Efeu - Die Kulturrundschau

Ich reihte sie daran auf und zack

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19.06.2019. Der Friedenspreis geht in diesem Jahr an Sebastião Salgado. ZeitOnline feiert den Brasilianer als den großen Humanisten unter den Fotografen, die Welt sieht in ihm eher einen Theatraliker. Der Guardian hat keine Lust mehr auf Sommerfeste im Pavillon der Serpentine Gallery. Die NZZ beobachtet, wie die Kasseler Museen junge und migrantische Besucher erschließen. In der SZ plädiert Charlotte Krafft für mehr romatische Ironie. In der taz plaudert  die Fotografin und Punk-Chronistin Roberta Bailey über ihre Zeit mit den Ramones.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.06.2019 finden Sie hier

Kunst

Der Brasilianer Sebastião Salgado erhält in diesem Jahr als erster Fotograf den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, nach Navid Kermani, Jaron Lanier, Margaret Atwood, Carolin Emcke oder Aleida und Jan Assmann. Auf ZeitOnline begrüßt Björn Hayer die Entschiedung für Salgado als einem "Humanisten des Blickes": "An den Arbeiten des strikt in Schwarz-Weiß fotografierenden Salgado berührt vor allem, wie sich in den Aufnahmen zunehmend eine wachsende Verzweiflung des Fotografen einschrieb über die Ungerechtigkeit der Welt." Im Tagesspiegel glaubt Kai Müller: "Niemand ist gegen diese ästhetische Religiösität gefeit." In der taz schreibt Brigitte Werneburg.

In der Welt ist Swantje Karich mäßig begeistert von dieser Entscheidung. Ihr sind Salgados Bilder zu theatralisch, zu spektakulär, manchmal auch zu kitschig: "Was an seinem Werk vor ein paar Jahren kritisiert wurde, die Abkehr vom Menschen, trifft jetzt den Zeitgeist im Klimawandel. Mit 'Fridays for Future' steht eine Generation auf, die weiß, dass sie die großen Kriege der Welt nicht lösen, beim Klimawandel aber wirken kann und sich um ihre eigene Zukunft Sorgen macht. Und genauso wie 'Fridays for Future' bietet auch Sebastião Salgados Werk viel Angriffsfläche, viel Stoff zur Diskussion und Provokation - wie schon seine Vorgänger beim Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Die Goldmine wurde nach der Veröffentlichung von Salgados Fotos geschlossen. Zweifellos hat er damit Frieden gestiftet. Das aber ist lange her." Der Fotograf Rolf Nobel wirft Salgado im DlfKultur gerade in seinen Afrika-Bilder einen "kolonialistischen" Blick vor.

Mit der Ausstellung "Verliebt in Saskia. Liebe und Ehe in Rembrandts Zeit" wollen die Kasseler Museum auch junge Menschen, Einwanderer und nicht-akademische Milieus ansprechen. NZZ-Kritiker Christian Saehrendt findet den Ansatz gar nicht schlecht, auch wenn er sich einige Spitzen gegen die politische Korrektheit nicht verkneifen kann: "Durch einen deutlichen Schwerpunkt in der Kulturgeschichte, nicht nur in der Kunstgeschichte, soll also ein neues Publikum erschlossen werden. Es ist zu hoffen, dass das Konzept aufgeht. Doch stehen die Kasseler Museen vor einem Zielkonflikt: Einerseits will man populär werden, und dazu soll die ganz traditionelle Marketing-Maxime 'Sex sells' beitragen. Anderseits will man politisch korrekt sein. 'Verliebt in Saskia' - eigentlich geht es ja hier um die heterosexuelle Liebe unter weissen Europäern. Gleich ein doppeltes Reizthema für alle Diversity-Aktivisten."

Nach dem Hickhack um den AfD-nahen Künster Axel Krause und den österreichischen Landser-Maler Odin Wiesinger fordert Stefan Weiß im Standard einen souveränen Umgang mit rechten Künstlern: "Die politischen Institutionen haben gegenüber den kulturellen einen Erfahrungsvorteil. Sie sind daran gewöhnt, Meinungspluralismus, auch von rechts, zuzulassen und die argumentative Auseinandersetzung zu suchen. Erlaubt ist, was auf dem Boden der demokratischen Verfassung geäußert wird. Dabei gibt es allerdings auch keine Verpflichtung für Politik und Kultur, all diesen Meinungen ein Forum bereiten zu müssen. Tolerieren kommt von dulden, nicht von umarmen."

