Efeu - Die Kulturrundschau

Linie, Linie, Linie

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20.07.2019. Bei Beethoven brennt der Rücken, erzählt der Pianist Igor Levit in der NZZ. In der Welt diagnostiziert Thomas Wörtche eine Informationsdelle im Kriminalroman. Martin Parr kann auch freundlich, und das ausgerechnet bei deutschen Kleingärtnern, staunt die SZ in einer Ausstellung des britischen Fotografen. Monopol besucht die Künstlerin Miriam Cahn in ihrem Atelier.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.07.2019 finden Sie hier

Kunst

Martin Parr: New Brighton, England 1983-85 © Martin Parr / Magnum PhotosMartin Parr: New Brighton, England 1983-85 © Martin Parr / Magnum Photos


Freundliche, sympathische deutsche Kleingärtner - in den Fotos von Martin Parr? Alex Rühle (SZ) staunt. Man kann in der großen Parr-Retrospektive im Düsseldorfer NRW-Forum förmlich nachverfolgen, wie der Mann altersmilde wird, erkennt Rühle nicht ungerührt: "'The Last Resort' heißt die Strandserie, mit der er in den Achtzigern berühmt wurde und die damals vielen geradezu empörend vorkam. Wie kann man diese ganze Stillosigkeit nur eins zu eins festhalten, das unfassbar schlechte Essen, das nackte, pralle Fleisch, das in der Sonne vor sich hin amorphelt? Seinerzeit wirkte das wie abseitiges Forschungsmaterial eines Ethnologen mit dem sinistren Hang zu perversen Ritualen. Heute sieht es aus, als habe Parr den Brexit vorausgeahnt, all die Abgehängten, die langsam versinkende untere Mittelklasse, die hier unbedingt unter sich bleiben will. Es ist ohnehin beeindruckend, was für einen genauen Blick der Mann hat."

Miriam Cahn "o.T. 05.07.07", 2017. Foto: Markus Mühlheim, Courtesy of Miriam Cahn, Meyerrieger und Jocelyn Wolff


Jens Hinrichsen hat für Monopol die Künstlerin Miriam Cahn besucht, die in Stampa lebt, einem Dorf im Graubündner Alpental Bergell. Gerade hat sei eine große Retrospektive im Münchner Haus der Kunst. Leer ist das Atelier trotzdem nicht: "Sie stellt neue Gemälde an die Atelierwand. Farben leuchten, Blicke brennen. Vor allem Menschen fixieren den Betrachter, aber auch Tierfiguren oder Mischwesen. Auf kleinere Holzplatten hat Cahn Köpfe gemalt. Manche schauen angstvoll über die Schulter, als würden sie verfolgt. Auf den größeren Ölbildern sind Figurengruppen zu sehen, Personen in unablässiger Bewegung. Nackte Menschen durchqueren weite, unbehauste  Bildräume. Mütter zerren ihre Kinder durch Farbwüsten. Oder das andere Extrem: Figuren stehen still wie in Schockstarre, wie angewurzelt da. Dabei möchte auf den unheimlichen Gründen dieser Bilder wohl niemand Wurzeln schlagen."

Weitere Artikel: Christoph Gisiger besucht für die NZZ die von Arbeitsplatzabbau und Kriminalität stark mitgenommene amerikanische Kleinstadt Buffalo, wo Rem Koolhaas ein neues Museum bauen soll, als Erweiterungsprojekt der Albright-Knox Art Gallery: "Unter Insidern gilt die Sammlung wegen der herausragenden Werke moderner und zeitgenössischer Kunst als Geheimtipp", so Gisiger. Donna Schons erzählt in monopol, dass immer mehr Künstler von der chinesischen Regierung schikaniert werden und internationale Galerien Peking wieder verlassen: Währenddessen "floriert in Peking unter Ausschluss der breiten Öffentlichkeit eine zunehmend antiseptische und national begrenzte Kunstszene für die zahlreichen Superreichen des Landes. Der chinesischen Regierung dürfte das gefallen". Max Florian Kühlem besucht für die taz mit der Künstlerin Jiny Lan deren bescheiden betitelte Ausstellung "Meisterwerke" in der Ludwiggalerie in Oberhausen.
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Literatur

Der Kriminalroman hält sich solide, hat aber eine "Innovationsdelle", sagt Kritiker und Krimi-Herausgeber Thomas Wörtche im Interview mit der Literarischen Welt. Hoffnungen kriegt er immerhin beim Blick auf die Romane von Sara Gran und Candice Fox. Auch ein Grund, warum es seiner Ansicht nach keine Frauenquote im Kriminalroman braucht: "Es gibt ja so Standardargumente für eine Quote. Frauen bekämen die schlechteren Cover, zum Beispiel. Bitte? Wir geben doch nicht Geld aus für Manuskripte und verpacken sie anschließend absichtlich hässlich. Kriminalromane von Frauen werden weniger häufig rezensiert? Das mag sein. Frauen haben es schwerer, in Verlage zu kommen? Auf keinen Fall. Frauen bekommen geringere Vorschüsse? Stimmt nicht, bei uns sicher nicht. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass einer sagt, das Buch ist gut, aber weil's von einer Frau ist, produzier ich's nicht. So viel guter Stoff kommt einem nicht unter, dass man es sich leisten könnte, aus irgendeiner Ranküne heraus etwas nicht zu machen."

