Efeu - Die Kulturrundschau

Möwen im Allgemeinen und in Cuxhaven

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.07.2019. Birgit Birnbacher gewinnt den Bachmannpreis-Wettbewerb, und die Kritiker fragen sich, wie vorhersehbar ein Text über eine Philosophin ist, die mit Ende 30 in prekärer Selbständigkeit lebt. In der Welt sehnt sich Joachim Lottmann nach mehr Bewegung in Klagenfurt. Die NZZ bemerkt bei Peter Zumthor eine ganz neue Extravaganz.  Die FAZ erinnert daran, wie das Bauhaus Kasimir Malewitsch die kalte Schulter zeigte. Der Freitag erlebt in Chinas neuem Blockbuster-Kino eine  starke Nation mit eisernem Willen, aber ohne Humor. Und Heise steckt noch mal eine Kassette in den Walkman.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.07.2019 finden Sie hier

Literatur

Mit einem Text über eine studierte Philosophin, die sich mit Ende 30 in prekärer Selbständigkeit von Auftrag zu Auftrag hangelt, hat die österreichische Autorin Birgit Birnbacher den Bachmannpreis-Wettbewerb in Klagenfurt für sich entschieden und dabei auch die Kritik weitgehend überzeugt (hier alle Juryvoten im Überblick). "In den harmlos daherkommenden Realismus mischen sich Ionesco-haft absurde Prisen", schreibt Anne-Catherine Simon in der Presse über Birnbachers Geschichte. Alles in allem allerdings ein durchwachsener Jahrgang, bei dem Clemens J. Setz' Eröffnungsrede (hier in Auszügen) noch am besten war, meint Jan Wiele in der FAZ, der mit der Auszeichnung für Birnbacher jedoch gut leben kann: Ihr "Text war in durchgängig ironischem Ton und gelegentlich aufblitzender humoristischer Verdichtung der am besten gerundete." tazler Jens Uthoff muss allerdings schon ein wenig staunen über diese Entscheidung, "weil sehr vieles einfach so aufgeht in dieser Erzählung, weil vorhersehbaren Figuren vorhersehbare Dinge zustoßen, weil er ansonsten in einem akademischem Milieu spielt, von dem schon so oft in ähnlicher Art und Weise erzählt wurde. Natürlich erzählt Birnbacher, die Soziologie und Sozialwissenschaften studiert hat und als Sozialarbeiterin arbeitet, gekonnt und geschliffen, aber es gab mutigere Entwürfe in diesem Jahr." Insbesondere Julia Josts Geschichte "Unweit vom Schakaltal" hebt er hervor.

Für den Schriftsteller Joachim Lottmann ist dagegen der ganze Bachmann-Wettbewerb auf den Hund gekommen, wie er in der Welt erklärt: Das "extreme Missverhältnis von im Grunde unbedeutenden, künstlichen, wertlosen Texten einerseits, und heillosen, absurden, als Eigenpersiflage daherkommenden Überinterpretationen auf der anderen, der Juryseite" sei typisch geworde für diese Veranstaltung. In Klagenfurt rege sich nichts mehr, kein Impuls, nirgends: "Banale Texte, überbordende Erklärungen. ... Es sind Texte, die allesamt nicht für Käufer von Büchern gedrechselt werden, sondern für die Bachmann-Juroren."

Im Standard geht derweil Andrea Heinz mit der Jury hart ins Gericht: Wie diese Martin Beyer für seinen Text über die Weiße Rose abkanzelte, findet sie ungeheuerlich. "Der Bachmannpreis braucht dringend eine neue Ausrichtung. Juroren, die meinen, entscheiden zu können, was und wie 'man' schreiben darf (immerhin gab es Jury-Kollegen, die sich dem deutlich widersetzten) urteilen in einem Bewerb, der mehr und mehr zum Almauftrieb des Literaturbetriebs wird. Der zunehmend zu einer PR-Maschine verkommt."

Auch wenn es mitunter Debatten "über Möwen im Allgemeinen und in Cuxhaven im Speziellen" gab, will ZeitOnline-Kritiker Christoph Schröder auf diese Jury allerdings (fast) nichts kommen lassen, denn sie "funktioniert. Einen nicht geringen Anteil daran hat der Vorsitzende Hubert Winkels, der in seiner Doppelrolle als Vermittler und Diskussionsteilnehmer aufging und ganz nebenbei aus dem Stegreif kleine Feuilletons hervorzauberte." Lediglich Nora Gomringer hält er als Jurorin für deplatziert.

