Efeu - Die Kulturrundschau

Er kam mit einem Bauchredner

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08.07.2019. Der Guardian bedankt sich bei den deutschen Kritikern, die David Chipperfield auf der Museumsinsel zu Höchstleistungen marterten. Artechock sticht in den Filz der kriselnden deutschen Filmbranche. Die FR macht es sich mit Jörg Fauser ungemütlich. Die NZZ schreibt zum Tod des  wahren Filmmoguls Artur Brauner. taz und Welt wiegen sich ein letztes Mal mit João Gilberto zu den melancholischen Klängen des Bossanova.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.07.2019 finden Sie hier

Musik

João Gilberto einer der Erfinder des Bossanova, dieser im Grunde bis heute verkannten brasilianischen Kunstmusik ("die lässigste Musik überhaupt", schreibt Boris Pofalla in der Welt), ist im Alter von 88 Jahren gestorben. Ted Gioia schreibt im Guardian über die legendäre Schüchternheit des Musikers: "Gilberto ist fast so ruhig wie ein Mann, der Zeitung liest, fast so introspektiv, ohne zu bemerken, was um ihn geschieht. Als Tom Jobim vor vierzig Jahren die Manager der Plattenindustrie auf ihn aufmerksam machte, lauschten sie in betroffenem Schweigen diesem Sänger, der kaum seine Lippen bewegte. Schließlich bemerkte einer: 'Tom sagte, dass er uns einen Sänger bringt, aber er kam mit einem Bauchredner."



Mit ihm ist ein "Mann verstummt, der der Welt eine neue Art zu singen schenkte", schreibt Detlef Diederichsen in der taz. "Er wollte sich wohl so weit wie eben möglich vom dramatischen Macho-Crooner seiner Tage entfernen. João sang leise bis an die Grenze zur Unhörbarkeit, seine Attitüde war die einer kindlichen Unschuld, einer melancholischen Hilflosigkeit und wirkte eher unmaskulin. Mit diesem Singen öffnete er das Ausdrucksspektrum für Positionen der Melancholie, des Losers und für ein Universum der Zwischentöne, die der Zwang zum Drama vorher nicht zugelassen hatte." Und Christian Bos schreibt in der Berliner Zeitung: Gilberto hat "aus dem Badezimmer seiner Schwester heraus den Lauf der Musikgeschichte verändert, wie es im vergangenen Jahrhundert nur einer Handvoll Menschen vergönnt war." Weitere Nachrufe schreiben Ueli Bernays (NZZ) und Philipp Lichterbeck (Tagesspiegel).

Weitere Artikel: Der Guardian erinnert daran, als Nico in Manchester war. Außerdem bringt The Quietus einen Auszug aus Vivien Goldmans Buch "Revenge of the She-Punks".

Besprochen werden Lizzos neues Album "Cuz I Love you" (taz), der von François Bonnet und Bartolomé Sanson herausgegebene Band "Spectres" mit Texten über Musique Concrète (The Quietus), der Auftakt des Festival da Jazz in St. Moritz (NZZ), die Ausstellung "Bilderrätsel" im Bachhaus Eisenach über echte, falsche und umstrittene Bach-Bildnisse (SZ), eine große Vivaldi-Edition (FAZ), ein Gossip-Auftritt (Tagesspiegel, Berliner Zeitung), ein Metallica-Konzert (Tagesspiegel) und ein Abend in Wien mit Chilly Gonzales (Presse).

In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Elena Witzeck über Rosalias mit James Blake poduziertem "Barefoot in the Park":

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Architektur

Strahlend weißer Tempel: David Chipperfields Eingang zur Museumsinsel. Foto: Ute Zscharnt/Chipperfield Architects

Am Wochenende wird auf der Museumsinsel David Chipperfields James-Simon-Galerie eröffnet. Im Guardian zeigt sich Oliver Wainwright schon jetzt geblendet von diesem strahlend weißen Tempel, betont aber dass der britische Architekt Marmor und Säulen mit einer Finesse einsetzt, von der Albert Speer nur träumen konnte. Und Wainwright erinnert an die etwas schmerzliche Geburt des Projektes: "'Wir waren recht nervös, gibt Chipperfield zu, während wir im neuen hohen Eingang stehen, in den das Licht durch schlanke weiße Säulen fällt. 'Die Herausforderung war, an diesem sensiblen Ort etwas zu bauen, das in seinem Kontext, aber auch in seiner Zeit steht.' Er hatte guten Grund zur Nervosität. Sein erster 2006 enthüllter Entwurf wurde von deutschen Kritiker als als äußerst unpassend für das Unesco Weltkulturerbe in den Boden gerammt. In einer Titade unter der Überschrift 'So nicht, Mr. Chipperfield, bezeichnete ein bekannter Feuilletonist das Durcheinander aus Glaskästen als 'schmuckes Toilettenhäuschen'." Chipperfield nahm es sehr tapfer: "Sie halten einem wirklich die Füße übers Feuer, das ist schmerzhaft, aber es macht die Arbeit dann doch besser."