Marc Reichwein nimmt in der Literarischen Welt das Tool "LiSA" des Start-Ups QualiFiction unter die Lupe, das Verlagen wie Autoren verspricht, mittels einer quantitativen Manuskript-Analyse im Hinblick auf Marktkompatibilität Spreu vom Weizen zu trennen. "Der Lektoratsautomat spuckt Wahrheiten aus, derer sich Autoren und Lektoren manchmal gar nicht bewusst sind. Im Zweifel wird alles gezählt, von den Kommata bis zum Wortartengebrauch, und immer im Vergleich zum Genre-Durchschnitt. LiSA bringt hier eine objektive Dimension von Textkritik ein, die der Lektor im persönlichen Gespräch oft behutsam verpacken musste. 'Endlich kann ich meinen Autoren schonungslos sagen: Du verwendest zu viele Adjektive', berichtet Marko Dietsch, ein Kleinverleger aus Leipzig."

Weitere Artikel: In der Zeit spricht Adolf Muschg über Gottfried Keller, der vor 200 Jahren geboren wurde. Im literarischen Essay der FAZ verteidigt die russlanddeutsche Autorin Luba Goldberg-Kuznetsova ihre Entscheidung, in ihrem Roman "Lubotschka" ihrer Heldin, einer russlanddeutschen Jugendlichen, gebrochenes Deutsch in den Mund gelegt zu haben - was ihr in der FAZ-Rezension sehr angelastet wurde.

Besprochen werden unter anderem Kathrin Passigs feuilletonkritische Vorlesungssammlung "Vielleicht ist das neu und erfreulich" (taz), Daria Bogdanskas Comic "Von unten" (Jungle World), Stina Jacksons Krimi "Dunkelsommer" (taz), Drago Jancars "Wenn die Liebe ruht" (FR), neue slowenische Lyrik von Anja Golob und Aleš Šteger (NZZ), Corinna T. Sievers "Vor der Flut" (online nachgereicht von der FAZ), Jochen Schmidts "Ein Auftrag für Otto Kwant" (Zeit), Norbert Gstreins "Als ich jung war" (Tagesspiegel, NZZ), Sally Rooneys Debütroman "Gespräche mit Freunden" (SZ, FAZ) und Ocean Vuongs "Auf Erden sind wir kurz grandios" (Literarische Welt).
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Bühne

Im Guardian erzählt der Schauspieler Rhik Samadder, wie es sich anfühlt, wenn man - nach einem erfolgreichen Start mit Shakespeare - in seinem Beruf nicht reüssieren kann: "I started to grow bitter, believing myself more talented than my peers, as the supporting evidence grew more scarce. I started looking out for interviews with Danny Boyle. He would always repeat the same anecdote about 'Slumdog Millionaire', which I'd gone up for. About how it had been impossible to find any Asian actors who weren't Bollywood beefcake types, until his daughter recommended a skinny unknown from her favourite teen drama. 'WHY ARE YOU LYING, DANNY BOYLE?' I would shout in the newsagent's, reading a paper in which I was erased from the narrative. Stupid Dev Patel. Why was he given so many chances?"

Besprochen werden Verdis "Rigoletto" (FR, Welt, Tagesspiegel, FAZ) und Jules Massenets "Don Quichotte" (FR, nmz, FAZ) zur  Eröffnung der Bregenzer Festspiele.
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Musik

Die NZZ bringt eine große Beilage zum Lucerne-Festival. Christian Wildhagen hat sich mit dem Pianisten Igor Levit zu einem langen Gespräch über Beethoven getroffen, zu dem Levit gedanklich ein entspanntes - "Was wären die die Komponisten ohne uns?" - körperlich aber ein sehr angestrengtes Verhältnis hat: Bei einigen Stücken "sitzt man ständig mit flachem Atem da, die verlangen eine solche Grundspannung, die einfach nie nachlassen darf. Der Satz aus Opus 90 ist ein Beispiel, aber auch Liszts 'Feierlicher Marsch zum heiligen Gral' aus 'Parsifal'. ... Dort geht es immer um Linie, Linie, Linie. Das brennt irgendwann im Rücken, da ist Klavierspielen richtig belastende körperliche Arbeit." Weshalb die Aufführung mancher Stücke auch tagesformabhängig sei: "Es gibt Untersuchungen von Eckart Altenmüller, der Koryphäe auf dem Gebiet der Neurophysiologie und -psychologie von Musikern, der gezeigt hat, dass bei einem Klavierabend manchmal Tausende von Kalorien verbrannt werden - was man mit einem anderthalbstündigen Fitnesstraining nicht so leicht schafft. Da kommt vieles zusammen: die Gedächtnisleistung, die mentale Anspannung, der ununterbrochene Informationsfluss, den ich vom Kopf in die Muskeln schicken muss." Die BBC hat eine kleine Beethoven-Aufzeichnung online:



Weiteres aus der NZZ-Beilage: Peter Hagmann referiert die Geschichte konzertanter Opernaufführungen beim Lucernce Festival. Julia Spinola porträtiert Kirill Petrenko, der wenige Tage nach seinem offiziellen Einstand als neuer Leiter der Berliner Philharmoniker das Festival mit seinem Orchester besuchen wird. Thomas Schacher spricht mit dem Komponisten Thomas Kessler, der als Composer-In-Residence am Festival teilnimmt. Rosemarie Tietze ist nach Perm gereist, wo Teodor Currentzis' künstlerische Wurzeln liegen. Georg Rudiger porträtiert die Geigerin Vilde Frang Christian Wildhagen wirft einen Blick ins Programm des Festival-Schwerpunkts "Macht". Wolfgang Stähr schreibt über Mozarts Da-Ponte-Trilogie, die Teodor Currentzis mit dem Ensemble Musica Aeterna darbieten wird, wie Gabriele Spiller erklärt. Marco Frei freut sich auf die Aufführung von Ruedi Häusermanns "Tonhalle".
Archiv: Musik