Felix Stephan erinnert in der SZ angesichts der aufschäumenden Diskussionen über Martin Beyer und Ronya Othmann, die über den Genozid an den Jesiden schrieb, daran, dass die Veranstaltung nicht nur ein Lesewettbewerb ist, sondern auch "eine Leistungsschau der deutschsprachigen Kritik. Und auch in diesem Jahr zeigte sich, dass Ästhetik mit der Moral eng verwandt ist, gegen Moralismus aber nahezu immun. Formbewusstsein bedeutet eben nicht, dass man nur dann Gehör findet, wenn man sich vorher auch was Anständiges anzieht. Formbewusstsein bedeutet, dass sich Widersprüche, Lügen und Falschheiten zuverlässig offenbaren, wenn man sich informiert über den Modus unterhält, in dem sie vorgetragen werden." Hier alle in Klagenfurt vorgetragenen Texte und Lesungen im Überblick.

Weiteres: Rettet die Helvetismen, ruft Urs Bühler in der NZZ. Besprochen werden unter anderem Colson Whiteheads "Die Nickel Boys" (Freitag, Presse), Kamel Daouds "Zabor" (Tagesspiegel), Andreas Maiers "Die Familie" (online nachgereicht von der Welt), die Neuausgabe von Erika Manns "Zehn jagen Mr. X" (FR), Joan Didions "Woher ich kam" (SZ), Hermann Hesses "'In den Niederungen des Aktuellen'. Die Briefe 1933-1939" (online nachgereicht von der FAZ), die Ausstellung "Le Questionnaire de Proust" in der Bibliotheca Proustiana Reiner Speck in Köln-Müngerdorf (Tagesspiegel) und neue Krimis, darunter Ivy Pochodas "Wonder Valley" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Werner von Koppenfels über Geoffrey Hills "Die Apostel: Versailles, 1919":

"Sie saßen. Und standen.
Waren sich fremd. Die Luft,
..."
Archiv: Literatur

Architektur

Öffentliche Räume für Los Angeles: Der Entwurf für das LACMA. Bild: Atelier Zumthor

Der Schweizer Architekt Peter Zumthor hat seinen Entwurf für das  Los Angeles County Museum of Art (Lacma) vorgelegt. Der organisch geschwungene Bau (mehr dazu bei Dezeen) soll tatsächlich ein öffentliches Gebäude werden, das Straßenraster überwindet und sich über den Wilshire Boulevard hinweg in den nächsten Block hinein erstrecken. In der NZZ fragt Sabine von Fischer, was denn in den Puristen Zumthor gefahren sei. Der antwortet: "Ich weiß nicht, ob extravagant das richtige Wort ist. Vielleicht so wie die großzügige freie Form des Dachs von Oscar Niemeyer quer durch den Ibirapuera-Park in São Paulo, diese Art der Extravaganz gefällt mir wahnsinnig."

Bauformen können keine politische Botschaft haben, meint Arnold Bartetzky in der FAZ und ärgert sich furchtbar über das Heft Arch+ zu "rechten Räumen", das Bauprojekte auf ihre autoritären und rückwärtsgewandte Symbolik abklopft und dabei die Frankfurter Altstadt und die Dresdner Frauenkirche in eine Reihe mit faschistische Kultorten wie dem Franco-Mausoleum Valle des los Caídos, Mussolinis Geburtsort Predappio und Hitlers Geburtshaus in Braunau setzt. Unjournalistisch findet Bartetzky aber, dass die Autoren nicht mit Hans Kollhoff geredet haben, bevor sie ihm das Ezra-Pound-Zitat auf seinem Walter-Benjamin-Platz um die Ohren hauten: "Warum redete Arch+ nicht mit Kollhoff? Vielleicht aus Angst, dass die schönen, klaren, selbstgerechten Fronten, die man sich hier bastelt - wir links, alle anderen rechts -, durcheinandergeraten? Wenn man mit denen, die man angreift, nicht spricht, sondern nur über sie redet, trägt man zur Klärung wenig bei. Das lässt an den Befund denken, den Walter Benjamin zur Grundproblematik eines linken Radikalismus formulierte: 'er hat ja von vornherein nichts anderes im Auge, als in negativistischer Ruhe sich selbst zu genießen'."
Archiv: Architektur

