Efeu - Die Kulturrundschau

Eine intellektuelle Volte nach der anderen

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20.06.2019. Tagesspiegel und FR verneigen sich vor Alexander Kluge und dem philippinischen Regisseur Khavn De La Cruz, die mit ihrem Film "Happy Lamento" das Kino revolutionieren. Die taz lernt beim Impulse Theater Festival, wie "Angsträume" das Image einer Stadt prägen. Kunst ist nicht global, beharrt die NZZ. Und im monopol-magazin ärgert sich die Amerikanistin Mita Banerjee über die Indianer-Klischees der Karl-May-Festspiele.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.06.2019 finden Sie hier

Film

"Happy Lamento" von Alexander Kluge und Khavn De La Cruz

Filmkritiker im Glück: Dieser "Film ist ein Geschenk", jubelt Andreas Busche im Tagesspiegel nach "Happy Lamento", Alexander Kluges gemeinsam mit dem philippinischen Punk-Kino-Rebellen Khavn De La Cruz gestemmtes Kino-Comeback nach über 20 Jahren. Zu bezeugen ist "ein formal außer Kontrolle geratener Clash aus Kluges collagenhaftem Essaystil, mit denen er seit den Neunzigern in unterschiedlichsten Formaten in den Nachtprogrammen der Privaten herumexperimentiert, und dem wüsten Genremix Khavns, der seine Darsteller meist von der Straße castet. ... Der 87-jährige Kluge läuft mit 'Happy Lamento' wieder zu Höchstform auf, er hat in dem halb so jungen Khavn allerdings auch einen kongenialen Partner gefunden."

Auf einen Jungbrunnen der Kinokunst ist hier auch FR-Kritiker Daniel Kothenschulte gestoßen: "Das Kino erlebt gerade den radikalsten Wandel seit der Wende zum Tonfilm Ende der zwanziger Jahre. Nun kommt es darauf an, was wir daraus machen. Das Duo Alexander Kluge/ Khavn De La Cruz gibt eine gute Idee davon. Ebenso gut könnte man sich vorstellen, dass Youtuber demnächst die wunderbare Magie des Kinosaals für sich entdecken. Anstatt über den Untergang zu jammern, gibt es hier ein paar Anregungen für ein glückliches Lamento."

Daniel Gebhardt staunt derweil auf ZeitOnline Bauklötze über den sensationellen Erfolg der HBO-Miniserie "Chernobyl", die in sämtlichen Publikumsratings absolute Spitzenwerte erreicht und sich zum Social-Media-Dauerbrenner gemausert hat. "Lange Zeit hieß es, man könne die Ereignisse von Tschernobyl selbst dem leiderprobten, an jede Reizüberflutung gewöhnten TV-Publikum der Gegenwart nicht zumuten. Nun meldet sich ein erheblicher Teil dieses Publikums zu Wort und kürt 'Chernobyl' zur besten Fernsehserie, die es jemals zu sehen gab."

Weitere Artikel: In der taz empfiehlt Andreas Hartmann eine Carlos Reygadas gewidmete Werkschau im Berliner Kino Arsenal (siehe dazu auch unsere aktuelle Magazinrundschau). Nina Jerzy erinnert in der NZZ an Tim Burtons "Batman", der vor 30 Jahren in den Kinos startete und die moderne Ära des Superheldenfilms einläutete.

Besprochen werden Vahid Jalilvands "Eine moralische Entscheidung" (taz, mehr dazu bereits im gestrigen Efeu), das Biopic "Tolkien" (NZZ, mehr dazu hier), die romantische Komödie "Long Shot" mit Charlize Theron und Seth Rogen (Welt), Justin Baldonis "Drei Schritte zu Dir" (Standard), Petra Costas Netflix-Dokumentarfilm "The Edge of Democracy" über die politische Lage in Brasilien (FAZ) und Reginald Le Borgs auf DVD veröffentlichter Gruselfilm "Die Schreckenskammer des Dr. Thosti" aus dem Jahr 1956 (critic.de).
Archiv: Film

