Efeu - Die Kulturrundschau

Das Drama der Ungefälligkeit

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.07.2019. Die SZ feiert die Farben der russischen Avantgarde-Künstlerin Natalja Gontscharowa, die Welt die Künstlichkeit des Felix Vallotton. In der NZZ erklärt uns die Übersetzerin Akram Pedramnia die Codes der iranischen Literatur. Es lebe das utopische Potenzial, ruft die nachtkritik und lehnt jede Indienstnahme des Theaters für einen politischen Zweck ab. Die Filmkritiker gratulieren Roland Klick, dem Säulenheiligen einer widerständigen Filmkultur von unten, zum Achtzigsten.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.07.2019 finden Sie hier

Kunst

Natalja Gontscharowa, Cyclist, 1913. State Russian Museum St. Petersburg © ADAGP, Paris and DACS, London 2019


Russland 1913 war "knallig orange, grell violett, grüner als jede Wiese und so tiefblau wie der Mantel Mariens. Es hatte mehr Farben als die Garderobe der schicksten Pariser, als die Palette von Henri Matisse, als jede sozialistische Utopie", lernt eine begeisterte Kia Vahland (SZ) in der Natalja-Gontscharowa-Ausstellung der Tate Modern. Die fast vergessene Malerin hielt sich an keine Regeln: "Sie malt mal beinahe traditionell, dann wieder kubistisch, vor allem aber so, wie es ihr gerade gefällt. Näht Kleider und Kostüme, legt sich mit der Kirche an, verhöhnt den Dünkel der Hochkunst. Mit nationalen Stilen kann sie nichts anfangen und mixt fröhlich den italienischen Futurismus mit russischen Sagengestalten, Moskauer Christusfiguren mit Stilmitteln der deutschen Brücke-Künstler. Gontscharowas Œuvre ist eine Klasse für sich."

Félix Vallotton, Le Bain au soir d'été (Ausschnitt) 1892-93. © Kunsthaus Zürich


"Wer noch einmal Malerei als darstellende Kunst vor ihren Formauflösungen und Selbstentgrenzungen erleben möchte, muss Félix Vallotton sehen", ruft Hans-Joachim Müller, der für die Welt eine Retrospektive des Schweizer Malers und Grafikers in der Royal Academy in London besucht hat. Besonders dessen Künstlichkeit hat ihn beeindruckt: "Künstlichkeit ist auch ein anderes Wort für die Geisteshelle eines Werks, das allen Bildzweifeln zum Trotz nicht davon lassen will, noch einmal auf Inhalt und Bedeutung zu setzen, das aber zugleich weiß, dass Inhalt und Bedeutung nicht anders zu haben sind als im immer wieder erneuerten Abstand zu Inhalt und Bedeutung. Nie liegt, nie kniet, kauert, sitzt oder steht eine nackte Frau vor diesem Maler und tut es nur um ihre Schönheit willen. Immer ist ins Gefallen das Drama der Ungefälligkeit eingeschrieben, des übergriffigen Sehens, des sich Zeigens und Verbergens, das Drama der erzwungenen Nähe, der Fremdheit, der unaufhebbaren Künstlichkeit."

Weitere Artikel: In der Welt erzählt Marcus Woeller von einem Caravaggio, der auf einem französischen Dachboden gefunden worden sein soll. "Weiße Kunst ist auch okay", meint im Gespräch mit der Zeit der afroamerikanische Künstler Arthur Jafa.

Besprochen werden außerdem eine Retrospektive des südafrikanischen Künstlers William Kentridge im Kunstmuseum Basel (NZZ) und Nora Schultz' Ausstellung "Would you say this is the day?" in der Wiener Secession (Standard).
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Literatur