Der Guardian bringt auch eine tolle Bilderstrecke zu osteuropäischern Plattenbausiedlungen.
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Kunst

Sarah Schumann: Das schwimmende Buch, 1987. © Die Künstlerin

In der Berliner Zeitung schreibt Arno Widmann zum Tod der 1933 geborenen Malerin und Feministin Sarah Schumann: "Als ich sie vergangenes Jahr das letzte Mal traf, sagte sie mir, sie habe aufgehört zu malen. Bis dahin hatte sie jeden Tag an einem Bild gearbeitet. Schon lange nicht mehr die großen, prachtvollen Gemälde, auf denen Porträtfotos mit Malereien zu Traumbildern verschmolzen. Es waren Feste der Schönheit in einem Milieu, das beschlossen hatte, dass Schönheit obsolet geworden war."

Anlässlich einer Street-Art-Schau im Wien Museum fragt der Standard Sprayer, wie es in Sachen Geschlechtergerechtigkeit, Dominanzverhalten oder Kommerzialität um die Straßenkunst in der Stadt bestellt ist. Von Paul Busk etwa erfährt er: "Früher hat man davon gesprochen, dass Wien einen eigenen Stil hat, genauso wie Berlin oder Zürich. Auch aufgrund der Topografie wurde dort unterschiedlich gearbeitet: in Berlin konnte man wegen der Flachdächer fast überall rauf, Zürich ist verschachtelt, da gab es viele Graffiti an Fußwegen, wo die Polizei den Sprayern nicht so schnell nachkam, in Wien war der Donaukanal prägend. Daraus ist mit Ausnahmen ein Einheitsbrei geworden. Man ist in einer Blase gefangen und der zu entkommen ist schwierig. Schade finde ich, dass was man in Wien auf der Straße findet, unpolitisch geworden ist. Positiv ist, dass die Stadt legale Wände bereitstellt, das ist selten."

Weiteres: Für die taz betrachtet Sophie Zessnik in der Berliner Urania die Retrospektive des kürzliche verstorbenen Fotografen Michael Wolff, dessen Thema die Verdichtung des städtischen Lebens in Tokio und Hongkong war. NZZ-Kritikerin Daniele Muscionico besucht die Ausstellung "Food for the Eyes" in der C/O-Galerie Berlin. Und Ingeborg Ruthe übernimmt in der FR den Nachruf auf den Maler Eberhard Havekost.
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Bühne

Etwas unentschlossen berichtet SZ-Kritiker Joseph Hanimann vom Theaterfestival in Avignon, dessen Produktionen Migration und Exil im Zeichen von Homers und Vergils Heldensagen deuteten: "Europa erscheint auf den Bühnen Avignons als das Schattenmonster unserer politischen Gegenwart, weitab schon von Heiner Müllers müdem Ruf 'Stirb schneller, Europa' und seinem Bild vom Geisterschiff, das mit dem 'verstrahlten Abfall des abendländischen Denkens' durch die Dritte Welt schippert. Das französische Gegenwartstheater stochert tief in der Erblast unseres Kontinents."

Besprochen werden Dedi Barons Inszenierung von Else Lasker-Schülers Erlösungsdrama "IchundIch" am Schauspiel Wuppertal (das Nachtkritiker Gerhard Preußer als wirre "Mischung aus 'Herzensbühne und Höllenspiel' (wie es die Autorin nennt), aus Politsatire, privatreligiöser Verkündigung, Literatursatire und melancholischer Späterotik" so diffizil wie faszinierend fand), Dwight Rhodes New Yorker Choreografie "Stardust - from Bach to Bowie" an der Komischen Oper (Tsp) und Stücke des Manchester International Festival (FAZ).
Archiv: Bühne

Literatur

In der FR erinnert Harry Nutt an Jörg Fauser, der am 16. Juli 75 Jahre alt geworden wäre, und wirft dabei insbesondere einen Blick auf die Konjunkturen von dessen Wiederentdeckung. Besprochen werden Rachel Kushners "Ich bin ein Schicksal " (Freitag), Colson Whiteheads "Die Nickel Boys" (taz, Berliner Zeitung), Lea Singers "Der Klavierschüler" (NZZ), die Neuauflage von Gabriele Tergits "Effingers" (Tagesspiegel), Franz Winters "Die Verblendeten" (Presse) und Fernando Aramburus "Langsame Jahre" (SZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Hans-Joachim Simm über Paul Flemings "Gedanken, über der Zeit":

"Ihr lebet in der Zeit, und kennt doch keine Zeit;
So wisst ihr Menschen nicht, von und in was ihr seid.
..."
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Film

