Efeu - Die Kulturrundschau

Sohn im Schatten

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
15.08.2019. Die Welt amüsiert sich in Bayreuth mit Siegfried Wagner als Heiland aus der andersfarbigen Kiste. Haruki Murakami grübelt in der Zeit angesichts des Lohengrin über die religiöse Intoleranz Europas. Der Tagesspiegel lernt in Lillehammer, warum die 1928 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnete Sigrid Undset in ihrer norwegischen Heimat fast vergessen ist: Sie trat zum Katholizismus über. Die taz feiert Angela Schanelecs Film "Ich war zuhause, aber..." als sensibles Kinowunder. Die Presse gräbt mit den Songtexten Bon Ivers in den Nischen des Kryptischen, die FAZ konzentriert sich lieber auf den emotionalen Sound.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.08.2019 finden Sie hier

Bühne

Felix Axel Preißler, Felix Römer in "Siegfried". Foto © Bayreuther Festspiele / Konrad Fersterer


Taz-Kritiker Joachim Lange kommt in der Reihe "Diskurs Bayreuth" Siegfried Wagner näher, dem Sohn Richards und Cosimas, dem Erben, Thronfolger und schwulen Komponisten. Feridun Zaimoglu und Günter Senkel haben rund um seine Person das Stück "Siegfried" geschrieben, Philipp Preuss hat inszeniert. "Der beherzt auf zwei pausenlose Stunden eingekürzte Text konzentriert sich erst auf das Jahr 1914 und dann auf 1930. Also auf den Unverheirateten, den die grassierende Kriegseuphorie erfasst hat. Und den Festspielleiter im Dunstkreis des künftigen Machthabers und seiner Ideologie. Da Preuss den innerer Monolog nach außen verdoppelt, kommt er der inneren Zerrissenheit seines Helden per se nahe. Bei dem sich auch Kritik am Judenhass und Nähe zu den Nazis nicht ausschließen."

Ob sich Lange amüsiert hat, erfährt man nicht, bei Welt-Kritiker Manuel Brug gibt es dagegen keinen Zweifel: "Musik brodelt und will immer wieder 'Rheingold' anfangen, zwischen die eigenen Texte sind Siegfried-Originale montiert, über seine völkische Kriegsbegeisterung 1914, seine antijüdischen Ausfälle, Liebesbezeugungen auf Reisen mit einem Freund, die Zweckehe, um von der möglichen Aufdeckung als 'Heiland aus der andersfarbigen Kiste' abzulenken. Zaimoglu und Senkel machen das so nah an der Historie und so autorenfrei ausbalanciert, dass eine mosaikhafte Collage über den Sohn im Schatten sich verdichtet, der das Wort 'Vf(Ater)' immer wie einen Nieser ausspeit." Weitere Besprechungen in der nmz und in der nachtkritik.

Haruki Murakami
besuchte für die Zeit Bayreuth, wo er "Lohengrin" und die "Meistersinger" hörte. In ersterem befremdet ihn der Streit zwischen der zaubermächtigen Ortrud und dem christlichen Lohengrin. Religiöse Konflikte kennt man in Japan praktisch nicht, erzählt er. "So wirkt die Auseinandersetzung zwischen Lohengrin und Ortrud aus Sicht eines Japaners unnötig intolerant und gewalttätig. Das ist etwas, das mich beschäftigt, seit ich Lohengrin zum ersten Mal gesehen habe. Es wäre zu einfach, diese Intoleranz mit Wagners Antisemitismus in Verbindung zu bringen, und das habe ich auch nicht vor. Dennoch hinterlässt die Handlung dieses Dramas bei mir stets ein leichtes Unbehagen. Lohengrin, der Sieger, verschont im Zweikampf seinen Gegner Telramund, und Elsa verzeiht auf dem Höhepunkt ihres Glücks der ins Unglück gestürzten Ortrud. Doch beider Güte zeigt eine gegenteilige Wirkung. Die Duldsamkeit, die die Guten an den Tag legen, schadet ihnen letztlich selbst und führt zu ihrer Zerstörung. Sollte man die Welt so spalten, dass es in ihr Menschen gibt, die es wert sind, gerettet zu werden, und solche, die es nicht sind? Und trägt die Bayreuther Inszenierung in irgendeiner Weise dazu bei, diese Intoleranz abzuschwächen?"

Der spanische Opernsänger Placido Domingo wird von mehreren Frauen beschuldigt, sie in den Achtzigern sexuell belästigt und ihre Karrieren behindert zu haben, wenn sie nicht willig waren. In der FR findet Peter Uehling es zwar irgendwie schade, dass die Karriere eines solchen Ausnahmekünstlers ein derartiges Ende finden soll, auch ist ihm die "Praxis, Männer erst Jahrzehnte später wegen ihrer sexuellen Fehlhandlungen und Gewalttätigkeiten anzugreifen" etwas suspekt, aber das muss wohl so sein, glaubt er: "Die öffentliche Keule, die MeToo schwingt, mag oft grausam zuschlagen und ist in ihrer denunziatorischen Form nicht weniger abstoßend als das von ihr inkriminierte Verhalten. Aber offensichtlich ist dieser öffentliche Pranger das einzige Mittel, mit dem die Achtung vor der sexuellen Selbstbestimmung neu justiert werden kann."

