Efeu - Die Kulturrundschau

Was wir machen, ist immer sexy

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.07.2019. In der taz blickt Nan Goldin auf einige ziemlich erfolgreiche Aktionen gegen die Sackler-Familie zurück. Der Tagesspiegel zündet mit David Chipperfield die vierte Stilstufe auf der Museumsinsel. Die Tell-Review  unterhält sich mit dem serbisch-ungarischen Schriftsteller Zoltán Danyi über die Bedeutung des erzählerischen Rhythmus'. In der NZZ holt der Belgier Christophe Slagmuylder die transnubische Donaustadt zurück nach Wien. Auf ZeitOnline erklärt der Musiker Ezhel, was türkischen Rap von migrantischem DeutschRap unterscheidet. Und Aktuell: Lukas Bärfuss erhält den Büchner-Preis.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.07.2019 finden Sie hier

Kunst

Im taz-Interview mit Beate Scheder berichtet die Künstlerin Nan Goldin, wie ihr Kampf gegen die  Pharma- und Mäzenatenfamilie Sackler, die den USA die Opioid-Krise bescherte, allmählich Wirkung zeigt. Inzwischen hat die Familie New York verlassen, und selbst ihr Hedgefonds arbeitet nicht mehr mit ihnen: "Was wir machen, ist immer sexy", meint Goldin zu ihren Protestaktionen: "Wir zitieren die internen Memos und E-Mails, die von den Gerichten veröffentlicht werden, zum Beispiel auf unseren Fake-Verschreibungen. In einer E-Mail von Richard Sackler aus dem Jahr 2001 stand: 'Wir müssen auf diejenigen eindreschen, die es missbrauchen. Sie sind die Übeltäter und das Problem. Sie sind rücksichtslose Verbrecher.' Oder als ihm ein Wissenschaftler erklärte, dass Leute begännen, Oxycontin zu missbrauchen, fragte er: 'Wie sehr wird das unseren Profit verbessern?'"

Weiteres: Für die NZZ stochert Christian Saehrendt im Kasseler Documenta-Archiv nach abgelehnten Bewerbungen.

Besprochen werden die große Ai-Weiwei-Retrospektive in der Kunstsammlung NRW in Düsseldorf (nach der es auch taz-Kritiker Falk Schreiber für ungerecht hält, Ai Weiwei als Selbstdarsteller abzutun), eine Retrospektive des Malers Otto Zitko im Museum Lentos in Linz (FAZ) und eine Schau der Fotografin Ilse Bing in der Charlottenburger Galerie Berinson (Tsp).
Archiv: Kunst

Architektur

James-Simon-Galerie. © Ute Zscharnt für Chipperfield Architects
Gestern preschte der Guardian vor, heute bringt der Tagesspiegel seinen Text zur anstehenden Eröffnung der James-Simon-Galerie auf der Museumsinsel. Bernhard Schulz positioniert den britischen Architekten David Chipperfield in allerhöchsten Rängen: "Chipperfield verkörpert nach Schinkel (Altes Museum) mit seinen Schülern August Stüler (Neues Museum) und Heinrich Strack (Alte Nationalgalerie), nach Ernst von Ihne (Bode-Musuem) sowie nach Adolf Messel/Ludwig Hoffmann (Pergamon-Museum) die vierte Stilstufe der Museumsinsel. Mit der Simon-Galerie stellt sie eine Verbindung her zwischen dem ältesten und dem jüngsten der Vorgängerbauten, zwischen Schinkels Säulen und dem Sockel des Pergamon-Museums."
Archiv: Architektur

Bühne

Der Belgier Christophe Slagmuylder hat innerhalb weniger Monate die Wiener Festwochen auf Kurs gebracht. Im NZZ-Interview mit Daniele Muscionico erklärt er, was die Wiener Gesellschaft von der Brüsseler unterscheidet: "Niemand weiß bei uns, in Brüssel, was es heißen soll, Belgier zu sein. Es gibt in Brüssel keine sogenannte dominante Kultur, und das ist in Wien anders. In dieser Stadt sind Kultur, Tradition und Geschichte überall gegenwärtig, das Maß und die Bedeutung haben mich selbst überrascht. Aber die Kultur, die institutionelle Kultur und die Kultureinrichtungen richten sich vornehmlich an bestimmte Gruppen im Zentrum der Stadt. Deshalb war mir die symbolische Öffnung des Festivals für die Peripherie, der Einbezug der anderen Seite der Donau so wichtig. Man spricht vom 22. Bezirk, von Donaustadt als 'Transnubien', dabei ist der Bezirk von der Stadtmitte aus in 15 U-Bahn-Minuten zu erreichen."

