Efeu - Die Kulturrundschau

Mehrklang aus Gelb, Rot, Weiß und Schwarz

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08.08.2019. Aktualisiert: David Berman ist gestorben. - Die Filmkritiker sind hin und weg von Juliette Binoche, die in Safy Nebbous Film "So wie Du mich willst" eine fünfzigjährige Frau spielt, die sich im Netz als 24-Jährige ausgibt, um beim Online-Dating zu punkten. Ecriture féminine findet man auch bei Männern, versichert in der Zeit Hélène Cixous. Die SZ bewundert die Farbenpracht der frisch renovierten Dessauer "Meisterhäuser". Der Freitag beobachtet eine zaghafte Öffnung des Deutsch-Rap für Frauen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.08.2019 finden Sie hier

Film


In Safy Nebbous "So wie Du mich willst", einer Verfilmung eines Romans von Camille Laurens, spielt Juliette Binoche eine 50-jährige Frau, die sich im Netz als 24-Jährige ausgibt, um beim Online-Dating zu punkten. "Dringend gesucht", seufzt Daniel Kothenschulte in der FR, wird endlich einmal "der erste richtig gute Film über das Internet und seine Bedeutung für das Leben in unserer Zeit". Zwar hat der Film hier und da ein paar schöne inszenatorische Einfälle, doch "was dieser Film überhaupt nicht vermittelt, ist sein eigentliches Thema, die Macht der Worte. ... Seien wir gespannt, wann das Kino endlich einen Weg gefunden haben wird, die merkwürdigen Seelenlandschaften, die Chatrooms geniereren können, von den kleinen Displays auf die große Leinwand zu übertragen." Große Freude hat Tagesspiegel-Kritikerin Dunja Bialas an Juliette Binoches Spiel (worin ihr SZ-Kritikerin Martina Knoben nur beipflichten kann), den Film selbst findet sie zuweilen "etwas beutlich inszeniert." Presse-Kritikerin Anne-Catherine Simon sah "ein interessantes Verwirrspiel mit Identitäten und Geschichten".

Distanz zur Realität Indiens: Ritesh Batras "Photograph"

Ritesh Batras
in Mumbai spielender Film "Photograph" über einen Fotografen, der sich in eine Frau aus einer höheren Kaste verguckt, könnte man sich gut als Romantic Comedy oder auch als Bollywood-Film vorstellen, schreiben die Kritiker. Doch Batra dreht, wie zuvor Mira Nair im indischen Kino, Filme für "ein Publikum das in der Lage ist, die Unterschiede zwischen einer Bollywood-Schnulze und einer 'echten' Liebesgeschichte zu goutieren und von beiden Formen das Beste zu erwarten", erklärt Bert Rebhandl in seiner online nachgereichten FAZ-Kritik. "Zu den sozialen und politischen Wirklichkeiten des Landes hält Ritesh Batra eine gebrochene Distanz. Er ist eben kein Realist, sondern er erzählt davon, wie sich in einer Welt, in der alles nach dem einen unverwechselbaren und dabei doch bestmöglich austauschbaren Bild strebt, ein Rest von Eigensinn halten kann." Ein bisschen anders sieht es Thomas Winkler in der taz: "Solidarisch mit seinen Protagonisten kapituliert 'Photograph' vor der Realität - und erzählt damit viel über Indien." Der Film ist "staunenswert zärtlich, aber allzu langsam inszeniert", gähnt Gunda Bartels im Tagesspiegel.

Weitere Artikel: Für die NZZ spricht Hoo Nam Seelmann mit dem koreanischen Regisseur Bong Joon-Ho über dessen in der Schweiz anlaufenden Cannes-Gewinner (und hier aktuell besprochenen) Film "Parasite". Carolin Weidner (taz) und Esther Buss (Tagesspiegel) empfehlen die Retrospektive Hedy Lamarr im Berliner Zeughauskino. Bert Rebhandl gratuliert in der FAZ dem Schauspieler Keith Carradine zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden Alexander Gorchilins russisches Teenagerdrama "Acid" (FR, Tagesspiegel), Malik Baders "Killerman" (taz), das Scheidungsdrama "Und wer nimmt den Hund?" mit Ulrich Tukur und Martina Gedeck, das in Welt-Kritiker Elmar Krekeler die leise Hoffnung aufglimmen lässt, dass sich das Genre hiermit nun endgültig selbst beerdigt, und der Netflix-Film "Otherhood" (SZ).
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Kunst