Literatur

Jens Uthoff berichtet in der taz von der Verleihung des Internationalen Literaturpreises an die mexikanische Schriftstellerin Fernanda Melchor und deren Übersetzerin Angelica Ammer für den Roman "Saison der Wirbelstürme", der auf ziemlich drastische Weise von Frauenmorden erzählt. "Der Roman besteht zum Großteil aus Bewusstseinsströmen seiner Figuren, die oft endlosen Laster- und Lästerreigen gleichkommen", erklärt Uthoff. "Es geht um das 'Dreckskaff', die 'Dreckskerle', die 'Drecksweiber', es wird geflucht, gevögelt und geschändet, es gibt sehr viel explizite Sprache. ... Diese unerbittliche Sprache, die ins Deutsche zu übertragen für Angelica Ammar sicher Schwerstarbeit war, ist ein Grund, warum der Roman gewann - schließlich ist der Internationale Literaturpreis ausdrücklich auch ein Übersetzer_innenpreis." Und Leander F. Badura ergänzt im Tagesspiegel: Melchors "Stärke ist es, einer Welt gerecht zu werden, die die modernen Klassiker gar nicht zu beschreiben hatten: die festgefahrene, perspektiv- und geschichtslose Gewalt."

Weitere Artikel: Im Verlagsblog von S. Fischer erinnert sich Hans Jürgen Balmes mit Wonne an kindliche Jules-Verne- und Karl-May-Lektüren sowie den einstigen Zauber der Raumfahrt. Besprochen wird Klaus Schlesingers Nachlassroman "Der Verdacht" (Tagesspiegel). In der NZZ sucht Andreas Langenbacher den Sinn in Schreibblockaden und Rainer Moritz den Sinn in Schauspieler-Romanen.
Archiv: Literatur

Bühne

Wie wenig Image und Wirklichkeit einer Stadt miteinander zu tun haben können, erkennt taz-Kritikerin Dorothea Marcus beim Impulstheater-Festival in Köln, das sich der Frage widmet, welche öffentlichen Bilder eine Gesellschaft prägen. Der Dom? Das Kölsch? oder doch "Angsträume" wie der Drogenumsschlagplatz am Neumarkt oder die Silvesternacht 2016? Angsträume entsprechen nicht konkreten Bedrohungslagen, lassen sich medial aber "besonders schön hysterisieren", sagt Haiko Pfost, Leiter des Impulstheater-Festivals, laut Marcus: "Wie subjektiv sie sind, untermauern auch Julian Warner und Oliver Zahn, wenn sie zeigen, wie die Angst-Psychologie in verschiedenen Zeiten wirkt. In ihrer Textcollage 'Sexismus, Rassismus und Nationalismus. Eine Probe' tragen sie im Kölner Grüngürtel vor, wie schon nach dem Ersten Weltkrieg die Angst vor dem Fremden geschürt wurde: 'Junge Mädchen sind von der Straße weggeschleppt worden, um der bestialischen Wollust afrikanischer Wilden zu dienen', steht auf Flugblättern gegen die französische Besetzung des Rheinlands."

Julian Hetzel. "All inclusive". Foto: Rolf Arnold

"Bitterkomisch, zynisch und manchmal kaum auszuhalten", findet Nachtkritikerin Sarah Heppekausen derweil Julian Hetzels beim Impulse Theater Festival gezeigte Performance "All Inclusive", für die der Regisseur Geflüchtete castete, denen in der Inszenierung eine Kunstvermittlerin "die ästhetische Seite von Krieg und Gewalt" anpries: "Das Publikum schaut in den Düsseldorfer FFT Kammerspielen in einen weißen Ausstellungsraum. Ein männlicher Körper in klassischer, skulpturaler Pose. Ein anderer verdreht dessen Kopf und Arm, bis eine Schussposition erkennbar ist. Der Eingriff reicht immer weiter, bis irgendwann beide Männer Kampf- und Siegesposen einnehmen, das Machtgefüge wechselt. Kunst und Betrachtung beeinflussen sich, bis die Grenzen verschwimmen. 'Echter Schweiß', frohlockt dann auch die Kunstvermittlerin, als sie ihrer Besucher*innengruppe (Laien-Darsteller*innen u.a. aus Syrien) die ausgestellten Körper präsentiert."

Vieles aus der queeren Geschichte wissen wir bis heute nicht, sagt im Interview mit der Berliner Zeitung Ricardo Carmona, Kurator des queeren Festivals "The Present ist not enough. Performing Queer Histories and Future":"Wir haben im Archiv des Schwulen Museums und in der Magnus Hirschfeld Gesellschaft nach Fotos von queeren Menschen aus der Weimarer Republik gesucht, da gab es einige. Damals konnten Transgender-Personen Ausweise erhalten, ausgestellt von Magnus Hirschfelds sexualwissenschaftlichem Institut, die es den Inhabern erlaubten, sich öffentlich in queerer Kleidung zu zeigen. Die Ausweise wurden von der Polizei akzeptiert. Wir denken, die Anerkennung von Transgender sei etwas ganz Neues, aber das hat es schon damals gegeben."

