Efeu - Die Kulturrundschau

Natürlich will Ortlieb nicht sterben

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15.07.2019. Der Standard steht in Bregenz mit Thomas Schütte vor kolossalen Männern im Matsch. In Thomas Melles Nibelungen-Variante "Überwältigung" erleben FR und SZ in Worms das Protestkind for Future.  Die FAZ fragt, ob der digitale Angestellte des Amsterdamer Filmmuseums, Jan Bot, Autor seiner Filme ist. Die NZZ erfährt, welche beiden roten Linien in Chinas Literatur nicht überschritten werden dürfen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.07.2019 finden Sie hier

Kunst

Thomas Schütte: Drittes Tier, 2017. Installationsansicht Karl-Tizian-Platz, Bregenz. Foto: Markus Tretter / Kunsthaus Bregenz

Das Kunsthaus Bregenz widmet dem Bildhauer Thomas Schütte eine Ausstellung, und im Standard erkennt Ivona Jelcic, dass man an Schütte in diesen Jahren nicht vorbeikommt. Nicht im Kunstbetrieb und nicht in der Fußgängerzone der Stadt, wo die Bronzekolosse "Männer im Matsch" aufgestellt wurden: "Es sind monumentale Antihelden, die Schütte in den öffentlichen Raum und ins oberste Geschoß des Bregenzer Kunsthauses stellt. Der Clou an ihnen ist, dass sie sich der Ästhetik klassischer Heldendenkmäler bedienen und diese zugleich genüsslich konterkarieren. Zwischen ironischer Brechung und zynischem Kommentar ist es bei Schütte oftmals nur ein schmaler Grat - geht es um das von ihm gern gegeißelte 'Showgeschäft' namens Kunstbetrieb, schlägt das Pendel eindeutig in die zweite Richtung aus."

Wenn Hasso Plattners solche Leihgaben organisiert, wie für die Ausstellung "Wege des Barock", dann kann selbst SZ-Kritiker Peter Richter mit der Barberini-Replik des römischen Nationamuseums in Potsdam seinen Frieden machen: "Es gibt eine solche Breite von barocken Haupt-, Neben- und Lieblingsthemen, auch von barocken Haupt-, Lieblings- und Nebenmeistern, dass man ganze Seminare zum 17. Jahrhundert hier abhalten könnte. Inmitten all des mehr oder weniger verkleinert aus Italien herunterkopierten Spät-, Retro-, Neubau- und Investorenbarocks, aus dem Potsdam zu weiten Teilen ja nun einmal besteht, wirkt es fast wie eine Nachhilfeveranstaltung: Was ist Barock?"

Besprochen werden außerdem zwei große Rebecca-Horn-Ausstellungen im Centre Pompidou in Metz und im Museum Tinguely in Basel (SZ) sowie die Ausstellungen "Paris romantique" und L'Allemagne romantique im Petit Palais in Paris (FAZ).
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Bühne

Überwältigung in Worms: Thomas Melles Variante der Nibelungen 

Die KritikerInnen haben sich das Wochenende bei den Nibelungen-Festspielen in Worms vertrieben, wo Thomas Melle seine Variante "Überwältigung" gab. FR-Kritikerin Judith von Sternburg fehlt bei Melles Stück zwar gerade das Zwingende oder Wuchtige, aber die Grundidee gefällt ihr: Kriemhilds Sohn Ortlieb, gespielt von Lisa Hrdina, begehrt auf: "Lisa Hrdina, in einer Art blutigem Schlafanzug, schreit die Leute auf der Bühne und uns an, natürlich will Ortlieb nicht sterben - was er für gewöhnlich ohne Text und rasch tut, Hagen ist ein Könner -, natürlich ist der Tod eines Kindes immer der schaurigste Auswuchs der politischen Pläne und Planlosigkeiten von Erwachsenen. Hrdinas Ortlieb macht also mächtig Wind, macht auch einfach nicht mit, und da Melle eindeutig auf ihrer/seiner Seite steht, lässt er sie/ihn mit der Allmacht des Autors in die Vergangenheit zurückkehren. Wann wäre die Gelegenheit gewesen, die Kette der Gewalt zu unterbrechen?" In der SZ goutiert Christine Dössel das Stück als klugen, gewitzten Text mit "Protestkind for Future". Weitere Besprechungen in Nachtkritik und FAZ.