Weiteres: Für die taz streift Ingo Arend durch die Kunstszene der kurdischen Stadt Diyarbakirs. Besprochen wird die Ausstellung "Body Check" mit Werken von Maria Lassnig und Martin Kippenberger im Münchner Lenbachhaus (FAZ).
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Architektur

Junya Ishigamis Sommerpavillon. Foto: Serpentine Gallery

Im Guardian kann Oliver Wainwright die tollkühnen Strukturen des japanischen Architekten Junya Ishigami nur bewundern. Für den Sommerpavillon der Serpentine Gallery hat Ishigami einen Hügel aus Schieferplatten errichtet, der Landschaft und Gebäude zugleich sein soll. Doch weil der Pavillon vor allem dazu dienen soll, Sponsoren des Kunsthauses zu bewirten, mussten zusätzliche Säulen und Glaswände eingezogen werden, die aus demeigentlich schwebenden Bau einen Sicherheitstrakt machten. Für Wainwright reicht es: "Nachdem zwanzig Jahre lang neue Gebäude in Auftrag gegeben wurden, um Sommerfeste für Sponsoren zu veranstalten, ist es an der Zeit, über das Format neu nachzudenken und über die Grenzen des Museumsgarten zu blicken. Schulen brauchen neue Klassenräume, öffentlicher Raum braucht Dächer, und zahlreiche andere suchen händeringend nach der Energie und dem Erfindungsgeist, die jedes Jahr in diesen Wahnsinn gehen." Und dann muss auch noch die Serpentine-Leiterin Yana Peel wegen ihrer Verbindung zu einer israelischen Sicherheitsfirma gehen! Dezeen liefert nichtsdestotrotz einige aufregende Bilder.
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Bühne

Christina Kaindl-Hönig bilanziert im Tagesspiegel die Wiener Festwochen, die der Berlgier Christophe Slagmuylder ihrer Ansicht nach wieder zum Pulsieren brachte. Der Standard meldet, dass Mailand nicht den Vertrag des Scala-Intendanten Alexander Pereira verlängern wird, der Saudia-Arabien als Geldgeber ins Haus holen wollte.

Besprochen werden der Ballett-Abend "Shakespeare-Sonette" in Hamburg (SZ, FAZ), der Tanzabend mit "Gaia" von Liliana Barros und "bellulus" von Stephan Thoss in Mannheim (FR).
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Film

In den Fängen der dramaturgischen Schrauben: "Eine moralische Entscheidung"

Sehr begeistert kommt SZ-Kritiker Tobias Kniebe aus Vahid Jalilvands "Eine moralische Entscheidung", einen iranischen Film über einen Unfall und die Folgen. "Es ist schon immer wieder meisterhaft, wie die iranischen Regisseure es verstehen, langsam und äußerst realistisch die dramaturgischen Schrauben anzuziehen, bis ihre Figuren in einem existenziellen Dilemma feststecken. ... Der Vorteil dieses Kinos ist, dass es tiefe Strömungen in der iranischen Gesellschaft offenlegen kann, ohne explizit den Raum des Politischen zu betreten, der in Iran nach wie vor gefährlich ist."

Nichts zählt wirklich: Dome Karukoskis "Tolkien"

Eher etwas lauwarm wird hingegen Dome Karukoskis Biopic über den Fantasy-Großmeister J.R.R. Tolkien besprochen. Etwas sehr versessen ist der Film über die jungen Jahre des Schriftstellers darauf, dass alles schicksalshaft auf die Entstehung von Tolkiens Fantasywelt Mittelerde hinausläuft, so Susan Vahabzadeh in der SZ: Der Film changiert munter zwischen Liebes- und Kriegsfilm, ist  "ein bisschen von allem, abwechselnd, oft wenig subtil präsentiert, aber nichts davon zählt wirklich. Hauptsache, es geht hier irgendwie um den jungen Tolkien." Und da sei auch noch einiges faktisch falsch. In der FAZ hält Tilman Spreckelsen fest: "Allzu oft verliebt sich die Kamera in Details, in Tapeten, Geschirr, Buchrücken oder Lampen, als staune sie so gut wie wir über dieses Dekor. Tolkien, gespielt von Nicholas Hoult, staunt mit, er läuft oft genug durch diese Welt, als gehöre er gar nicht ganz dazu." Den Film "umweht der Geist des Gestrigen", schreibt Simon Rayss im Tagesspiegel.