Weitere Artikel: Das Monopol-Magazin hat mit Wissenschaftlern gesprochen, die kritisieren, dass die Karl-May-Festspiele ein klischeehaftes Bild von "den Indianern" verbreiten und somit die Vielfalt indianischer Kulturen negieren würden. Mita Banerjee, Professorin für Amerikanistik am Obama Institute for Transnational American Studies in Mainz, sagt: "Stellen Sie sich vor, irgendwo in Afrika feiert ein Land ein Festival, bei dem eine erfundene Geschichte über einen Deutschen aufgeführt wird, und alle tragen ausschließlich Lederhosen und Dirndl und essen nichts als Sauerkraut. Immer. Was würden wir wohl dazu sagen? Wir würden sagen: 'Das ist ja ein absolutes Klischee.'" Ebenfalls im Monopol-Magazin erklärt Schorsch Kamerun, warum und wie er das Bauhaus an der Volksbühne beerdigen will.
Archiv: Bühne

Musik

In der taz plaudert Andreas Hartmann mit der Jazzpianistin Aki Takase. In der Welt erinnert Manuel Brug an Jacques Offenbach, der heute vor 200 Jahren geboren wurde. In der NZZ schreibt Thomas Schipperges zu Jacques Offenbach Zweihundertsten.

Besprochen werden Miles Davis' "The Complete Birth of the Cool" (Pitchfork), das Debüt der Rapperin Juju (Tagesspiegel), John Luther Adams' "Become Desert" (Pitchfork), Yeasayers "Erotic Reruns" (taz), eine CD mit Jacques-Brel-Aufnahmen (Presse), Raphaela Gromes' und Julian Riems neue CD mit Offenbach-Aufnahmen (Presse) sowie Phil Collins' Auftritt in Zürich (NZZ).
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Kunst

Die Kunst ist keineswegs global geworden, entgegnet Daghild Bartels in der NZZ jenen Stimmen, die eine Abschaffung der Länderpavillons der Kunstbiennale in Venedig fordern, da diese in Zeiten der Globalisierung nicht mehr zeitgemäß seien: "Themen und Sujets, welche von Künstlern der unterschiedlichen Kontinente bearbeitet werden, speisen sich immer aus deren Herkunft und Kultur. Ein Ai Weiwei reüssiert zwar auf internationalem Parkett und lebt in Berlin, doch seine Kunst hat stets einen chinesischen Input. Hätten die metallischen Tapisserien eines El Anatsui von einem Schweizer kreiert werden können? Ist die Kunst eines William Kentridge ohne seine Heimat Südafrika denkbar?"

Weitere Artikel: Hyperallergic meldet, dass das New Yorker Mäzenaten-Paar Bernhard und Lisa Selz, dass Millionen an die Frick Collection, das Brooklyn Museum, das Dallas Arts Museum, den World Monuments Fund und weitere Institutionen gespendet hat, ebenso großzügig gegenüber Organisationen auftritt, die sich unter anderem durch die Verbreitung von Fehlinformationen gegen Masern-Impfung einsetzen.
Archiv: Kunst

Architektur

Beim Anblick der großen Fotofolie vom Palast der Republik, die die Kunsthalle Rostock gerade präsentiert, kommen bei Welt-Kritiker Michael Pilz Erinnerungen hoch: "Jeder, der vor 1990 im Palast der Republik war, und das war so gut wie jeder in der DDR, hielt die politische Aura des Hauses aus, wie er alles Politische im Alltag aushielt: In der spöttischen Distanz zu 'Erichs Lampenladen' und 'Palazzo Prozzo', wie Wolf Biermann sang, besuchte man Konzerte von mit Meißner Porzellan bezahlten Woodstock-Veteranen und trank dekadente Cocktails. Man ging ins Theater und sah sich die Ölschinken der Staatsmaler genauer an. Den abstürzenden Ikarus von Bernhard Heisig und die aus der stinkenden Stadt ins Grüne flüchtende Familie bei Wolfgang Mattheuer."
Archiv: Architektur