Efeu - Die Kulturrundschau

Etwas Indezentes

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27.06.2019. Kosmisch und intensiv finden die Filmkritiker Carlos Reygadas Western "Nuestro Tiempo" über die offene Beziehung eines Stierzüchterpaares. In der Zeit malt ein zutiefst beleidigter Neo Rauch seine Kritiker mit Kot und Hitlergruß. Die NZZ erinnert an den schwarzen Hollywood-Architekten Paul Williams, der seine weiße Kundschaft mit Taschenspielertricks von seiner Hautfarbe ablenkte. In der taz erzählt der polnische Regisseur Michal Borzuch, wie Kirche und Regierung in Polen HIV-Prävention verhindern. Und Zeit Online blickt in die Hölle von Klagenfurt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.06.2019 finden Sie hier

Film

Die Bezogenheit der Körper: Carlos Reygadas' "Nuestro Tiempo"

Carlos Reygadas gehört zu den Metaphysikern des Körper-Kinos, was auch sein neuer Film "Nuestro Tiempo" über ein mexikanisches Stierzüchter-Paar, bei dem die Frau sich auf eine Affäre mit einem US-Amerikaner einlässt, wieder unter Beweis stellt. Reygadas zeige seine Figuren in "kosmischer Verbundenheit" , erklärt Silvia Bahl im Filmdienst, und wie in all seinen Film zeige sich diese "durch die Lebenskraft, den Eros und die sexuelle Energie. ... Kaum jemand versteht es wie Reygadas, mit so viel Intensität empfindsame Körper in ihrer Umgebung zu filmen. Das hängt vor allem damit zusammen, dass Raum und Akteure bei ihm nie ausschließlich in den Dienst einer Handlung gestellt werden, sondern stets die Autonomie ihrer Bezogenheit im Fokus steht." In der taz hat Johannes Bluth, "die komplexe, emotionale Bandbreite einer langjährigen Paarbeziehung selten intensiver in einem Film" erlebt. Im Perlentaucher ist Sebastian Markt fasziniert von Reygadas visuellem und auditiven Erfindungsreichtum. Für ZeitOnline hat sich Arno Raffeiner mit dem Regisseur, der hier gemeinsam mit seiner Ehefrau Natalia López die Hauptrolle spielt, getroffen.

Annäherung an den Ersten Weltkrieg: Peter Jacksons "They Shall Not Grow Old"


Auf verhaltene Reaktionen stößt Peter Jackson mit seinem Dokumentarfilm "They Shall Not Grow Old" über den Ersten Weltkrieg, für den der Blockbuster-Regisseur historische Filmaufnahmen mit aufwändigen Mitteln eingefärbt, mit einer Tonspur versehen und in 3D-Optik konvertiert hat: "Die Szenen, in denen er die Gesichter von damals zum Sprechen bringt, haben etwas Indezentes", schreibt Andreas Kilb in der FAZ. "Sie rauben den Dokumenten jenen Schleier des Geheimnisses, durch den sie sich von bloßen Rekonstruktionen unterscheiden. Dabei liegt die Wahrheit auch ohne Zwang in den Bildern selbst." SZ-Kritikerin Martina Knoben staunt zwar gerne über die Wucht der Bilder, vermisst aber die historische Erkenntnis des Spektakels und beobachtet zudem einen paradoxen Effekt: "Die Annäherung an die Soldaten gelingt nur um einen hohen Preis - indem die Grenze zwischen Fiktion und Realität völlig verwischt wird. In den Zeiten von Deep Fakes ist das eine heikle Strategie. Die historischen Aufnahmen sehen zwar aus wie gestern gedreht, dabei aber vollkommen künstlich." Welt-Redakteur Sven Felix Kellerhoff ist derweil sehr zufrieden: Der Film "ist ziemlich gut gemacht und vermittelt Empathie mit den verehrten oder getöteten Männern, ohne voyeuristisch zu wirken."