Weiteres: Im Standard berichtet Helmut Ploebst begeistert vom ersten Impulstanz-Wochenende in Wien. In der taz schreibt Uwe Mattheis über die dort gezeigte Rekonstruktion von Johann Kresniks "Macbeth", mit der das Tanztheater der achtziger Jahre auf die Bühne zurückkehre. In der FAZ-Serie "Spielplan-Änderung" bricht der Dramaturg und Theaterhistoriker Klaus Völker eine Lanze für Georg Kaisers Stück "Brand im Opernhaus" von 1918. Besprochen wird Webers "Freischütz" in Ludwigsburg (FAZ).
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Literatur

Für die FR hat Arno Widmann den italienischen Hölderlin-Herausgeber und -Kommentator Luigi Reitani zum Gespräch getroffen. Es geht unter anderem um das Faszinosum Hölderlin als großer, scheiternder Weltdeuter, der mit der Poesie dorthin vordringen will, wo die Wissenschaft heute angelangt ist: ins Innerste der Welt. "Die wissenschaftliche Forschung hat Instrumente entwickelt, die uns bis an die Grenzen der Welt und tief in unser Inneres blicken lassen. Wir verstehen, wie alles sich durchdringt. Aber ergibt das einen Sinn? Um ihn aber ging es Hölderlin. Er wusste: In einem Moment hat alles einen Sinn, ist schön, wahr und gut. Im nächsten aber gibt es ihn nicht mehr. Die Welt ist zerbrochen. Der Mensch ist verzweifelt. An der Unmöglichkeit, den Sinn festzuhalten, scheiterte Hölderlin. Nicht nur als Autor. Ich sehe nicht, dass uns unsere neuen Erkenntnisse vor Hölderlins Scheitern bewahren könnten."

In der NZZ schildert Katharina Borchardt die schwierige Lage der Buchverlage in China. "'Es gibt zwei rote Linien in China, die man nicht überschreiten darf', erzählte mir ein Franzose, der schon seit vielen Jahren in Peking lebt, 'und diese Linien heißen Politik und Sex.' Wir sassen auf der Dachterrasse der unabhängigen Buchhandlung Bookworm. Es war ein lauer Abend. Aus den Boxen drang leichte Lounge-Musik, und über die Waben-Fassade des angrenzenden Hotels Intercontinental flackerten bunte Lichtspiele. Auf der Straße wand sich der Verkehr vorbei: niemals völlig regelkonform, aber immer geschmeidig im Flow der Masse. Viel geschmeidiger als bei uns. Gehupt wird kaum. 'Wenn du diese beiden roten Linien nicht überschreitest', sagte der Franzose, 'lässt es sich hier wunderbar leben.'"

Weitere Artikel: In ihrem Standard-Essay skizziert Joëlle Stolz ausgehend von Leila Slimanis Erfolg die Geschichte "einer seit fast zwei Jahrhunderten in der französischen Literaturlandschaft verankerten Figur: der Schriftstellerin, die den Skandal nicht scheut." In der FAZ gratuliert Jan Wiele dem Schriftsteller Richard Russo zum Siebzigsten.

Besprochen werden unter anderem Zadie Smiths Essayband "Freiheiten" (FR), Sophie von Maltzahns "Liebe in Lourdes" (Standard), Hélène Cixous' "Meine Homère ist tot..." (Dlf Kultur), Vincent Perriots Science-Fiction-Comic "Negalyod" (Tagesspiegel), weitere neue Comics, darunter Frank Millers "Xerxes" (SZ), und neue Hörbücher, darunter von Charly Hübner und Lars Eidinger eingelesene Aufnahmen von Jörg Fausers Romanen "Das Schlangenmaul" und "Rohstoff" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Marleen Stoessel über Czesław Miłoszs "Aus dem Fenster":

"Jenseits von Wald und Feld und wieder Feld
Liegt Wasser wie ein Spiegel da und zeigt,
..."
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Film

