Efeu - Die Kulturrundschau

In Sound baden

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12.07.2019. Europa war schon immer ein Netzwerk, lernt die FAZ im Prado in der inspirierenden Ausstellung "Velázquez, Rembrandt, Vermeer". Weniger Stil als Stilblüte sieht Zeit online in David Chipperfields James-Simon-Galerie für die Berliner Museumsinsel. Die SZ fragt angesichts bekleideter Liebespaare: Seit wann geht es im Film so prüde zu? Die taz lässt sich von Caspar Brötzmann die Ohren frei pusten.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.07.2019 finden Sie hier

Kunst

Links: Carel Fabritius, Selbstporträt, ca. 1645, Rotterdam, Museum Boijmans Van Beuningen. Rechts: El Greco, Jerónimo von Cevallos, 1613, Madrid, Museo Nacional del Prado


"Velázquez, Rembrandt, Vermeer. Parallele Visionen" - was für eine Ausstellung! Und genau zur richtigen Zeit, ruft ein begeisterter Hans-Christian Rössler (FAZ) aus Madrid zu uns herüber. Der Prado zeigt, dass das Nationale in der europäischen Malerei viel zu stark bewertet wird. Dabei gab es viel mehr Gemeinsamkeiten (nicht zuletzt, weil alle von den Italienern gelernt hatten). Europa war auch im 18. Jahrhundert "eine Art supranationales 'Netzwerk', über das sich Ideen und Informationen in alle Richtungen verbreiten. So teilten die Maler in Spanien und Holland die Faszination für neue Ideen und Techniken, die aus Flandern und besonders aus Italien kamen. ... Holländer wie Spanier hatten einen gemeinsamen Modegeschmack und eine Vorliebe für die Farbe Schwarz. Vom burgundischen Hof, aus dem Karl V. stammte, kamen die schweren Roben und die ausladenden weißen Kragen. Die holländische Führungsschicht trug sie auch weiter, nachdem sie begonnen hatte, gegen die spanische Herrschaft zu rebellieren. In Schwarz gekleidet ließen sich Holländer und Spanier porträtieren. Die Maler hatten sichtlich Vergnügen daran, die Schattierungen und unterschiedlichen Stoffe herauszuarbeiten. Umso stärker ließ die Kleidung die Gesichter zur Geltung kommen."

Die Idee des Werks, gar des Oeuvres scheint heute obsolet zu sein, sagt Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich im Gespräch mit Perlentaucher-Autor Peter Truschner, der auch nach Beschreibung der heutigen Kunst als Kunst für den Markt und Kuratorenkunst fragt. Die Freiheit der Künstler reicht dabei nicht so weit: "Einst als Befreiung von der Profitorientierung des Kunstmarkts konzipiert, herrscht heute im Bereich der kuratierten Kunst ein strengeres Regime. Und überraschend viele Künstler*innen lassen sich darauf ein, ohne allzu laut darüber zu klagen. Auch das ein Indiz für mich, dass es keinen so großen Glauben an die Stärke und Aussagekraft des eigenständigen künstlerischen Werkes mehr gibt."

Weitere Artikel: Paul Jandl lotet in einem NZZ-Essay die Bedeutung des Mondes in der Kunst aus.

Besprochen werden außerdem die Ausstellung "Van Gogh and Britain" in der Londoner Tate Britain (SZ-Kritikerin Kia Vahland erkennt hier den Gesellschaftskritiker, der van Gogh eben auch war), die Ausstellungsreihe "Horizontal Vertigo" in der Düsseldorfer Julia Stoschek Collection (taz), eine Ausstellung römischer Barockkunst im Potsdamer Museum Barberini (Tagesspiegel) und eine Ausstellung des grafischen Werks von Rembrandt im Kupferstichkabinett in Dresden (Tagesspiegel).
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Literatur

Im Freitag gratuliert Sieglinde Geisel Lukas Bärfuss zur Auszeichnung mit dem Büchnerpreis (mehr dazu hier). Lutz Taufer erinnert sich im Freitag an den vor 15 Jahren verstorbenen Autor und Übersetzer Lothar Baier.