Weitere Artikel: Eher etwas amüsiert kommentiert Tagesspiegel-Redakteur Andreas Busche Markus Söders gestern in der SZ verkündeten Großpläne für das Filmfest München: "Allzu ernst" solle man die Äußerungen nicht nehmen, dafür seien sie "einfach zu konfus."

Besprochen werden eine Neuauflage von Cameron Crowes Gesprächsband mit Billy Wilder (NZZ), Susanne Heinrichs Diskurs-Komödien-Essayfilm "Das melancholische Mädchen" (Standard, Dlf Kultur, Filmgazette, mehr dazu bereits hier und dort), das Drama "Wo ist Kyra?" mit Kiefer Sutherland und Michelle Pfeiffer (SZ, FAZ), Khoos "Ramen Shop" (Standard), der Animationsfilm "Pets 2" (NZZ), Marco Wilms' am Samstag in Berlin gezeigter Dokumentarfilm "Ein Traum in Erdbeerfolie" über Mode in der DDR (taz), die Netflix-Serie "What/If" mit Renée Zellweger im Geschlechterrollentausch (FR) und Klaus Lemkes "Neue Götter in der Maxvorstadt", der im Juli auf dem Filmfest München zu sehen sein wird (SZ-Kritiker David Steinitz verspricht einen von Lemkes besten Filmen der letzten Jahre).

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Literatur

Christoph Schröder erklärt den ZeitOnline-Lesern das Phänomen "Bachmann-Preis in Klagenfurt" und gelangt dabei zu dem Fazit: "Wenn die Literatur zum Teufel geht, dann gibt es keine passendere Hölle als Klagenfurt." Zum Bachmann-Spektakel in jedem Jahr zählen auch die Autoren-Videoporträts, mit denen sich Gerrit Bartels für den Tagesspiegel ein wenig genauer beschäftigt hat, schließlich "lassen diese Porträts oft Rückschlüsse auf den Text zu. ... Am besten neben Heitzler dieses Jahr ist die Schweizerin Silvia Tschui, die gar nicht selbst zu sehen ist in ihrem Porträt, sondern sich von einem Freund vorstellen und den mehrmals sagen lässt, sie brauche verdammt nochmal das Preisgeld. 'Und dringend auch ein bisschen Anerkennung'."

Weitere Artikel: Stefan Pannor verabschiedet sich im Tagesspiegel vom einflussreichen und stilbildenden Comiclabel Vertigo, mit dem der Comicverlag DC 26 Jahre lang eher kontroverses, für sein Hauptprogramm eher ungeeignetes Material veröffentlicht hat. Viel Spaß hat Gregor Dotzauer an Saša Stanišićs Twittergeständnis, in Hamburg heimlich über seinen eigenen Roman "Vor dem Fest" erfolgreich eine Abiturprüfung abgelegt zu haben:




Besprochen werden unter anderem Tom Blass' "Die Nordsee" (Tagesspiegel), Benjamin Balints "Kafkas letzter Prozess" (SZ), Joseph Incardonas "Asphaltdschungel" (online nachgereicht von der FAZ) und eine von Hannes Binder illustrierte Ausgabe von Gottfried Kellers "Ursula" (FAZ).

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Architektur

Bild: Eric Salard - Theme building LAX AIRPORT. Quelle: Wikimedia

In der NZZ erinnert Nana Demand an den afroamerikanischen Architekten Paul Williams, der zwischen den 1920er und 1970er Jahren mit dem "Eiffelturm von Los Angeles", Prachtvillen und öffentlichen Gebäuden das Bild von Hollywood maßgeblich prägte, als Schwarzer zur Zeit der Rassentrennung in keiner der von ihm gestalteten Gegenden wohnen durfte, aber mit viel Ausdauer zu einem der erfolgreichsten Architekten seiner Zeit wurde: "Ein Drahtseilakt aus geschickter Selbstdarstellung und überragendem handwerklichem Können, aus überraschendem Situationswitz und aberwitzigem Einsatz verwandelte die Vorurteile seiner elitären weißen Kundschaft in fabelhaftes Staunen. So lernte er beispielsweise, seine Skizzen und Entwürfe über Kopf zu zeichnen: Dieser Taschenspielertrick war Ablenkungsmanöver und Notwendigkeit zugleich. Er ermöglichte es ihm einerseits, die Aufmerksamkeit prospektiver Kunden zu ködern und so von seiner Hautfarbe abzulenken. Andererseits gewährleistete er eine räumliche Trennung zwischen ihm und seinem weißen Gegenüber, das diese gewohnt war. Klienten konnten in für sie angenehmem Abstand auf der anderen Seite des Tisches Platz nehmen, anstatt direkt neben Williams seinen Ausführungen folgen zu müssen."
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Bühne