Kunst

Das Bauhaus hatte Kasimir Malewitsch in seinen Kanon der Avantgarde gehoben. In der FAZ erinnert Noemi Smolik jedoch daran, dass die Bauhäusler dem Maler im Jahr 1927 die kalte Schulter zeigten und aus seinen Schriften alle kritischen Bemerkungen gegenüber der sowjetischen Kulturpolitik strichen: "Wozu sind, schreibt er, 'neue Formen im Raum nütze? Doch dazu, dass sich in ihnen ein neues Weltgebäude gestalte und nicht archäologisches Ausgrabungsgut. In der Fabrik Formen von gestern zu verfertigen oder in der Kunsthochschule einen weiblichen Akt in Rembrandtschem oder Marxschem Licht darzustellen, heißt die Reaktion zu unterstützen.' Und weiter schreibt er: 'In der jetzigen Phase des sozialistischen, freßorientierten Aufbau des Lebenskomforts mit neuen Beziehungsformen wirken die zeitgenössischen Künste wie aus einem Antiquariat.' Doch diese Sätze sucht man vergeblich in der Bauhauspublikation. Sie fehlen schlicht."
Archiv: Kunst

Bühne

Radikale Vitalität der Compagnie Marie Chouinard. Foto: Sylvie-Ann Paré/ Colours

Dorion Weickmann lässt sich in der SZ von den Störfeuern der AfD nicht den Auftakt des "Colours"-Festival in Stuttgart vermiesen: "Tanzelite, so weit das Auge reicht", jubelt sie: "Sensation machen die 'Opera Dogma'-Etüden für Gesicht und vier Hände, die eine Kamera aufzeichnet und auf die Theaterhaus-Rückwand projiziert. Horror pur, wenn sich Motrya Kozbur mit den eigenen Fingern die Visage poliert, Fratzen und Zombiegrimassen aus Wangen, Lippen, Lidern modelliert, um zuletzt zum Gioconda-Lächeln aufzurüsten. Eros pur, wenn sie im Doppel mit Galluccio vaginale Selbstermächtigung feiert: ein feministisches Manifest von berückender und bedrückender Schönheit."

In der taz berichtet Katharina Schmidt vom Fall der Schauspielerin Maya Alban-Zapata, die dem Theater an der Parkaue Rassismus und Beleidigung vorwirft, nachdem sie monatelang mit sich gehadert habe, ob sie es als freie Künstlerin wagen könne, in die Öffentlichkeit zu gehen. Der Regisseur bestreitet böse Absichten, doch eine Stellungsnahme der Dramaturgin Almut Pape zeigt ganz gut, wie post-rassistische Pseudo-Ironie aussieht: "Allgemein stellte sich in den Proben eine Art Stammtisch-Atmosphäre ein. Wenn der Regie-Assistent (ein Schwede) zu spät kam, wurde gerufen 'Der Ausländer kommt zu spät'. Auch Frau Alban-Zapata wurde als 'Ausländer' und 'Peruanerin' bezeichnet, und es wurden wiederholt Bananen-Witze in ihrer Anwesenheit gemacht. Dass sie direkt mit dem N-Wort bezeichnet wurde, habe ich einmal im Rahmen der Proben für eine Szene miterlebt."

Weiteres: Zum Abschied von Burgtheater-Intendantin Barbara Frey erlebte NZZ-Kritikerin Daniele Muscionico "Melancholie nach Noten, persönliche Bekenntnisse nach Drehbuch und, Martin Wuttke in einem irrwitzigen Pollesch-Monolog." Im Standard-Gespräch mit Margarete Affenzeller verschabschiedet sich auch der Schauspieler Joachim Meyerhoff von der Burg, der nach vierzehn Jahren in Wien an die Berliner Schaubühne kommt.

Besprochen werden Christian Stückls Passionsvorspiel "Die Pest" in Oberammergau (FAZ) und Peter Konwitschnys Version von Meyerbeers "Hugenotten an der Semperoper Dresden (FAZ).
Archiv: Bühne

Film

Die Zeit ist auch nicht mehr das, was sie einmal war, ist oder sein wird, erklärt Michael Pekler im Freitag: Filme und Serien kommen derzeit jedenfalls bemerkenswert häufig nicht ohne Zeitreisen und -schleifen aus. Könnte das daran liegen, dass wir uns danach sehnen, zurückzureisen, um die Stellweichen für Schieflagen der Gegenwart neu zu justieren? "Sind wir also, wie es uns gerade ein gutes Dutzend Kino- und Fernsehfilme weismachen will, wirklich darauf angewiesen, das Rad der Zeit zurückzudrehen? Geht uns tatsächlich alles viel zu schnell, und sind wir Selbstoptimierungswahn und sogenanntem Skill Management längst hilflos ausgeliefert? ... Kein Wunder, dass sogar die Marvel-Superhelden, immerhin die Weltenretter schlechthin, im Avengers-Finale nicht ohne simplen Zeitreisetrick den Sieg erringen."

