Efeu - Die Kulturrundschau

Kiezkönigin in viel Viskose

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.08.2019. Die Opernkritiker erliegen in Salzburg dem Charme eines Bienen-Cancans. Die NZZ bewundert die vertikale Architektur des Rotterdamer Büros MDRDV. Die SZ nimmt von den Dreampoppern Sleater-Kinney letzte Anweisungen zum Weltuntergang entgegen. Die FAZ hört die revolutionäre Botschaft in Percy Shelleys Gedicht "Mask of Anarchy". Die Filmkritiker feiern die Retrospektive "Black Light" in Locarno.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.08.2019 finden Sie hier

Bühne

Orphée aux enfers 2019: Tänzerinnen und Tänzer. Foto: SF/Monika Rittershaus


In Salzburg haben sich die Kritiker prächtig amüsiert mit Barrie Koskys Inszenierung Offenbach-Operette "Orphée aux enfers": Kosky ist es "gelungen, mit dem ersten, die Gattung der Operetten begründenden Hauptwerk des 'Mozart der Champs-Elysées' das Salzburger Haus für Mozart in eine Lusthölle zu verwandeln. Seine Inszenierung ist witzig und wüst, frech und frivol, grell und gay - und all dies im XXXL-Format", schwärmt Jürgen Kesting, den vor allem der Bienen-Cancan und das "orchestrale Funkeln" der Wiener Philharmoniker bezaubert hat.

"Es ist nicht gemein zu sagen, dass das Ergebnis unfassbar albern ist. Das ist sein Ziel, Albernheit, der Abend ist ein Hoch auf sie, diese leichteste, unvernünftigste, wildeste Variante der Lebensfreude", erklärt Judith von Sternburg in der FR. Besonders beeindruckt hat sie Koskys geniale Lösung für die für die sehr langen Dialoge: "Der Schauspieler Max Hopp als John Styx (vormals Prinz von Arkadien) spricht sämtliche Dialoge auf Deutsch, zu denen das internationale, Französisch singende Ensemble bloß die Lippen bewegt. Aber was heißt hier bloß. Das ist, sofern man es aus einiger Entfernung beurteilen kann, hervorragend einstudiert, eine nahezu vollendete Synchronizität. Hopp, teuflisch gefordert, aber eisern bei der Sache, liefert dazu noch die weiterhin erforderlichen Geräusche beim Laufen und Leiden, beim Lechzen und Türöffnen, ein ausführliches Tapp-Tapp, Schlurf-Schlürf, Quiek-Quiek, Schlapp-Schlapp und Quietsch-Knatsch unter besonderer Berücksichtigung des Schlurf-Schlürf und Schlapp-Schlapp. Denn eine akustische Feuchtigkeit liegt über dem Ganzen, eine beträchtliche Schlüpfrigkeit. Das Frivole, es breitet sich unverhohlen aus und auf eine mitreißende Art sorgenfrei."

Nur SZ-Kritiker Michael Stallknecht winkt ab: Er kennt Koskys Bühneneinfälle schon aus Berlin. Selbst der von Enrique Mazzola dirigierten Musik "fehlt, was auch auf der Bühne fehlt, der Sinn für die Nuance und mehr noch, der Mut zur Lücke, in der die Musik, vor allem der Gesang ein Eigenrecht anmelden könnte. Die Figuren erstarren darüber zu Karikaturen, zu Puppen ihres Bauchredners sowieso in den Dialogen, zu dauerzappelnden Marionetten, auch beim Singen in der Hand der Regie." (Weitere Kritiken im Standard und im Tagesspiegel).

Weitere Artikel: Die Theaterfestivals im schottischen Edinburgh sorgen sich um ihre Besucherzahlen post-Brexit, berichtet in der nachtkritik Oliver Kranz. Sandra Luzina hat sich während des "Tanz im August" für den Tagesspiegel mit den Choreografen Jérôme Bel und Tino Sehgal unterhalten, die beide aus ökologischen Gründen nicht mehr (oder kaum noch) fliegen. Besprochen wird außerdem noch Feridun Zaimoglus und Günter Senkels "Siegfried" in Bayreuth (FAZ, SZ).
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Architektur

