Efeu - Die Kulturrundschau

Wie diese Orgel atmet!

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11.07.2019. Die SZ staunt in einer Innsbrucker Ausstellung über die originelle, in die Zukunft blickende Architektur von MVRDV. Außerdem porträtiert sie die Künstlerin Henrike Naumann, die mit alten Möbeln über die deutsche Einheit nachdenkt. Die taz lobt Thomas Vinterbergs Film über die Tragödie des russischen U-Boots "Kursk" als Etüde des Abschiednehmens, die SZ lernt einiges über die Inkompetenz der russischen Marinefunktionäre. Die Zeit unterhält sich mit der Künstlerin Miriam Cahn. Und in der nmz erklärt Regisseur Tobias Kratzer den Unterschied der beiden Tannhäuser-Fassungen Wagners.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.07.2019 finden Sie hier

Architektur

Wohnhaus in Amsterdam, Bild: MVRDV


"Kanarienvogelgelb, pink, himmelblau - diese Ausstellung knallt in die Augen", staunt in der SZ Laura Weissmüller, die in Innsbruck eine Ausstellung des Rotterdamer Architekturbüros MVRDV besucht hat. Das kommt vielleicht, wenn man so zukunftszugewandt ist, wie diese Architekten und nach Lösungen für heutige Probleme sucht, statt sich im 19. Jahrhundert zu vergraben: "Die Antwort auf der Suche nach mehr Dichte, die das Büro MVRDV gibt, das heute über 200 Mitarbeiter und mehrere Standorte auf der Welt hat: stapeln, was das Zeug, besser das Haus hergibt. Und zwar Nutzungen und Funktionen, auch Typologien. Für ihren Amsterdamer Wohnturm Silodam schichteten die Architekten 2003 eine ganze Palette unterschiedlicher Wohnungstypen übereinander, bis das Haus wie die Ladung eines riesigen Containerschiffes aussah. Ihre Markthalle in Rotterdam von 2014 wird von 250 Wohnungen umrundet, im Erdgeschoss haben Lokale und Geschäfte Platz ... unterschiedliche Nutzungen - Wohnen, Arbeiten, Freizeit, Bildung - ziehen ja nicht nur unterschiedliche Menschen an, sondern sorgen auch dafür, dass die Gebäude von morgens bis abends belebt sind. Das hat nicht nur ökologisch Sinn, sondern auch kommerziell, weil die Häuser dadurch stärker ausgelastet werden."

Weitere Artikel: Im Interview mit monopol widerspricht Martin Vogel, theologischer Vorstand der Stiftung Garnisonkirche Potsdam, dem Vorwurf des Architekturtheoretikers Philipp Oswalt, die Garnisonkirche, die wiederaufgebaut werden soll, sei ein Identifikationsort für Rechtsradikale. Hakim Bishara besucht für Hyperallergic ein Haus in New York, das Ai Weiwei entworfen hat und das gerade für 5,25 Millionen Dollar zum Verkauf steht. Und Colony Little schreibt den Nachruf auf den Architekten Philip Freelon.

Besprochen wird außerdem eine Ausstellung über die Wohnungspolitik Wiens in der Zwischenkriegszeit, "Das Rote Wien 1919-1934. Ideen, Debatten, Praxis" im Wien Museum (taz).
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Literatur

Die New York Review of Books veröffentlicht eine Rede von Teju Cole über Literatur und Übersetzungen, die er im Haus der Kulturen der Welt gehalten hat. Für die taz besucht Annina Bachmeier das Anna-Seghers-Museum in Berlin-Adlershof. Im Aufmacher des FAZ-Feuilletons denkt Tilman Spreckelsen darüber nach, wie das Jenseits in neueren Kinder- und Jugendbüchern dargestellt wird: Das "Nebeneinander eines bitteren 'Zu spät' und des Hoffnungsschimmers, dass es anders sei, dieses Spannungsverhältnis aus einerseits sinnloser und andererseits vielleicht noch produktiver Reue im letzten Moment ist der Akkord, der solche Jugendromane grundiert, auch wenn sich die jeweiligen Melodien stark voneinander unterscheiden".