In der FAZ stellt Verena Lueken Jan Bot vor, den ersten digitalen Angestellten des Amsterdamer Filmmuseums, der je nach nachrichtlicher Lage und Social-Media-Trends experimentelle Kurzfilme generiert. Liegt darin schon Autorschaft? Unter anderem damit befasste sich eine Tagung in Frankfurt, berichtet Lueken, wo sich die Experten uneins sind: Für den Juristen Alexander Peukert ist der Fall ziemlich eindeutig: Wo kein Subjekt, da auch kein Recht am Werk. Für den Filmwissenschaftler Vinzenz Hediger hingegen stellt sich die Lage etwas komplexer dar, "beruht doch die akademische Anerkennung des Films als Gegenstand von Wissenschaft ganz wesentlich auf der Vorstellung von Autor, Werk und Kanon. Doch auch Hediger schien die Herausforderung, die für sein Fach von autorlosen Werken ausgeht, eher zu beflügeln, als zu beunruhigen. In den kurzen Schnipseln des Jan Bot machte er Montagetechniken aus, die ihm von Eisenstein her bekannt vorkamen, und Bildstrategien, die ihn an Godard erinnerten. Nur für die kulturelle Repräsentation, die wir gewohnt sind in Kunstwerken zu suchen und zu entdecken, für die sah auch Vinzenz Hediger in den Roboterfilmen vorerst keine Zukunft." Hier Jan Bots aktueller Tagesfilm:



Weitere Artikel: Esther Buss befasst sich in der Jungle World mit dem von Arthur Jafa für das Filmfest München kuratierten Programm "A Peculiar Vantage", das um Fragen der "Blackness" kreist. Besprochen werden die neue, jetzt aber endgültig letztmalige Version von Francis Ford Coppolas Kriegsfilm "Apocalypse Now", die nur heute in ausgesuchten Kinos läuft (Tagesspiegel, Standard), die zweite Staffel der deutschen Mystery-Serie "Dark" (NZZ), John Chesters Dokumentarfilm "Unsere große kleine Farm" (Freitag) und neue Heimmedien-Veröffentlichungen, darunter Jerzy Skolimowskis "Das Feuerschiff" (SZ).
Archiv: Film

Musik

Rammstein sind längst zum deutschen Klassiker avanciert, zum Export-Megaseller und vor allem aber zum Soundtrack der Merkeljahre, philosophiert Andreas Maier in der FAZ nach dem Frankfurter Auftritt der Band, den auch Nicklas Baschek in der FR resümiert. "Versplatterter Märchenwald auf Parteitagsgelände, Deutschland-Disney über alles und allen. Bei Helene Fischer gibt es Sex und Liebe, Sauberkeit und Sport, hier dagegen Deutschlands tiefstes Wesen und Deutschlands tiefste Bilder. Nur eben als Pop und Show. Uneigentlich. Als uneigentlich haben viele auch immer die Politik Merkels gesehen. Dennoch hat sich das Land kollektiv für eine ganze Epoche unter ihren schützenden Muttermantel begeben. Die Jungs aus dem Osten bieten uns etwas sehr Ähnliches an. Jetzt lassen sie ihr Fan-Volk sogar Deutschland schreien. Und zum ersten Mal klingt es weder nach 1933 noch nach 2006. Nicht zuletzt darin sind Merkel und Rammstein einander verwandt: Beide arbeiten sich pädagogisch an diesem Land ab. Beide erklären nicht, warum sie tun, was sie tun."

Weiteres: Olaf Maikopf plaudert in der taz mit dem brasilianischen Musiker Marcos Valle über dessen neues Album "Sempre". Für die taz ist Jan Paersch zum 41. Copenhagen Jazz Festival gereist. Mit ihrem blauen Album haben Weezer in den 90ern "das beste College-Rock-Album in der Geschichte der Menschheit" vorgelegt, schwärmt Oliver Polak in der SZ, der den Einwand vieler Kritiker nicht gelten lassen mag, dass die Band sich seitdem im Grunde immer nur wiederholt habe.

Besprochen werden die Neuauflage von Suicides Debütalbum (Jungle World), das Debüt der Kerzen (Zeit), Pinks Berliner Auftritt (Tagesspiegel) und neue Jazzveröffentlichungen auf Vinyl, darunter eine Neuauflage von Kjell Öhmans "Hammond B-3 Connection", die NMZ-Kritiker Hans-Dieter Grünefeld ins "Vinyl-Elisium" versetzt.
Archiv: Musik