Foto: MDRDV, Ossip van Duivenbode


Verdichtung in der Stadt? Damit kann sich Roman Hollenstein (NZZ) durchaus anfreunden, jedenfalls, wenn sie so vertikal durchdacht ist, wie beim Rotterdamer Architekturbüro MDRDV. Ihre Konzepte studieren kann man derzeit in der Ausstellung "Architecture Speaks: The Language of MVRDV" im Architekturzentrum "aut" in Innsbruck: "Im ehemaligen Adambräu, wo Arno Ritter einem breiten Publikum seit Jahren zukunftsweisende Baukunst näherbringt, erläutern MVRDV in einer bald spielerischen, bald belehrenden Präsentation mittels vier begehbarer Turmkonstruktionen räumlich und bildhaft den theoretischen Überbau ihres Schaffens. Die in knalligen Farben gehaltenen, von Videos und Grünpflanzen umspielten Türme führen dem Publikum anschaulich und sinnlich vor, was Durchmischung, Interaktion und Funktionsvielfalt heißt. Weit auskragende Balkone, bepflanzte Fassaden und sogar eine Monumentaltreppe, über die man 2016 das Dach eines in die Jahre gekommenen Rotterdamer Bürobaus besteigen konnte, schaffen hier einen anregenden Erlebnisraum."
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Stichwörter: Mdrdv, Mvrdv, Rotterdam

Kunst

Die umstrittenen Wandfresken von Victor Arnautoff, mit Szenen aus dem Leben George Washingtons, sollen nicht zerstört werden. Das hat das San Francisco Board of Education mit 4:3 Stimmen beschlossen, meldet die New York Times. Sie sollen nur verhüllt werden. Peter Richter denkt in der SZ über Food Porn nach.
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Stichwörter: Arnautoff, Victor

Musik

Für die taz hat sich Dagmar Leischow mit Carrie Brownstein von Sleater-Kinney getroffen, die mit "The Center Won't Hold" gerade ein neues Album veröffentlicht haben. Das ist ziemlich krachig geworden, erfahren wir von Jan Kedves in der SZ-Popkolumne: Zu hören gibt es "elf Songs, Dream-Pop, auch New-Wave-Momente sind dabei, dann krachen die Gitarren so massig hervor, dass es nach Grunge klingt. Es geht um Gefühle des Gebrochenseins, um den Stolz und die Scham alternder (weiblicher) Körper, und die letzte Anweisung zum Weltuntergang lautet: 'Be the weapon, be the love!'" Wir hören rein:



Die Hamburger Rapperin Haiyti ist eine Kostbarkeit, schreibt Antonia Märzhäuser im Freitag: Auch "auf ihrem neuen Album 'Perroquet' macht sie weiter das, was sie sehr gut kann: die Welten, die sie umgeben, geschmeidig durchwandern wie die Protagonistin eines Fauser-Romans. Eine Rumtreiberin, aber nur im allerbesten Sinne .Haiyti ist (...) in einem Sozialbau aufgewachsen und irgendwie an der Kunstuni gelandet. Die Nummer mit der Kiezkönigin in viel Viskose und Fluppe im Mundwinkel nimmt man ihr genauso ab wie die zerstreute Studentin, die stundenlang an ihrem Marmorblock rumklopft." Ein aktuelles Video:



Weitere Artikel: Für die NZZ hat sich Adrian Schräder mit Mark Everett, dem Musiker hinter dem Projekt Eels, getroffen. In der SZ empfiehlt Harald Eggebrecht die Konzertreihe "Zeit mit Enescu" der Salzburger Festspiele. Die Zeit hat das Interview mit Roger Daltrey online nachgereicht. In der taz stimmt Steffen Greiner auf das Festival Pop-Kultur ein, das am kommenden Mittwoch in Berlin beginnt: Der Fokus liege diesmal "auf Pop-Positionen aus selten erschlossenen Regionen."

Besprochen werden eine Aufführung von Georg Friedrich Haas' "in vain" in Berlin (taz), das neue Album von Gauche (FR) und Loscils Ambientalbum "Equivalents" (Pitchfork).
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Literatur

Rise like lions after slumber
in unvanquishable number -
shake your chains to earth like dew
which in sleep had fallen on you -
Ye are many - they are few.