Weiteres: Im Standard sprechen Lotte Schreiber und Michael Rieper über ihren Dokumentarfilm "Der Stoff, aus dem die Träume sind", der selbstverwaltete Wohnprojekte beobachtet.
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Literatur

"Romantische Ironie" könnte dabei helfen, aus der dystopischen Sackgasse der Gegenwartsliteratur herauszufinden, schlägt Charlotte Krafft in der SZ vor: Zwar lasse sich die Gegenwartsliteratur spürbar häufiger auf Science-Fiction-Themen ein, doch sind ihr Utopien suspekt geworden. Hingegen "romantisch ironische oder auch hyperironische Science-Fiction, das wäre eine Science-Fiction, die sich weder ernst noch rhetorisch ironisch gibt - eine spekulative Literatur, die Kontingenz zum poetischen Prinzip macht, zum Beispiel, indem sie Welten entwirft, deren Bestandteile so fremd sind, dass sie an Fantasy oder Dadaismus anmutenden Schwachsinn grenzen, ohne, dass man sie zweifelsfrei als Schwachsinn identifizieren könnte, denn wer weiß schon, was in der Zukunft schwachsinnig ist und was nicht." Ein diese Ansätze bereits skizzierender Roman sei im übrigen Leif Randts "Planet Magnon", so Krafft.

Weitere Artikel: ZeitOnline dokumentiert Robin Detjes Laudatio auf die die mexikanische Schriftstellerin Fernanda Melchor und ihre deutsche Übersetzerin Angelica Ammar, die gestern für den Roman "Saison der Wirbelstürme" mit dem Internationalen Literaturpreis ausgezeichnet wurden: Ein im besten Sinne überforderndes Werk, erfahren wir. Lothar Müller berichtet in der SZ vom Berliner Poesiefestival, wo ihm insbesondere die Auftritte von Rainer René Müller und Sergio Raimondi imponierten. Die Schriftstellerin Monique Schwitter erinnert sich in der NZZ an ihre ersten Gottfried-Keller-Lektüren. Die ZeitOnline-Reihe "10 nach 8" bringt eine Erzählung der syrischen Schriftstellerin Rahab Haidar über ein Kamerateam in Syrien.

Besprochen werden unter anderem Rachel Kushners "Ich bin ein Schicksal" (NZZ), Cees Nootebooms "Venedig - Der Löwe, die Stadt und das Wasser" (NZZ), Markus Gassers "Die Launen der Liebe. Wahre Geschichten von Büchern und Leidenschaften" (NZZ), Xaver Bayers Erzählband "Wildpark" (Standard), Arnulf Conradis "Zen und die Kunst der Vogelbeobachtung" (Tagesspiegel) und Joey Goebels Erzählband "Irgendwann wird es gut" (FAZ).
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Musik

"Die Mauer stand einfach da": Punkgeschichte auf dem Spielplatz

Ein schön anekdotenreiches Gespräch hat Julian Weber für die taz mit der Fotografin und Punk-Chronistin Roberta Bailey geführt, die insbesondere die Visualität der frühen Punkjahre mit ihren Aufnahmen stark geprägt hat. Unter anderem hat sie das rotzig-schlichte Cover des Ramones-Debütalbums fotografiert - auch wenn es bei der Session noch gar nicht darum ging, ein Bild für ein Plattencover zu finden. "Ursprünglich waren die Fotos als Coverstory für die dritte Ausgabe des Magazins Punk gedacht. ... Ich möchte Sie jetzt nicht enttäuschen, aber die Mauer stand einfach da. Wir hingen im Ramones-Loft in der East-2nd-Street ab, wo sie mit ihrem Lichtmischer Arturo Vega wohnten. Die Fotos in der Wohnung waren langweilig, also gingen wir nach draußen und kamen an einem Spielplatz vorbei, der von dieser Mauer begrenzt wurde. Ich reihte sie daran auf und zack." Noch bis 23. Juni sind Baileys Fotos im Berliner Ramones-Museum zu sehen.

Weitere Artikel: Die dänische Jazzschlagzeugerin Marilyn Mazur spricht in der taz unter anderem über ihre Zusammenarbeit mit Miles Davis und Jan Garbarek. In der SZ spricht Michael Stallknecht mit dem Musikwissenschaftler Jean-Christophe Keck über Jacques Offenbach, der morgen vor 200 Jahren geboren wurde. Thomas Schacher lässt sich für die NZZ von Bariton Thomas Hampson das Singen beibringen.

Besprochen werden ein Konzert des DSO unter Mikhail Tatarnikov (Tagesspiegel), ein Konzert des Babylon Orchestras (Tagesspiegel) und neue Popveröffentlichungen, darunter das neue Album der britischen Anarcho-Punk-Band Bad Breeding, auf dem einem laut SZ-Popkolumnist Julian Dörr "nichts als die kalte, ungerechte, spätkapitalistische Realität" entgegen schlägt.
Archiv: Musik