Weiteres: Bei den Bad Hersfelder Festspielen feuerte Deniz Yücel seine Salven gegen den Verfassungsschutz, aber sonst machte sich Dieter Wedels Abgang in den Augen von SZ-Kritikerin Adrienne Braun kaum bemerkbar. Auch sein Nachfolger Joern Hinkel setzt auf Unterhaltung und selbst bei Kafkas "Prozess" auf Humoriges: "'Was macht eine Bombe im Bordell?', fragt da K.s Chef - 'Puff!'" In der FR unterhält sich Stefan Schickhaus mit der Cellistin Raphaela Gromes über Jacques Offenbach. In der Nachtkritik berichtet Sophie Diesselmann vom Alternativen Volksbühnen-Gipfel "Staub zu Glitzer", der nach René Polleschs Berufung zum Intendanten ein bisschen ins Leere lief.

Besprochen wird Dedi Barons ambitionierte Inszenierung von Else Lasker-Schülers tragisch-lyrischem Stück "IchundIch" am Wuppertaler Schauspiel (SZ, FAZ).
Archiv: Bühne

Literatur

Aktuell: Die FAZ meldet, dass der Schweizer Autor Lukas Bärfuss den Georg-Büchner-Preis erhält. Mehr bei der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

Für Tell-Review hat Sieglinde Geisel ein großes Gespräch mit Zoltán Danyi über dessen Roman "Der Kadaverräumer" geführt, in dem der serbisch-ungarische Schriftsteller fragmenthaft von einem traumatisierten Heimkehrer aus dem Jugoslawienkrieg erzählt. Der Text entstand aus ersten kleinen Prosatexten über Menschen, die Danyi immer wieder vors geistige Auge traten. "Es waren nicht nur diese Bilder und Figuren, sondern ich fand nun auch eine Sprache dafür. Mein Stil veränderte sich tiefgreifend. Ich wollte nicht etwas schreiben, das aussieht wie Literatur, sondern etwas, das ich gefunden hatte, und es war mir egal, ob es gute Literatur ist oder nicht. Ich brauchte mich einfach nur den Wellen der Sätze, ihrem Rhythmus zu überlassen, ich musste mich nicht um die Handlung oder die Figuren kümmern oder darüber nachdenken, ob die Geschichte als Ganze einen Sinn ergibt. Es war wie Musikmachen. ... Terézia Mora hat nicht nur die Bedeutung der Sätze übersetzt, sondern auch ihren Rhythmus. Diese Geschichte verliert ihren Sinn, wenn man sie ohne ihren Rhythmus erzählt, sie würde banal."

Weitere Artikel: Sehr ausführlich spricht das Ehepaar Ann und Jeff Vandermeer, die sich längst zu den wichtigsten US-Anthologisten der phantastischen Literatur gemausert haben, mit Longreads über ihr neues Buch, "The Big Book of Fantasy", das die historischen Wurzeln der literarischen Fantasy freilegt.

Besprochen werden unter anderem Lesley Nneka Arimahs "Was es bedeutet, wenn ein Mann aus dem Himmel fällt" (Dlf Kultur), Ulf Stolterfohts "Fachsprachen XXXVII-XLV" (Tagesspiegel), Ljudmila Petruschewskajas "Das Mädchen aus dem Hotel Metropol" (Dlf Kultur), Kate Atkinsons "Deckname Flamingo" (Tagesspiegel), Sophie von Maltzahns "Liebe in Lourdes" (online nachgereicht von der FAZ), die Autobiografie des Comiczeichners und "Corto Malteste"-Schöpfers Hugo Pratt (Tagesspiegel) und Bettina Wohlfarths "Wagfalls Erbe" (FAZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.