"Mich gibt's nur einmal" lautete der Titel seiner Autobiografie - und einen wie ihn gab es in der Geschichte des westdeutschen Nachkriegskinos tatsächlich nur einmal: In Berlin ist der Filmproduzent Artur Brauner wenige Wochen vor seinem 101. Geburtstag gestorben. Rasch nach dem Zweiten Weltkrieg erkannte der Schoah-Überlebende das Bedürfnis der Deutschen nach leichter Unterhaltung und brachte mit seiner Central Cinema Company in rascher Folge Trivialfilme in die Kinos - woran sich insbesondere die Protagonisten des Neuen Deutschen Films sehr rieben. Doch zugleich ließ er immer wieder auch Filme über die NS-Vergangenheit drehen. "Brauner, im Berliner Volksmund kumpelhaft 'Atze' genannt, fuhr einen Slalom zwischen musikalischer Komödie, hochkarätig besetzter Literaturverfilmung und Zeitgeschichtlichem", schreibt Michael Wenk in der NZZ: "Die CCC-Traumfabrik zielte treffsicher auf Zeitgeist und Publikumsgeschmack der Wirtschaftswunder-Ära."



Ein Kritikerliebling war er nicht gerade, erklärt Friedemann Beyer in der Welt, sondern er war "vor allem Filmfabrikant, der den Launen des Marktes folgte und sich gelegentlich einen persönlichen, von vorneherein unprofitablen Wunsch erfüllte." Er war ein Mogul, führt Georg Seeßlen auf ZeitOnline aus - wenngleich ein Mogul, der seinen Regisseuren enge Grenzen setzte.  "Was so entstand, war gewiss kein Autorenfilm, vielmehr eine Traumfabrik, die, nachträglich betrachtet, vor allem ein kollektives Unterbewusstsein der Bundesdeutschen auf die Leinwand brachte. Und in diesem Unterbewusstsein herrschte Unruhe: Harmoniesucht und Sensationslust, Erinnerung und Verdrängung, Heile Welt und Verschwörungsparanoia, Modernisierung und Heimattümelei - all das umkreiste sich in der Kinowelt von Atze Brauner."

Nicht nur Fritz Lang drehte auf Brauners Initiative nach dem Zweiten Weltkrieg wieder in Deutschland, erinnert SZ-Kritiker Fritz Göttler: "Vielen Heimkehrern aus Hollywood hatte Artur Brauner Arbeit wieder verschafft, und versucht, mit ihrer technischen Kompetenz und ihren Erfahrungen ein deutsches Kino aufzubauen, das auch internationalen Standards genügen könnte, Robert Siodmak oder Gerd Oswald, aber auch mit den deutschen Filmemachern, die unter dem Nazi-Regime arbeiteten, versuchte er den Neuanfang." Der RBB hat einen (allerdings sehr hagiografischen) Porträtfilm aus dem Archiv wieder online gestellt.

Schnitt in die Gegenwart: "Das deutsche Kino ist in der Krise", lautet Rüdiger Suchslands auf Artechock geäußerte Erkenntnis, die er vom Filmfest München mit nach Hause nimmt. Der Filz der Branche und der Funktionäre begünstigt die satten Player und hält die filmhungrigen Außenseiter am Rande des Bankrotts, so seine Beobachtung. Das Filmfest München "will es allen recht machen. Das wird nicht mehr lange so weitergehen. Schmusekurs und Harmoniesoße mögen vielen sympathisch sein, und manche Konflikte abdämpfen. Der deutsche Film und sein Nachwuchs aber brauchen Ecken und Kanten, und müssen das gerade auch von einem Festival erwarten können, das den Nachwuchs fördern will.  ... Wir brauchen eine Revolution im deutschen Film! Eine Revolution der Filme gegen die Funktionäre, der Filmemacher gegen die Amigo-Klüngel, der Filmproduzenten gegen die Allianzen der Verhinderung und des Weiter-So, des Kinos gegen die Streaming-Dienste, der neuen Ideen gegen die Krise."

Weitere Artikel: Rajko Burchardt mokiert sich auf kino-zeit.de über den Begriff "elevated horror", mit dem Connaisseure sich über den Verweis auf die besondere Kunstfertigkeit ihrer Favoriten von den Fans des gewöhnlichen Horrors abgrenzen wollen. Für The Quietus spricht Peter Strickland über seinen neuen Film "In Fabric". Esther Buss empfiehlt im Tagesspiegel die Reihe "Pionierinnen des Film Noir" im Berliner Kino Arsenal (mehr dazu bereits hier). Für die SZ hat sich Martin Zips derweil in Wiens letztem Erotik-Kino vergnügt.

Besprochen werden Klaus Lemkes heute Nacht im ZDF laufender Film "Neue Götter in der Maxvorstadt" (Perlentaucher), Sameh Zoabis "Tel Aviv on Fire" (Freitag), die Serie "What/If" mit Renee Zellweger (Freitag) und Clint Eastwoods erste beiden, derzeit beim Autorenfilm-Streamer Mubi bereit stehende Filme (SZ).
Archiv: Film