Besprochen werden die Olafur-Eliasson-Ausstellung in der Tate Modern (Tagesspiegel), die Ausstellung "Food for the Eyes" im c/o Berlin (Zeit) und die Ausstellung  Vanitas Contemporary im H2 Zentrum für Gegenwartskunst im Glaspalast in Augsburg (FAZ).
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Literatur

Schwarze Perspektiven hat man in den gestrigen Nachrufen auf Toni Morrison eher vermisst. Die taz liefert dafür heute einen sehr schönen, sehr persönlichen Nachruf der Schriftstellerin und Bachmannpreisträgerin Sharon Dodua Otoo nach, für die die ersten Morrison-Lektüren einem Erweckungserlebnis gleich kamen: "Ich erinnere mich nicht, wer ich vorher war, aber danach war ich eine andere Person. ... Selbst Bücher wie Ralph Ellisons 'Invisible Man' (deutsch: 'Der unsichtbare Mann') oder Malorie Blackmans 'Noughts & Crosses' schienen sich dezidiert an weiße Leser*innen zu richten. Toni Morrison hingegen schrieb ohne Fußnote, Glossar, Klammern oder sonstige Erklärungen. Sie schrieb für Menschen wie mich: diejenigen, die in einer weißen Gesellschaft aufwuchsen und lernten, ihre eigene Schönheit zu verleugnen; oder diejenigen, die immer wieder daran zerbrechen, dass sie ihre eigenen Kinder nicht vor dem Rassismus schützen können, den sie selbst durchlebt haben." Der Freitag hat einen Nachruf von Richard Lea und Sian Cain nachgereicht.

Im Gespräch mit der Zeit hebt die Pariser Philosophin und Schriftstellerin Hélène Cixous die Bedeutung der écriture féminine hervor, die es schon gab, als in Frankreich noch kaum Schriftstellerinnen existierten: "Aber, und das ist etwas, das ich schon im 'Lachen der Medusa' schrieb, jede große Literatur hat Merkmale dieser Weiblichkeit, egal ob sie von einer Frau oder einem Mann oder von Gott unterschrieben ist. Das ist das Geheimnis des Schreibens. Meine persönliche Bibliothek ist voller lebender Toter, sie schreiben alle, sie erschaffen alle Figuren, die so kraftvoll menschlich sind. Sehen Sie sich zum Beispiel Dostojewski an: Im echten Leben war er ein Mann mit allen Schwächen des Mannes, der vollkommen von seiner Frau abhängig war, die sein Überleben gesichert hat. In seinem Schreiben wird dieser Mann Nastassja Filippowna - eine Frau unter Frauen, mit all dem Begehren und der Verzweiflung echter Frauen. Das ist das Wunder des Schreibens. Aber es gibt nur wenige Schreibende, die dieses Menschliche schaffen können, die diese vollständige Öffnung vollziehen können, der immer eine Weiblichkeit zugrunde liegt."

Alexander Föderl-Schmidt (SZ) und Jochen Stahnke (FAZ) bringen Hintergründe zur nach langem Rechtsstreit erfolgten Lieferung der letzten Kisten aus Max Brods Nachlass nach Israel. Kafkas Anteil an dem tausende Seiten umfassenden Konvolut ist im Verhältnis zwar gering, dennoch stehe er im Mittelpunkt der Präsentation, berichtet Stahnke: Immerhin auf drei handschriftliche Entwürfe, hunderte Briefe sowie bisher unveröffentlichte Zeichnungen des Schriftstellers stößt Archivar Stefan litt, der diese Zeichnungen für besonders bemerkenswert hält, schreibt Föderl-Schmidt: Sie "müssen nach 1920 entstanden sein, denn sie enthalten hebräische Schriftzeichen. Sieben Jahre vor seinem Tod hatte Kafka begonnen, Hebräisch zu lernen."