Besprochen werden unter anderem Jean-Baptiste Del Amos Schweinezüchter-Roman "Tierreich" (SZ), Gunther Geltingers "Benzin" (online nachgereicht von der FAZ) und Hans Magnus Enzensbergers "Experten-Revue in 89 Nummern" (FAZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Film

Wer ist hier eigentlich der Feind? Szene aus "Kursk"

Mit "Kursk" legt Thomas Vinterberg eine "sehr internationale Verfilmung der sehr russischen Tragödie vom 12. 8. 2000" vor, schreibt Barbara Wurm in der taz, die dem glänzend recherchierten Film seine hohe Faktentreue zugute hält: Die "Inszenierung ist ernsthaft und nüchtern. Gut. Der Schock kommt von allein. Es ist ein Drama, dessen Ausgang jeder kennt. Insofern geht es weder um Suspense noch um ein Wettrennen gegen die Zeit. Vielmehr wird 'Kursk' im Angesicht des nahenden Todes zu einer Etüde des Abschiednehmens, der Staffelübergabe - und gerade hier erweist sich der Däne als Meister des zurückgehaltenen Sentiments. Für manche ist ausgerechnet der Genre-Film Vinterbergs bisher bester. ... Der Film kam Ende Juni auch in Russland ins Kino und wurde, anders als die Cold-War-Satire 'The Death of Stalin', nicht verboten." Für SZ-Kritiker Nicolas Freund ist das hier auch ein Film über die postsowjetische Transformationsphase: "Wer genau ist hier noch der Feind? Die Amerikaner? Die Briten? Mit denen scheinen die russischen Seeleute mehr gemeinsam zu haben als mit den eigenen Politikern und Beamten in Moskau, die alles nur kaputtsparen. Nach dem Untergang der Kursk sind es vor allem die eigenen, alten Funktionäre wie der Admiral Vladimir Petrenko (Max von Sydow), die internationale Hilfsangebote ablehnen und eine Rettung aktiv verhindern - wegen der Gefahr von Spionage und auch, weil sie Angst haben, die Inkompetenz der eigenen Flotte einzugestehen." Weitere Besprechungen in Tagesspiegel, Welt und - online nachgereicht - in der FAZ.

Der letzte Beatle: Szene aus "Yesterday"

Mit einem Mal kennt niemand mehr die Beatles - außer ein junger Mann und zwei darüber trübselig gewordene Rentner. Der junge Mann macht fortan mit den Liedern der Beatles Karriere - davon erzählt Danny Boyles neuer Film "Yesterday".  Etwas schade findet es tazler Tim Caspar Boehme, dass die romantische Komödie die Frage außer acht lässt, "wie vermeintliche kulturelle Gewissheiten sich als weit weniger selbstverständlich erweisen können, als die eigene Sozialisation einem mitunter vorgaukelt. Zukünftige Generationen werden höchstwahrscheinlich nur noch in Ausnahmefällen mit den Beatles als Grundbaustein ihres Pop-Kosmos aufwachsen." Seine Rätsel lässt der Film "aufsteigen wie Luftblasen eines lächelnden gelben Unterseeboots, denen man gern hinterhertaucht", meint Rabea Weihser auf ZeitOnline. Michael Pilz schlägt in der Welt sieben verschiedene Ebenen vor, wie man den Film sehen könne. Jenni Zylka hat sich für den Tagesspiegel mit den Machern getroffen.

Weitere Artikel: Die critic.de-Autoren präsentieren ihre Fundstücke vom filmhistorischen Festival "Il Cinema Ritrovato" in Bologna. Für Cargo hatte Bert Rebhandl Alexander Horwath am Apparat, der von Bologna berichtet. Carolin Weidner schreibt in der taz über die Berliner Filmreihe "Pionierinnen des Film Noir" (mehr dazu bereits hier). Hanns-Georg Rodek hat für die Welt das Begräbnis Artur Brauners besucht. Dietmar Dath schreibt in der FAZ zum Tod des Schauspielers Rip Torn. Und nachgereicht: Zu Roland Klicks Geburtstag vergangene Woche hat Deutschlandfunk Kultur ein großes Gespräch mit dem Filmemacher aus dem Archiv wieder online gestellt.