Weiteres: Sebastian Nübling, Hausregisseur am Maxim Gorki Theater, spricht im Interview mit der taz über seine neue Inszenierung von Heiner Müllers 14-zeiligem "Herzstück". Und Lilo Weber unterhält sich für die NZZ mit der brasilianischen Choreografin Lia Rodrigues über deren Tanzstück "Furia".
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Kunst

In der Zeit ist Ingo Arend verhalten optimistisch angesichts der Eröffnung von Istanbuls größtem Kunstmuseum durch den Großkonzern Koç: "Private Sponsoren wie Koç füllen in der Türkei das kunstpolitische Vakuum, wenngleich ihr Engagement von deutlichen Selbstwidersprüchen durchzogen ist. Einerseits produziert Koç Militärfahrzeuge und profitiert vom autoritären Regime. Andererseits verhilft die Familie der kritischen Gegenwartskunst zu deutlicher Sichtbarkeit und hält die Fahne der Moderne hoch."

Weiteres: In der FAZ berichtet Christoph Drösser über den Streit um die Wandbilder Victor Arnautoffs, der 1936 dreizehn Fresken über das Leben George Washingtons für eine High School malte, die auch Sklavenarbeiter und Indianer zeigen (mehr dazu hier). Besprochen werden eine Ausstellung der kanadischen Sängerin und Künstlerin Peaches im Hamburger Kunstverein (Zeit).
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Film

Der Natur nicht entfremdet: Angela Schanelecs "Ich war zuhause aber,..." (Bild: Nachmittagfilm)

Als sensibles Kinowunder feiert Ekkehard Knörer in der taz Angela Schanelecs neuen, von der Berlinale mit dem Silbernen Bären ausgezeichneten Film "Ich war zuhause, aber...", der, wie er versichert, auch Menschen offensteht, denen die filmhistorischen Anspielungen des Films nicht ohne weiteres etwas sagen: "Jeder filmische Schnitt ist ein möglicher Abgrund. Das gilt ja eigentlich immer im Kino, aber Angela Schanelec, die hier auch den Schnitt selbst gemacht hat, macht mit dieser banalen Erkenntnis richtig Ernst. ... Es geht hier um sehr existenzielle Dinge, von denen viele aufs Äußerste alltäglich sein können: ein Radkauf, ein Schwimmbadbesuch, ein kleiner Tanz im Krankenhauszimmer, das Theaterspiel in der Schule. Schanelec sieht und hört bei all dem einfach nur sehr genau hin. Das Wunder liegt darin, wie sie im Ausschnitt der Bilder, in Tableau und Kamerafahrt, mit Dialog in On oder Off, im sanften oder brutalen Schnitt das aufwühlende Drama im Alltäglichen, die existenziellen Dimensionen unseres Dahinlebens offenbart."

Tagesspiegel-Kritikerin Dunja Bialas sah vor allem "einen sinnlichen Film": "Schanelecs große Filmkunst besteht darin, dass sie das Zentrum der Szenen ins Off drängt. Das Unsichtbare, das nur Hör- oder Erahnbare ist bei ihr genauso wichtig wie das, was wir sehen. Alles verschränkt sich in einem Kunstraum, der sich der Konvention des Kinos verweigert." Eine schöne, allgemeine Würdigung der Künstlerin findet sich in Bert Rebhandls FAZ-Kritik: Die Regisseurin "ist eine Chronistin der Gegenwart und öffnet diese Gegenwart zugleich in jedem Moment auf ihre bestimmenden Dimensionen: auf ein Bewusstsein für die Traditionen, aus denen sie kommt, und auf ein Bewusstsein von der Offenheit in eine ungeahnte Zukunft. Auf ein Leben, das seiner Natur nicht entfremdet ist und seiner Kultur gewahr." In der Zeit schreibt Katja Nicodemus über den Film.

Weiteres: Bester Laune berichtet Tobias Sedlmaier in der NZZ vom Filmfestival Locarno. Dessen Schwerpunkt zum "Black Cinema" widmet sich Georg Seeßlen im Freitag. Jenni Zylka empfiehlt in der taz ein vom Filmfestival Final Girls in Berlin ausgerichtetes Wochenende zum Thema "Frauen im Science-Fiction-Film".