Archiv: Literatur

Film

Hanns-Georg Rodek schreibt in der Welt einen Nachruf auf Freddie Gillette, den Chefkoch und engen Vertrauten von Orson Welles. Ulrich Gutmair schreibt in der taz zum Tod von Artur Brauner (weitere Nachrufe hier).

Besprochen werden Klaus Lemkes vom ZDF online gestellter neuer Film "Neue Götter in der Maxvorstadt" (Tagesspiegel, Perlentaucher, Dlf Kultur hat mit dem Regisseur gesprochen), Elena Tikhonovas "Kaviar" (SZ) und das auf Netflix gezeigte "Shaft"-Sequel mit Samuel L. Jackson (Welt).
Archiv: Film

Musik

DeutschRap mit migrantischen Wurzeln ist etwas anderes als Rap in der Türkei, erklärt der türkische Rapper Ezhel im ZeitOnline-Gespräch gegenüber Cigdem Toprak. Im vergangenen Jahr hatte die Türkei ihn wegen angeblicher Verherrlichung von Drogenkonsum für vier Wochen hinter Gitter gesteckt, unterkriegen lässt er sich aber davon nicht. "Die Deutschtürken leiden unter einer Identitätskrise. Hier gehört man schon zu einer Randgruppe, wenn man türkischer Abstammung ist. Wenn man dann auch noch rappt, wird man noch stärker marginalisiert. Das ist allerdings auch in der Türkei so.  ... Leider mag unser Volk es nicht, vielfältig zu sein. Aber ich habe große Hoffnung in die heutige Jugend. Wir leben in einer Zeit, in der wir technisch vernetzt sind und jeder die Chance hat, sich selbst weiterzuentwickeln. Diese dunkle Ära der Türkei wird vorbeigehen. Man kann die Zeit nicht zurückdrehen. Wir haben schon an der Freiheit, an Menschenrechten, an Frauenrechten geschmeckt. Ja, es gibt eine starke dunkle Masse. Aber ich glaube, dass wir eine aufgeklärtere Türkei erleben werden." Ein aktuelles Stück:



Bei der musica viva hat Enno Poppe seine Komposition "Rundfunk" aufgeführt und SZ-Kritiker Michael Stallknecht damit so profund verstört, dass der sich erst einmal draußen im Biergarten neu sortieren musste. In Aussicht gestellt wurde "eine Art historisch informierte Aufführungspraxis für Klänge der Sechziger- und Siebzigerjahre. Der Komponist hat festgestellt, dass der Sound der älteren Synthesizer heute kaum noch wiederbelebt werden kann, weil sich Exemplare davon allenfalls in Museen finden. Also setzt sich Poppe gemeinsam mit Musikern des Ensemble Mosaik an neun moderne Synthesizer, welche die älteren Klänge reproduzieren. Doch entweder sind die Sechzigerjahre tatsächlich entschieden verrückter gewesen als unsere Zeit, oder es liegt an Poppes flirrender Textur aus kleinsten Motivpartikeln, dass 'Rundfunk' zu einer Belastungsprobe für Gehör und Gehirn wird, die einer einstündigen Wurzelbehandlung beim Zahnarzt gleicht." Das wollen wir uns nicht entgehen lassen - hier eine Live-Aufnahme vom Ultraschall-Festival:



Weitere Artikel: Juliane Liebert erkundigt sich für die SZ nach dem Gesundheitszustand des jahrelang drogenabhängigen Musikers Peter Doherty. Günter Platzdasch berichtet in der FAZ vom Rudolstadt-Festival, von dem Dlf Kultur einen vierstündigen Mitschnitt bringt.

Besprochen werden Carlos Santanas neues, von Rick Rubin produziertes Album "Africa Speaks" (Standard) und neue Klassikveröffentlichungen, darunter eine neue CD des Bennewitz-Quartetts, für SZ-Klassikkolumnist Harald Eggebrecht "eine der besten Formationen der Zeit." Auf Youtube-Music steht das Album online:

Archiv: Musik