Besprochen werden Luc Bessons "Anna" (Filmbulletin, NZZ), Mani Ratnams "Kaatru Veliyidai" und Klaus Lemkes "Neue Götter in der Maxvorstadt" (Cargo), Ziska Riemanns "Electric Girl" (Tagesspiegel, Welt), Lilo Mangelsdorffs Dokumentarfilm "Monowi, Nebraska" (taz) und Francis Ford Coppolas wieder mal in einer neuen Version ins Kino gebrachte Kriegsfilmklassiker "Apocalypse Now" (SZ).
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Kunst

Henrike Naumann, "2000", 2018. Installationsansicht Museum Abteiberg/ Mönchengladbach. Foto: Achim Kukelies. © 2018, Henrike Naumann und KOW

In der SZ porträtiert Till Briegleb die in Zwickau aufgewachsene Künstlerin Henrike Naumann, die sich den Folgen der deutschen Einheit widmet und dabei originellerweise Möbellandschaften nutzt: So "komponiert die gerade raketenhaft prominent werdende Künstlerin immer neue Arrangements abgestoßener Wohnlandschaften der Neunziger, die sie über Ebay-Kleinanzeigen umsonst erhält, in Kunsthäusern, leer stehenden Läden und auf großen Festivals. Ihre Erfahrung ist es, dass Geschmack mindestens so emotional aufwühlend und teilend wirken kann wie politische Debatten. Und wenn ihre Objekte 'eine persönliche Erinnerung über Dinge auslösen, über die man vielleicht gar nicht mehr nachdenken wollte', dann führe einen diese emotionale Reaktion 'sofort in die Diskussion über das Thema'." Zur Zeit kann man im Kunstverein Hannover eine Ausstellung Naumanns besuchen, die sich der Expo 2000 in Hannover widmet, deren Generalkommissarin die ehemalige Treuhandchefin Birgit Breuel war.

Miriam Cahn bekommt zu ihrem 70. Geburtstag im Münchner Haus der Kunst eine Retrospektive. Carolin Würfel porträtiert sie in der Zeit. Die heutigen Männer in der Kunst täten ihr leid, sagt Cahn. Aber "echtes Mitleid sei das nicht. Mitleid habe sie heutzutage nur mit den Flüchtlingen, die im Mittelmeer ertrinken. Diese Tragödien hat sie auch in Bildern festgehalten, die Teil der Schau in München sind: Körper, mehr Geist als Mensch, gehen in strahlendem Blau unter. Wenn Cahn spricht, wirft sie oft die Hände in die Luft, den Oberkörper nach vorn und rauft sich die Haare. Ihr Körper redet unweigerlich mit." So präsentiert das Haus der Kunst die Ausstellung auf Instagram:

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COMING SOON! From 12th of July on, Haus der Kunst will present "Miriam Cahn: I as human", a comprehensive exhibition of the artist's five-decade career with central works from across her oeuvre. Cahn's early films and sculptures, larger than life chalk drawings, and paintings all commandingly question gender and power structures. With more than 200 works the exhibition presents the broad spectrum of Cahn's work and a radically expanded understanding of painting. Join us for the opening on 11.07. / 7 pm! #miriamcahnHDK #hausderkunst #comingsoon #opening #exhibition #contemporaryart #munich #münchen

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Weitere Artikel: Auf Monopol stellt Saskia Trebing einen Kunstkalender der Fotografin Kira Bunse vor, die junge Männer im Schwimmbad fotografiert hat. Stefan Trinks meditiert in der FAZ über die Frage, warum sich derzeit so viele Ausstellungen mit Pflanzen befassen.