Besprochen werden Quentin Tarantinos "Once upon a Time in Hollywood" (Jungle World, Standard, mehr dazu bereits hier und dort), Eckhart Schmidts "Alpha City" von 1985 (critic.de), Josh Cooleys neuer "Toy Story"-Film (taz, Welt, Tagesspiegel) und Leonardo DiCaprios Naturdokumentation "Ice on Fire" (Welt).
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Design

In der NZZ stellt Urs Hafner Roman Wilds im eigenen Haus erschienene Dissertation über die Geschichte des Schweizer Schuhmarkts vor.
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Literatur

Norwegen ist dies Jahr Gastland der Buchmesse. Für den Tagesspiegel ist Gerrit Bartels auf den Spuren der 1928 "für ihre mächtigen Schilderungen aus dem mittelalterlichen Leben des skandinavischen Nordens" mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Schriftstellerin Sigrid Undset nach Lillehammer gereist. In Deutschland ist die Autorin quasi vergessen, in Norwegen hadert man mit ihr, erfahren wir. Das könnte damit zu tun haben, "dass sie 1924 zum Katholizismus konvertierte, was damals im protestantischen Norwegen kaum jemand verstand (trotzdem hängt unübersehbar ein Porträt von Martin Luther in einem der Zimmer). Viel mehr aber dürfte ihrer aktiven Wiederentdeckung im Weg stehen, dass sie nicht gerade dazu taugt, eine feministische Ikone zu werden." Denn: "Die Frau gehört der Familie, um deren Zusammenhalt und die Sorge um die Kinder hat es ihr zu gehen, das war Undsets Credo. ... Was wiederum etwas verwundert, sind doch viele von Undsets Romanfiguren, gerade die ihrer Ehe- und Gegenwartsromane, sehr emanzipierte Frauen, so wie letztendlich auch Undset selbst."

Weitere Artikel: In den online nachgereichten "Actionszenen der Weltliteratur" erinnert Wieland Freund (Welt) daran, wie Charles Dickens 1865 unbeschadet aus einem Zugunglück hervorging. Außerdem bringt die Welt einen Vorabdruck aus Rafael Seligmanns neuem Roman. Besprochen wird unter anderem Brigitte Kronauers "Das Schöne, Schäbige, Schwankende" (FAZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Musik

Justin Vernon, Mastermind des Prog-Folk-Projekts Bon Iver, ist mit "i,i", seinem neuen, überraschend veröffentlichten Album (unser erstes Resümee), "zurück aus der Einsamkeit", freut sich Presse-Kritikerin Heide Rampetzreiter, auch wenn sich der Musiker weiterhin in Nischen des Kryptischen tummelt. "Die Entschlüsselung all der Bezüge kann einem getrost egal sein", schreibt dazu FAZ-Kritiker Thomas Lindemann: "Niemand braucht Musik als Kreuzworträtsel, aber den emotionalen Sound nimmt man gern." Neue Wege hat Vernon auf dem Album zwar nicht eingeschlagen, hält taz-Kritiker Gregor Kessler fest, aber die alten sind ja auch noch ganz gut zu gebrauchen: "Sie führen nicht weiter ins Unbekannte, sondern kreuz und quer durch die schillernd-bunte Folktronic-Datasphäre, die Bon Iver bereits mit den ersten drei Alben angelegt haben. Vorbei an Festplatten voll R&B-Beats, durch das lyrische Dickicht eines tickernden Unterbewusstseins, zu bekifften Akustikgitarrenabenden, ausgepolstert mit orchestrierten Arrangements, gekühlt von klaren Klavierlinien", oder kurz: "Eine musikalische Materialschlacht voll Prunk und Bombast." In Form von Lyrics Videos steht das Album auch auf Youtube:



Weiteres: Für die NZZ spürt Ueli Bernays den Nachwirkungen von Woodstock im heutigen Open-Air-Betrieb nach (mehr zum Woodstock-Jubiläum bereits hier und dort). In der FAZ widmet sich Jesper Klein dem Schostakowitsch-Schwerpunkt des Rosendal Festivals in Norwegen. Christoph Dallach unterhält sich für die Zeit mit Roger Daltrey (The Who), der gerade die Rockoper "Tommy" neu mit vollem Orchester eingespielt hat, über Woodstock, Wagner und Geld.

Besprochen werden die neu abgemischte Edition von Brian Enos Ambientklassiker "Apollo: Atmospheres & Soundtracks" (Presse, im Noisey-Video spricht Eno ausführlich über die Entstehung seines Albums), ein Bildband zu 50 Jahren Woodstock (taz), Verdis "Requiem" in einer Darbietung der Wiener Philharmoniker unter Riccardo Muti (Standard), eine Aufführung von Georg Friedrich Haas' "in vain" in Berlin (Tagesspiegel), Josh Turners Berliner Konzert (FAZ) und die Compilation "Jambú e Os Míticos Sons Da Amazônia" mit Musik aus dem Norden Brasiliens der 70er und 80er (Pitchfork), die auch auf Bandcamp zum Anhören steht:

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