Für die taz hat sich Agata Hofrichter mit dem polnischen Regisseur Michal Borzuch getroffen, der auf dem queeren Festival "The present is not enough" im HAU sein Stück "Untitled (Together Again)" über die Aids-Epidemie der Achtziger zeigt und mit ihm über den Umgang mit den Themen HIV und LGBTIQ in Polen gesprochen: "'Von staatlicher Seite gibt es keine Politik, die auf Aufklärung und Prävention abzielt', sagt Borczuch, der selbst schwul ist. Es ist ein Problem, das sich auch aus dem nach wie vor starken Einfluss der katholischen Kirche auf die Politik und Gesellschaft ergibt. Nahezu 90 Prozent der Polen sind Katholiken. Was die Kirche ihnen durch Medien und Heilige Messen einflüstert, gilt vielen, besonders älteren Gläubigen, als unumstößlich. Und von Empfängnisverhütung und nicht heteronormativen Lebensentwürfen hält die katholische Kirche bekanntlich wenig. Seit sie im Oktober 2015 die Wahl gewann, trägt die nationalkonservative Partei PiS (Recht und Gerechtigkeit) die Demokratie Stück für Stück ab. Angst und Hass haben sich dabei als nützliche, weil universelle Instrumente erwiesen. Mussten vor ein paar Jahren die Geflüchteten als Feindbild herhalten, heißen die neuen Reizworte 'Gender' und 'LGBT'."

Sehr launig erzählt die russische Kuratorin und Kritikerin Marina Davydova in der Nachtkritik von den Unterschieden zwischen deutschen und russischen Theatersystemen, etwa im Bezug auf Kritiken: "Wenn man deutsche Rezensionen, zum Beispiel zu den Inszenierungen von Frank Castorf, liest und dann unsere Rezensionen heute über praktisch jede Premiere in Russland, kann man das Gefühl bekommen, dass die berühmten deutschen Regisseure durchweg irgendwelche Viererkandidaten des Theaters sind. Während unsere, sogar die nicht besonders berühmten, ein Meisterwerk nach dem anderen herausbringen. Ich versichere Ihnen, das ist nicht so."

Weitere Artikel: Im Zeit-Interview mit Peter Kümmel spricht David Mamet über sein Harvey-Weinstein-Stück "Bitter Wheat" und über Weinstein: "Es geht hier nicht nur um ihn. Ich habe an meinem ersten Tag in diesem Geschäft begriffen, dass es sich grundsätzlich um Ausbeutung dreht. Die schönsten Frauen aller amerikanischen Städte kommen nach Hollywood und kämpfen gegen ihresgleichen um die Chance, eine Filmgöttin zu werden. Und die Mächtigen sagen: 'Oh, goodie! Missbraucht sie, beutet sie aus!' So lief es in Hollywood, und so wird es weiter laufen." In der FAZ erzählt Marc Zitzmann die 350jährige Geschichte der Pariser Oper.
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Musik