Besprochen werden eine Ausstellung über die Quellen zeitgenössischer Kunst in der Fondation Carmignac auf der südfranzösischen Insel Porquerolles (Tagesspiegel), die Ausstellung "Klee und die Abstraktion" im Berliner Museum Berggruen (Tagesspiegel), die Dora-Maar-Ausstellung im Centre Pompidou (New York Review of Books), die Ausstellung "Brilliant Visions: Mescaline, Art and Psychiatry" im Londoner Bethlem Museum of the Mind (Hyperallergic)
Archiv: Kunst

Bühne

Im Gespräch mit der neuen musikzeitschrift erklärt der Regisseur Tobias Kratzer, der gerade in Bayreuth Wagners "Tannhäuser" inszeniert, was die Dresdner Fassung des Werks, die in Bayreuth zur Aufführung kommt, von der Pariser Fassung unterscheidet, die er vor neun Jahren in Bremen inszeniert hatte: "Nach meinem Gefühl ist in der Pariser Fassung letzten Endes die Erkenntnis des Scheiterns von Wagners realpolitischen Bestrebungen schon einkomponiert. ... Die Utopie, die [mit dem Venusberg] verbunden ist, zielt nicht mehr auf ein zu verwirklichendes realpolitisches Ziel. Sie ist (in den 15 Jahren zwischen den beiden Fassungen) vollständig ins musikalische Material abgewandert. Plötzlich wird die Veränderung, die er der Gesellschaft angedeihen lassen wollte, vollständig auf die Musik gelegt. Man hat schon von der schieren Länge her das Gefühl, dass er gar nicht mehr wirklich aus dem Venusberg raus will, weil das schon so eine Art utopischer Raum ist. Der ganze Farbenreichtum und das Raffinement der Musik fühlt man wie einen schwebenden Dunst über dem Rest des Stückes! Während man in der Dresdner Fassung wirklich noch diesen Willen zum Ausbruch und zur Veränderung spürt."

Weiteres: Eberhard Spreng berichtet im Tagesspiegel vom Theaterfestival in Avignon. Besprochen wird ein Konzert des österreichischen Konzeptkünstlers Georg Nussbaumer mit dem Solistenensemble Kaleidoskop im Radialsystem (Tagesspiegel).
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Musik

Eine begeisterte Julia Lorenz feiert in der taz das Berliner Konzert Janelle Monáes: Die Musikerin "inszeniert sich als so diszipliniertes wie fluides Wesen" und "Space ist der Place für diese queere Utopie. ... Auf der Bühne exerziert Monáe allerhand Ermächtigungsgesten durch: Nach dem Zarathustra-Auftakt sieht man sie auf einem Thron sitzen, sieht sie im Kreise ihrer mit Wasserpistolen bewaffneten Tänzerinnen, sieht sie schließlich wie einen verdammten Rockgott in der Bühnenmitte stehen und breitbeinig ein Gitarrensolo spielen. Ein prima Guns-'n'-Roses-Moment, den man niemandem mehr gönnt als dieser zierlichen, starken, überkandidelten Person." Und Andreas Busche schwärmt im Tagesspiegel: "Die Regenbogenkoalition auf der Bühne ist einfach hinreißend." Einen kleinen Eindruck bietet dieser Youtube-Ausschnitt:



Volker Hagedorn trifft für die Zeit den Dirigenten François-Xavier Roth, der unter anderem durch historische Aufführungspraxis auch im romantischen Repertoire besticht und allenthalben Erfolge feiert. Und er zitiert ihn mit einer Erinnerung an seinen Vater Daniel Roth, der Titularorganist an der berühmten Orgel von Saint-Sulpice in Paris war: "Ich habe noch im Kopf, wie ich ihn da zum ersten Mal hörte und ihm sagte, man hört so viel von der Maschinerie! Und er sagte, ja, man kann hören, wie diese Orgel atmet! Wenn ich mir heute meine historischen Fagotte angucke mit ihren Geräuschen, denke ich daran." Hier ist Daniel Roth an der Orgel zu hören:



Weiteres: In der NZZ freut sich Jürg Zbinden auf das Zürcher Konzert der Soulsängerin Gladys Knight. Besprochen werden eine Weinberg-Aufnahme durch Gidon Kremer und Mirga Gražinytė-Tyla (Presse), Daniil Trifonovs Konzert in Wiesbaden (FR), Bill Callahans neues Album (Presse, mehr dazu bereits hier), Thom Yorkes neues Solo-Album "Anima" (SZ), ein Konzert von Georg Nussbaumer mit dem Solistenensemble Kaleidoskop (Tagesspiegel) und ein Abend mit Jamie Cullum (Presse).
Archiv: Musik