstöbern das Netz "so selbstverständlich nach Spuren voneinander, wie sie darüber diskutieren, welche Subtexte ihrer E-Mail-Korrespondenzen ein NSA-Agent am ehesten missverstehen könnte. ... Trotzdem ist das Internet so wenig Rooneys Hauptanliegen, wie der Brief es für Austen war. Ihre Bücher sind psychologisch scharfsinnige Gesellschaftsromane, die sich vor allem für Sex und Geld interessieren, beziehungsweise deren Campus-Entsprechung: Geschlecht und Klasse. Ihre Charaktere haben empfindliche Sensoren für Machtverhältnisse, für das soziale Kapital, das einem wohlhabende Eltern einbringen, oder die Tatsache, als Mann in Dublin oder als Frau im provinziellen Westen des Landes geboren zu sein."

Herausragend hohe Vorschüsse soll Chip Cheek für seinen Roman "Tage in Cape May" erhalten haben, dies- und jenseits des Atlantiks wird es als bester Kandidat für die Strandlektüre angepriesen - und prompt fällt SZ-Kritiker Felix Stephan bei der Lektüre aus allen Wolken, als ihm bei der Lektüre die mit voranschreitender Lesezeit immer häufiger auftretenden Sexszenen auffallen, bis sich am Ende der Eindruck eines inkognito ins Unterhaltungssegments der Buchhandlungen geschmuggelten Pornos verfestigt hat. Wie kam es zu diesem Missverständnis? Vielleicht "liegt die Antwort im historischen Kontext, in dem der Roman entstanden ist: Das Manuskript wurde im Jahr 2017 verkauft, also in dem Jahr, in dem New Yorker und New York Times im Oktober den Weinstein-Skandal aufdeckten und damit die 'Me Too'-Debatte ins Rollen brachten. Es könnte also leicht so gewesen sein, dass der Verlag eine halbe Million Dollar für ein Manuskript ausgegeben hatte, das gerade noch ein verheißungsvoller Bestseller war, von einem Tag auf den anderen aber plötzlich ein Problem. Wer würde nach Weinstein noch den Roman eines 42-jährigen, weißen Mannes lesen wollen, in dem man einer 17-Jährigen ausführlich beim Sex zuschaut?"

In einem Standard-Essay stellt Ernst Schmiederer das Projekt eines "Archivs der Gegenwart" seiner Gruppe Blinklicht Media Lab vor, das seit 2011 schon hunderte autobiografischer Skizzen gesammelt und zugänglich gemacht hat und nunmehr vollends nach den Sternen greift: "Wir wollen von noch mehr Menschen noch mehr Geschichten sammeln, die noch mehr erzählen über noch mehr unterschiedliche Lebensverhältnisse in noch mehr sozialen Kontexten in noch mehr Sprachen in noch mehr Ländern. Unser Horizont: Wenn jeder Mensch, der Europäer oder Europäerin sein will, seine Geschichte erzählt hat, endet das Experiment."

Weitere Artikel: Für den Tagesspiegel hat Gerrit Bartels FAZ-Kritiker und Schriftsteller Simon Strauß in Rom besucht, wo dieser ein Buch über seinen dortigen Aufenthalt als Stipendiat geschrieben hat. Im Standard spricht die Schriftstellerin Rachel Kushner über ihren Gefängnisroman "Ich bin ein Schicksal" . Christoph Winder schreibt im Standard einen Nachruf auf den Wiener Schriftsteller Ernst Brauner.

Besprochen werden unter anderem  Lawrence Osbornes "Welch schöne Tiere wir sind" (SZ), Kathrin Passigs Grazer Vorlesung "Vielleicht ist das neu und erfreulich" (online nachgereicht von der FAZ), Birgit Weyhes Comicadaption von Fontanes "Unterm Birnbaum" (online nachgereicht von der FAZ) und neue Hörbücher, darunter "Der unbekannte Kosmos des Alexander von Humboldt", gelesen von Ulrich Noethen (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Eberhard Geisler über Jürgen Beckers "Fragment aus Arnstadt":

"Ein paar Hinterhöfe mit Blechbüchsen, Brennnesseln, Sand.
1703/1707.
Das Geräusch dieser und jener Cantate.
..."
Archiv: Literatur

Architektur

Mit Blick nach Usbekistan rauft sich der Denkmalpfleger Jens Jordan in der FAZ die Haare: Um Wirtschaft und Städte zu beleben und den Tourismus anzukurbeln, werden Denkmäler zerstört, andernorts durch Imitate entsetzt und ganze Architekturepochen getilgt: "In den als touristisch verwertbar angesehenen Städten übernimmt die oberste Denkmalbehörde eine Vorauswahl für den Besucher. Ihrer Meinung nach vorzeigbare, vollständig mit glänzender Oberfläche neu dekorierte, mitunter frei erfundene Monumentalbauten werden von den sie umgebenden Altstädten abgetrennt. Die traditionellen Viertel aus schlichten, zur Straße geschlossenen Hofhäusern, errichtet aus 'veralteten Materialien' wie Holzfachwerk und Lehm, gelten als nicht repräsentativ genug und beschämend für das sich modernisierende Land. In Shakhrisabz, einer weiteren Welterbestadt, führten die 'Maßnahmen zur touristischen Entwicklung' zu der äußerst selten ausgesprochenen Empfehlung von Icomos, die Stätte aus dem Verzeichnis des Welterbes zu streichen."
Archiv: Architektur