Mit sechzig Stunden Netzradio am Stück, durchsetzt mit Raritäten und Kontext stiftenden Fundstücken, feierte sich das britische Elekro-Label Warp zum 30-jährigen Bestehen selbst - weitgehend beglückt und eifrig mitgehört hat tazler Lars Fleischmann: Vor seinen Ohren "spann sich ein imaginäres Netzwerk aus Einflüssen auf, das den häufig verkopften, aber stets konkreten Ansatz von Warp Records widerspiegelt: An den Randbereichen von Pop-Musik wird mit der Avantgarde kokettiert, sich ihrer Mittel angenommen, auch sprödes oder krachiges Material zugelassen. ... Gerade diese fast drei Tage Dauersendung hat unter Beweis gestellt, was Radio einst war: eine Plattform, auf der man sich, losgelöst von visuellen Reizen, tief mit der Materie Klang auseinandersetzen kann. Und der Radio-DJ ist der bessere Gatekeeper des Geschmacks - verlässlicher als jeder YouTube-Algorithmus. Ob Radio-Festivals das nächste große Ding werden?" Hier kann man das Ereignis im übrigen nachhören.

Weitere Artikel: Helmut Mauró berichtet in der SZ vom Leipziger Bachfest, wo ihn mitunter "erhebende bis erhabene Gefühle" beschlichen, während manch anderer sich mit "bierzeltartiger Hemmungslosigkeit" zufrieden gab. Besprochen werden die neunte Ausgabe der Compilationreihe "Spiritual Jazz", die sich diesmal dem Raritätenfundus von Blue Note widmet (Presse), neue Alben der Black Keys und Raconteurs (Tagesspiegel), ein Konzert des Tropicália-Stars Caetano Veloso (Tagesspiegel), ein Auftritt des Singer-Songwriters Alex G (taz) und die Ausstellung "Ein himmlisch Werk. Musikalische Schätze aus dem Kloster Einsiedeln" im Fram Museum in Einsiedeln (NZZ).
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Design

Für den Freitag berichtet Jenni Zylka von einem Abend mit Sahra Wagenknecht und Wolfgang Joop, die über "Mode und Politik" diskutierten.
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Kunst

Vor einigen Wochen hatte Wolfgang Ullrich in der Zeit einen Essay über rechts gesinnte Künstler geschrieben, die sich wie einst die Linken auf die Autonomie der Kunst beriefen (Unser Resümee) - und zu jenen auch den Leipziger Maler Neo Rauch gezählt. Rauch hatte sich darüber derart echauffiert, dass er der Zeit das Foto eines in jeder Hinsicht hässlichen Gemäldes mit dem Titel "Der Anbräuner" schickte, auf dem unschwer zu erkennen, ein Maler mit nacktem Hintern auf einem Nachttopf sitzend mit Kot ein Bild von einer Figur malt, die einen Hitlergruß zeigt - und dieses mit den Initialen W. U. unterschrieben. Ullrich nimmt's gelassen: "'Dass da nun W und U als Initialen stehen und nicht irgendetwas anderes, halte ich eher für einen Zufall', sagt Wolfgang Ullrich. Offenbar fühle sich Rauch grundsätzlich stigmatisiert. 'Ich sehe weniger mich als seinen Adressaten - als vielmehr die Öffentlichkeit insgesamt. Insofern ist es ein mentalitätsgeschichtlich nicht unwichtiges Dokument.'"

Bild: Linda McCartney

Anlässlich der von ihm und seinen Töchtern Mary and Stella kuratierten Linda McCartney-Retrospektive in der Kelvingrove Art Gallery in Glasgow spricht Paul McCartney im Guardian über einige seiner Lieblingsaufnahmen: "Die Fotografen, die sie bewunderte, waren Menschen, die Momente aus dem Handgelenk schossen - Walker Evans, [Henri] Cartier-Bresson, [Jacques Henri] Lartigue -, das, was sie taten eine Form von Reportage war, die sich plötzlich in Kunst verwandelte. Wenn Sie an das berühmte Foto von Cartier-Bresson denken, auf dem der Mann über eine Pfütze springt [Behind the Gare Saint-Lazare, 1932], dann geht es darum, diesen Sekundenbruchteil festzuhalten. Linda konnte instinktiv spüren, wann ein Moment passierte."

Besprochen wird die Ausstellung "Geheimnis der Materie. Kirchner, Heckel und Schmidt-Rottluff" im Städelmuseum, Frankfurt (FR).
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