Weiteres: In der Zeit erzählt Stephan Wackwitz die wenig erbauliche Geschichte des Rutschky-Kreises - zu dem er selbst gehörte - rund um die Zeitschrift Merkur: "Spiegelübertragung, narzisstische Idealisierung, Begabungsförderung, zielgehemmte Erotik, Erwählung, Initiation, Wut, Strafe, Verstoßung: Es war der Versuch, eine alternative kulturelle Solidarität zu begründen. In grandiosen Tagträumen Rutschkys war sein Kreis die Kulturelite der wiedervereinigten deutschen Demokratie." Und Iris Radisch trifft für die Zeit den norwegischen Autor Dag Solstad in Oslo.

Besprochen werden unter anderem María Gainzas "Lidschlag" (SZ), Max Annas' "Morduntersuchungskommission" (FR), Gary Shteyngarts "Willkommen in Lake Success" (taz) und Andreas Maiers "Die Familie" (FAZ).
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Bühne

In Venedig hat der Dramaturg Jens Hilllje einen Goldenen Löwen für seine Arbeit bekommen, berichtet Christine Dössel in der SZ. In der Presse berichtet Wolfgang Freitag vom "Hin & weg"-Festival für Gegenwartsdramatik im im Waldviertler Litschau.

Besprochen wird "Marry Me In Bassiani" des  französischen Tanztheaterkollektivs (La)Horde auf Kampnagel in Hamburg (nachtkritik) und Inszenierungen von Thomas Ostermeier und Evgeny Titov bei den Salzburger Festspielen (Zeit).
Archiv: Bühne

Musik

Update: NPR meldet den Tod von David Berman, Frontmann der Band Silver Jews. Erst im Juli hatte er ein neues Comeback-Album veröffentlicht (unser Resümee).

Ganz allmählich, wenn auch allerdings wirklich noch sehr zaghaft öffnet sich Deutschrap für Frauen, die sich in der Szene bestenfalls nicht willkommen fühlten, im schlimmsten Fall von den Männern wüst degradiert wurden, schreibt Anna Meyer-Oldenburg im Freitag: "Nicht nur, dass Rap meistens von Männern kommt, sondern dass sie Frauen oft nur erwähnen, um sie zu degradieren. Mal unterschwellig, mal offensichtlich, mal nebenbei. Dieses Phänomen ist keinesfalls nur auf den Gangsta-Rap reduzierbar. So erwägt der Gute-Laune-Rapper Cro - einer, der nicht gerade für Sexismus bekannt ist - in seinem Hit Easy seine schwangere Freundin zu erschießen, entscheidet sich dann aber doch dazu, sie sitzen zu lassen. Stumpfer offenbart der Rapper King Orgasmus One im Jahr 2003 sein Frauenbild: 'Hass, Frau, du nichts, ich Mann. Fick mich und halt dein Maul.' In den restlichen Zeilen wird es nicht schöner."

Weiteres: In der FAZ berichtet Max Nyffeler von der "Music for Peace"-Initiative in Hiroshima. Besprochen werden das neue Album von Florist (Presse), die Wiederveröffentlichung des Suicide-Debütalbums von 1977 (Standard), eine Neuauflage von Joe Tossinis "Lady of Mine" (Presse) und ein Konzert der Metal-Band Prong (Berliner Zeitung).
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Architektur

Besucherin im Meisterhaus Klee. Stiftung Bauhaus Dessau. Foto: Thomas Meyer/Ostkreuz
In der SZ bewundert Catrin Lorch die frisch renovierten sieben Dessauer "Meisterhäuser" des Bauhauses, die jetzt wieder im Glanz der Originalfarben erstrahlen: "An einem sonnigen Tag dringt mit dem warmen Licht auch der Geruch von Harz und Tannennadeln in die farblich perfekt ausbalancierten Zimmer. Man kann sich vorstellen, dass die Familien, deren Privileg es war, hier zu wohnen, meist über die Terrassen liefen und nicht über die kleinen Flure, von denen Treppen abzweigen, die so schmal sind wie die Stufen auf einem Schiff. Die Schlichtheit und Funktionalität war hier aber etwas, das man ausspielte: Das Zickzack der einfachen Stufen wird durch gelbe Farbe noch betont, der Schwung des Handlaufs in grellem Rot hervorgehoben, die hölzernen Leisten der Schiebetüren und Fensterrahmen in einen abstrakten Mehrklang aus Gelb, Rot, Weiß und Schwarz verwandelt."
Archiv: Architektur