Wolfgang M. Schmitt wirft derweil für den Freitag mit Siegfried Kracauer im Gepäck einen Blick ins Blockbusterkino Chinas, das sich darin für seine kommende Rolle als führende politische Weltmacht fit macht: "Die Volksrepublik inszeniert sich in diesen Filmen als starke Nation mit eisernem Willen. Man fühlt sich an Hollywoods kraftmeierische Produktionen aus der Zeit des Kalten Krieges erinnert." In diesen Filmen "spiegelt sich nicht nur die Gesellschaft wider, sondern auch die Weltpolitik. Diese wird unter chinesischer Führung kaum friedlicher sein. Vielleicht wird man sich schon bald nach dem guten alten Hollywood-Imperialismus zurücksehen - wenn auch nur, weil die Filme der 80er Jahre wenigstens Charme und Humor besaßen."

Weitere Artikel: Marius Nobach berichtet im Filmdienst vom Filmfest München. Für Cargo arbeitet sich Bert Rebhandl durch die Ausgabe 6/1969 der Zeitschrift Filmkritik. Besprochen werden Susanne Heinrichs "Das melancholische Mädchen" (Tagesspiegel, Freitag, SZ, online nachgereicht von der FAZhier und dort unsere Resümees), Michael Matthews' in Südafrika angesiedelter Post-Apartheids-Western "Five Fingers for Marseilles" (taz), Carlos Reygadas' "Nuestro Tiempo" (FAZ, unsere Kritik hier), Peter Jacksons aufwändiger Dokumentarfilm "They Shall Not Grow Old" über den Ersten Weltkrieg (Standard, mehr dazu hier) und die auf Starzplay gezeigte Serie "The Rock" (online nachgereicht von der FAZ).
Archiv: Film

Musik

Auf den Tag genau vor vierzig Jahren brachte Sony den ersten Walkman auf den Markt, an den Karl-Gerhard Haas bei heise.de erinnert: "Der erste Walkman TPS-L 2 - ist taschenbuchgroß, läuft mit einem Satz Batterien lange genug für eine Bahnfahrt oder Flugreise und beschickt nur - ebenfalls kompakte und leichte - Kopfhörer. Da man auf die 1963 von Philips entwickelte Compactcassette als Musikträger setzt, passt ausreichend Abwechslung in Gestalt weiterer Bänder problemlos ins Gepäck." Auch Karl Fluch (Standard) und Christian Vooren (Tagesspiegel) halten medientechnische Rückschau. Einen hübschen Auftritt hatte das allererste Gerät im übrigen vor wenigen Jahren gleich zu Beginn in der Marvel-Sause "Guardians of the Galaxy" (was im Nu diverse Nerdvideos auf Youtube zur Folge hatte).

Gar nicht schlecht ist die große Ausstellung "Electro: De Kraftwerk à Daft Punk" in der Philharmonie in Paris, schreibt Jan Kedves in der SZ (nicht ohne kleinen Verweis darauf, dass eine vergleichbare Ausstellung in der Berliner Philharmonie wohl eher nicht vorstellbar ist). Allerdings ist der soziokulturelle Teil der Ausstellung dann doch wieder bemerkenswert bewegungsphob und vom Studio her konzipiert, "wie fast immer, wenn elektronische Tanzmusik historisch aufgearbeitet wird: Das Tanzen kommt, wenn überhaupt, erst zum Schluss. Weil Tanz so schwer auszustellen ist? ... Dabei könnte man die Geschichte auch genau andersherum erzählen. Dass elektronische Musik nämlich nur deswegen so erfolgreich werden konnte, weil es bereits einen enormen Bewegungsdrang gab, gesellschaftlich, individuell."

Weiteres: Ueli Bernays meditiert sich für die NZZ in den alternden Kiss-Frontmann Gene Simmons, der sich vor dem Schminkspiegel in seine Bühnenpersona The Demon verwandelt. In seinem Klassikblog berichtet Manuel Brug ausführlich vom Richard-Strauss-Festvial in Garmisch-Partenkirchen. Open-Air-Konzerte sind einfach nur noch schlecht, erregt sich Peter Huth in der Welt. Im Tagesspiegel versucht Jochen Overbeck netzarchäologisch den Ursprung für den andauernden Internethype um Totos Oldie "Africa" freizulegen.

Besprochen werden das Berliner Waldbühnenkonzert der Berliner Philharmoniker unter Tugan Sokhiev (Tagesspiegel), Mark Knopflers Auftritt in Wien (Standard) und die Ausstellung "Bilderrätsel" im Bachhaus Eisenach, die sich mit echten und falschen Bach-Bildnissen beschäftigt (taz).
Archiv: Musik