Besprochen werden unter anderem Rachel Kushners "Ich bin ein Schicksal" (Zeit), Umberto Ecos gesammelte Vorträge "Auf den Schultern von Riesen" (Dlf Kultur), die Werkausgabe Hermynia Zur Mühlen (Tagesspiegel), Rebecca Solnits "Wanderlust" (NZZ, Dlf Kultur), Donata Berras Gedichtband "Maddalena" (NZZ) und Frank Schmolkes Münchner Noir-Comic "Nachts im Paradies" (SZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Bühne

Im Tagesspiegel berichtet Regine Müller vom Opernfestival von Aix-en-Provence. In der FAZ berichtet Grete Götze vom Theaterfestival in Avignon. Besprochen werden Christiane Mudras investigatives Theater "Kein Kläger. NS-Juristen und ihre Nachkriegskarrieren" in München (nachtkritik), "Stuttgart Wrackstadt" vom Citizen.Kane.Kollektiv in Stuttgart (nachtkritik) und "Shakespeare in Love" in Bad Herfeld (FR).
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Architektur

"Die James-Simon-Galerie ist voller interessanter, auch schöner Details und weckt als Ganzes dennoch keine Begeisterung", bedauert Jens Bisky in der SZ. Es war schon richtig, bei diesem ersten Neubau auf der Museumsinsel seit langer Zeit viel Geld auszugeben, "aber musste das Haus für lauter dienende Funktionen länger werden als Schinkels Säulenfront am Lustgarten? Warum musste es noch einmal etwas Tempelartiges sein? Für Garderobe, Shop, WC und Ticketschalter? Das hat, materiell wie ästhetisch, etwas Luxurierendes."

NZZ-Kritikerin ist dagegen ganz zufrieden mit der Eingangshalle für die Berliner Museumsinsel, die sie "als zeitgemäße baukünstlerische Antwort" lobt, "der man ihre profane Bestimmung nicht anmerkt". Auf Zeit online ist der Kunsthistoriker Michael Diers zwiespältig: Die Säulen des Eingans erinnern ihn an einen "Tausendfüßler ... Das der Museumsinsel vormals heilige Griechenland kommt hier nicht, wie es der Titel eines bekannten Schinkel-Gemäldes verheißt, zur Blüte, sondern nur zu einer Stilblüte. Im Gegensatz zum äußeren Erscheinungsbild, das auch mit seinem gebrochenen Weiß aus Beton plus Marmorzuschlag die Antike evoziert, ist der Bau im Inneren ästhetisch und infrastrukturell gelungen."

Weiteres: In der NZZ freut sich Sabine von Fischer, dass die Unesco Bauwerke von Frank Lloyd Wright zum Weltkulturerbe erklärt hat.
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Film

Keusch, züchtig, prüde ist das Kino geworden, meint SZ-Kritikerin Susan Vahabzadeh und schließt sich darin einer Beobachtung von Ann Hornaday aus der Washington Post an, für die mit der neuen Unterkörpervergessenheit des Gegenwartskinos auch ein erhebliches Genussangebot im Kino verloren geht. "Die Gesellschaft ist freizügiger geworden - ihr Kino aber nicht", schreibt Vahabzadeh. Liegt es an #MeToo und an der Furcht vor dem Skandal um den "männlichen Blick"? "Es ist eher unwahrscheinlich, dass die Anklagen gegen Harvey Weinstein und Konsorten viel mit der neuen Prüderie zu tun haben - diese Entwicklung ist kaum anderthalb Jahre alt, Filme werden langsamer entwickelt und produziert, das dauert, bis ein neues Bewusstsein darin sichtbar wird. Und es gibt ja schon seit einigen Jahren nichts Vergleichbares mehr zu der plötzlichen Erregung eines Ehepaars auf Venedigreise, wie sie Julie Christie und Donald Sutherland in 'Wenn die Gondeln Trauer tragen' (1973) so wunderbar spielten, eine der berühmtesten Sexszenen im Kino überhaupt. ... Das Kino hat der Pornografie das Feld überlassen, es hat die Gestaltungshoheit über unsere Wahrnehmung von Sex verloren. Das ist der eigentliche Verlust für eine Gesellschaft, wenn das Kino sich prüde gibt: industriell gefertigter Sex statt leidenschaftlicher Liebesszenen." Der unprüde Perlentaucher hält die berühmte Szene aus dem Roeg-Film natürlich nicht vor - wenngleich sie auf Youtube nur in spanischer Synchronisation vorliegt.