Akram Pedramnia überträgt Bücher wie "Lolita" oder "Ulysses" ins Iranische. In der NZZ erzählt sie von ihrer Arbeit, die vom iranischen Regime gründlich torpediert wird, und erklärt, dass sich zahlreiche Literaten des Landes in Codes flüchten - "Orangensaft" etwa steht für Whiskey, ein Zwinkern markiert hingegen tatsächlich einen Kuss. "Als Übersetzerin habe ich mir längst Strategien angeeignet, mittels deren ich der Zensur ein Schnippchen schlagen kann. Um den Wortsinn des Originals zu bewahren, verwende ich manchmal, wenn auch widerwillig, Begriffe, die vage, veraltet oder ungewöhnlich sind, in der Hoffnung, dass ihre Bedeutung dem Zensor entgeht. Für 'Bordell' etwa bietet sich das persische nashmeh khaneh an: Das heißt zwar 'Hurenhaus', doch das Wort 'nashmeh' für 'Prostituierte' ist längst obsolet. Wenn ein Problem nicht auf diese Art zu lösen ist, poste ich die Übersetzung des eigentlichen Wortlauts zensierter Passagen nach der Veröffentlichung des Buches auf Social-Media-Plattformen und lasse den außerhalb Irans verkauften Exemplaren eine gedruckte Liste der betreffenden Textstellen beifügen." Ein hoffnungsloser Fall war im übrigen 'Lolita': Pedramnias Übersetzung wurde gleich von vornherein im Ausland gedruckt.

Weitere Artikel: Die FAZ hat Katharina Teutschs Porträt des polnischen Schriftstellers Szepan Twardoch online nachgereicht. Nadia Budde verabschiedet sich in der FAZ von den "Tollen Heften", die nach 50 Ausgaben eingestellt werden. In der FAZ gratuliert Michael Martens der kroatischen Schriftstellerin Slavenka Drakulic zum Siebzigsten.

Besprochen werden unter anderem Liza Codys "Ballade einer vergessenen Toten" (FR), die Ausstellung "Gedicht/Gesicht" im Museum Strauhof in Zürich (NZZ), die Ausstellung "Wie Italien den Werther las" in der Casa di Goethe in Rom (FAZ), Nicola Bardolas "Elena Ferrante - Meine geniale Autorin" (SZ) und Yōko Ogawas "Augenblicke in Bernstein" (FAZ).
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Musik

Für die taz wirft Stephanie Grimm einen Blick ins Programm des Wassermusik-Festivals in Berlin, das sich diesmal Paul Gilroys Theorie des "Black Atlantic" verschrieben hat - entsprechend bilden Musiken aus Südamerika und Afrika den Fokus (durch das begleitende Filmprogramm führt Michael Meyns). Hannah Schmidt berichtet in der Zeit von den Schostakowitsch-Tagen in Gohrisch. Früher weckten Schlager Lust darauf, in die Welt zu gehen, heute sind sie nostalgische Rückblicke, stellt Rainer Moritz in der NZZ fest. In der Presse porträtiert Teresa Schaur-Wünsch den auf obskure Instrumente spezialisierten Musiker Albin Paulus. In der FAZ berichtet Jesper Klein von der Kissinger Liederwerkstatt.

Besprochen werden neue Alben von Kate Tempest (Standard), den Black Keys (Presse), Clinic (Jungle World) und Thom Yorke (Presse) sowie Neil Youngs Auftritt in Berlin (Tagesspiegel).

Und Miley Cyrus feiert in "Mother's Daughter" den weiblichen Körper in all seinen Formen:

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Bühne

Die Frage, ob Theater die Welt verändern kann, ist sinnlos, erklärt Thomas Rothschild in der nachtkritik, denn sie "folgt der Logik des Nützlichkeitsdenkens, das unsere Gesellschaft bestimmt. Das Theater aber ist der Ort der Nutzlosigkeit, und darin besteht paradoxerweise sein Nutzen, also seine politische Bedeutung. Die Indienstnahme des Theaters für einen Zweck, auch durch vermeintlich Linke, die ohne Wenn und Aber fordern, es habe in einem engen Verständnis politisch zu sein, ist nichts anderes als ein Angriff auf das utopische Potential der Kunst."

Weitere Artikel: Barbara Frey wird 2021 neue Leiterin der Ruhrtriennale, meldet Benjamin Trilliing in der taz. Astrid Kaminski berichtet für die taz von der Tanz-Biennale in Venedig. In der FAZ-Reihe Spielplan-Änderung stellt Paul Ingendaay Lope de Vegas' Drama "Fuente Ovejuna" vor.