Weitere Artikel: Sven von Reden berichtet auf Artechock vom Filmfestival in Karlovy Vary. Dunja Bialas würdigt auf Artechock das schöne Schwabinger Kino Studio Isabella, das dieser Tage sein 100-jähriges Bestehen feiern kann - was im übrigen keine Selbstverständlichkeit ist: In einem weiteren Artechock-Text berichtet Dunja Bialas vom Kinosterben in der Stadt, das in den letzten Wochen sechs Leinwände gekostet hat. Leo Mayer wirft für Artechock einen Blick ins Programm des Münchner Festivals Cinema Iran, bei dem Amirali Ghasemi Archivschätze zeigt.

Besprochen werden der neue "Spiderman"-Film und Nikolaus Geyrhalters Essayfilm "Erde" (Perlentaucher, unsere Berlinale-Kritik) Sameh Zoabis Komödie "Tel Aviv on Fire" (Zeit), die Serien-Neuverfilmung des Blaxploitation-Klassikers "Superfly" (FAZ) und Mariano Llinás nahezu 14 Stunden dauernder Mammutfilm "La Flor", der Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche ziemlich flasht: "Starrt man lange genug auf Bäume, blicken diese irgendwann zurück."
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Musik

Lange war es still gewesen um das Caspar Brötzmann Massaker, das - in Deutschland kaum bemerkt, im Ausland dafür umso mehr - in den Achtzigern und Neunzigern die Grundlagen für den in Gitarrenwänden badenden Noiserock geliefert hat. Jetzt erscheint das Frühwerk der Band wieder - sehr zum Vergnügen von tazler Jens Uthoff, der Brötzmann in einer Datsche bei Berlin besucht hat. "In Sound baden. Sich vor die Verstärkerwände stellen und mit der Gitarre den Klang lenken. Feedbacks und Sirenen aufjaulen lassen. Für all das steht Caspar Brötzmann mit seiner Band." Brötzmanns Gitarre ist ein "Instrument, das wummern, wabern und brummen kann, das zerschreddern, das dazwischengrätschen, das davondriften kann. 'Die Beschäftigung mit dem Instrument hat mir alles bedeutet', sagt Brötzmann. Er habe zu seinem Sound gefunden, indem er stundenlang allein geprobt habe. 'Bei anderen habe ich damals gar nicht so viel nach Inspiration gesucht. Ich war im Proberaum und habe für mich selber gesucht. Und die Sachen, die mir gefallen haben - ich hab das immer gern Bilder genannt -, die habe ich dann den anderen gezeigt und in den Raum gestellt.'" Am frühen Morgen lässt man sich davon gerne die Ohren freipusten:



Jens Uthoff porträtiert in der taz außerdem die aus Buenos Aires stammende, in Berlin lebende Musikerin Tatiana Heumann, die jetzt beim Berliner Festival "Heroines of Sound" auftreten wird: "Zerhackstückte Beats, zerfasernde Klangflächen und ein ständiges Flackern und Flirren sind dann zu hören, dazu singt Heuman sphärisch, jagt ihre Stimme durch Effektgeräte." Uthoff empfiehlt mit Nachdruck diesen Clip:



Weitere Artikel: Im Standard porträtiert Amira Ben Saoud die Musikerin Mira Lu Kovacs, die gemeinsam mit Yasmin Hafedh das Popfest Wien kuratiert. Besprochen werden Africa Express' Album "Egoli" (taz), Christina Aguileras Berliner Auftritt (Tagesspiegel) und und Bon Jovis Konzert in Zürich (NZZ).
Archiv: Musik