"The Kabuki". Foto: Kiyonori Hasegawa, Staatsoper Wien
Besprochen werden ein Gastspiel des Tokyo Ballets mit Maurice Béjarts Choreografie "The Kabuki" an der Wiener Staatsoper ("Im Subtext ist ein großer Enthusiasmus für die Verschränkung japanischer und europäischer Kunsttraditionen zu erkennen. Das erinnert an den Fortschrittsgedanken der Eighties: die Freude daran, kulturelle Unterschiede spielerisch zu verbinden und so Nationalismen zu relativieren. In diesem Sinn setzt das Tokyo Ballet seinen Béjart hervorragend um", lobt Helmut Ploebst im Standard, Presse), Hermann Beils Inszenierung von Turgenjews "Ein Monat auf dem Lande" bei den Reichenauer Festspielen (Presse, Standard) und Smetanas "Dalibor" am Nationaltheater Prag (nmz).
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Film

"Deadlock" von Roland Klick

Roland Klick, der Rebell des Kinos der alten Bundesrepublik, wird heute 80 Jahre alt. Dem ewig wiederentdeckten Außenseiter des deutschen Films gratulieren erfreulich viele Feuilletons. Er verband Genre mit dem Anspruch auf soziale Wirklichkeit, suchte nach einer höheren Wahrheit und wollte stets empathische Filme - Empathie für die Figuren, Empathie fürs Publikum. Seine Filme sind bis heute nicht gealtert. Auch wenn er seinen Western "Deadlock" unmittelbar nach dem Sechs-Tage-Krieg in der israelischen Wüste drehte, "war er kein Draufgänger wie Werner Herzog, der sich in seinen Filmen todesmutig der Gewalt der Natur und des Menschen auslieferte", erklärt Andreas Busche im Tagesspiegel. "Er suchte vielmehr etwas, was ihm im deutschen Film abhandengekommen war: Wahrhaftigkeit. Darum blickte er in dem morbiden Familiendrama 'Bübchen' aus dem Schlüsseljahr '68 in die Abgründe des bundesdeutschen Kleinbürgertums. Darum lebte er vier Jahre lang mit einem obdachlosen Jugendlichen in einer WG, bevor er seinen besten Film 'Supermarkt' (1973) machte: eine grandiose Mischung aus Milieustudie und Actionfilm."



Mit seiner Haltung und seinem filmischen Gestus hat er seinerzeit insbesondere den Neuen Deutschen Film gegen sich aufgebracht, hat SZ-Autorin Juliane Liebert beim Treffen mit dem Filmemacher im Hamburger Hafen erfahren. "Fast alle seine Figuren sind Einzelkämpfer, fast alle seine Filme sind gegen gewaltige äußere Widerstände entstanden: 'Jeder Film. Jeder Film.' Er sagt: 'Sie waren immer unterfinanziert, lebensgefährlich, na ja. Jedes Leben ist eine Heldenreise, und ich hab sie angetreten. Es gibt auch Leute, die sie nicht antreten. Die verkümmern. Es gibt Gefahren. Aber trotzdem bin ich froh, dass ich sie angetreten habe.' Er lacht." In Berlin würdigen das Lichtblick-Kino und das Kino Wolf den Filmemacher mit einer Filmreihe. "Dass keine offizielle Kinemathek Klick würdigt, sondern kleine, mit Herzblut betriebene Programmkinos, ist symptomatisch: Längst ist Klick der Säulenheilige einer widerständigen Filmkultur von unten", schreibt dazu Thomas Groh in der taz. Auf Youtube gibt es einen tollen Interviewfilm mit Klick:



Weiteres: Im ZeitMagazin erzählt Filmproduzent Martin Moszkowicz von der Constantin aus seinem Leben. Besprochen werden Nikolaus Geyrhalters Essayfilm "Erde" über den Raubbau an den natürlich Ressourcen (taz), Manfred Oldenburgs Dokumentarfilm über den Fußballer Toni Kroos (Perlentaucher), der Film "Traumfabrik" über die DEFA (FAZ, Welt), Thomas Vinterbergs "Kursk" (NZZ), Benjamin Naishtats Thriller "Rojo" (NZZ), Carlos Lechugas kubanisches Drama "Santa & Andrés" (SZ), der neue "Spiderman"-Film (Tagesspiegel, ZeitOnline) und die neue Staffel von "Stranger Things" (FAZ).
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