Der Literaturwissenschaftler Theo Stemmler schreibt in der FAZ über die Wirkmächtigkeit der letzten, vom Massaker von Peterloo am 16. August 1819 handelnden Strophe von Percy Shelleys Gedicht "Mask of Anarchy": "Diese Strophe, die dem Zuhörer die revolutionäre Botschaft in metrischer Bestimmtheit einhämmert, verschaffte der 'Mask of Anarchy' die Reputation, eines der wichtigsten politischen Gedichte in englischer Sprache zu sein. Bis heute werden diese fünf Verse immer wieder als Kampfruf bei politischen Demonstrationen verwendet. Besonders der letzte Vers, in dem 'ye' durch 'we' ausgetauscht wird, erzielt einen enormen Solidarisierungseffekt."

Weitere Artikel: Cornelia Geißler hat für die FR mit Sebastian Meschenmoser gesprochen, der die Illustrationen für eine Neuausgabe von Michael Endes "Unendliche Geschichte" angefertigt hat. Roman Bucheli erinnert in der NZZ an den vor zehn Jahren gestorbenen Schriftsteller Hugo Loetscher. Die Literarische Welt hat Bernd Eilerts kommentierte Liste mit den Büchern, die ihn am meisten geprägt haben, online nachgereicht. Besprochen werden unter anderem Karlheinz Brauns "Herzstücke" (Tagesspiegel) und der Band "Ernst Jünger: Gespräche im Weltstaat. Interviews und Dialoge 1929 - 1997" (SZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Film

Wiederentdeckt: "West Indies" von Med Hondo

Zu den Highlights des Filmfestivals in Locarno zählte in diesem Jahr wieder die Retrospektive, freuen sich die Kritiker vor Ort. Unter dem Titel "Black Light" war die von Greg de Cuir Jr. kuratierte (zuvor auch schon von Georg Seeßlen im Freitag besprochene) Reihe der schwarzen - nicht nur afro-amerikanischen - Erfahrung gewidmet. "Am Ende dieser umfangreichen und überraschenden Retrospektive bleibt der Eindruck einer irritierenden Zeitlosigkeit", schreibt Isabel Pfaff in der SZ.

Viel "unerwartetes war darunter, 'West Indies' von Med Hondo etwa, ein mitreißendes Musical aus Frankreich, Algerien und Mauretanien von 1979", lobt Verena Lueken in der FAZ. Der Film spiele "ausschließlich und sehr brechtisch in einer einzigen Kulisse und erweckte darin vierhundert Jahre Sklavereigeschichte zum Leben - mit einer Gruppe kraftvoller und technisch herausragender Tänzer und einer kleinen Gruppe von Schauspielern, die sämtliche historischen Rollen spielten. Vom afrokaribischen Sklavenhandel zur zeitgenössischen Migration von Arbeitskräften aus den ehemaligen Kolonien wob Hondo ein dichtes Netz von Bezügen, mit staunenswerten Bildern. Die Kulisse? Ein Schiff. Auf seinen verschiedenen Ebenen, vom Frachtraum zum Kapitänsdeck, bewegte sich die Inszenierung so fließend, dass die historische Kontinuität augenfällig wurde." Im kurzen Videostatement spricht Kurator Greg de Cuir Jr. über seine Reihe:



Auf Moviepilot erklärt Rajko Buchardt anlässlich des Kinostarts von "Toy Story 4", wie es Disney gelungen ist, das Animationsstudio Pixar zu ruinieren. Während die Saga um die Spielzeugfiguren vor zehn Jahren einen würdigen Abschluss fand, muss "das von der Selbstbestimmung eigensinniger Kinder bedrohte Spielzeug aus 'Toy Story 4' jetzt alles daran setzen, seine Produktivität und Zweckdienlichkeit zurück zu gewinnen. Dem sanftmütigen Existenzialismus der Vorgänger ist eine lärmende, nur ständig Figuren aufeinander loslassende Dringlichkeit gewichen. In diesem Kino gibt es nichts mehr zu entdecken."

In der FAZ zeigt sich Andreas Platthaus sehr skeptisch, was den jüngsten Fotorealismus der Reihe betrifft: "Die 'Illusion of Life' darin ist tatsächlich perfekt. Allerdings nur bei den Hintergründen, die derart fotorealistisch computergezeichnet sind, dass man sich fragt, warum man sich überhaupt noch die Mühe gemacht hat, die Wirklichkeit zu imitieren; abfilmen wäre billiger gewesen und hätte nicht anders ausgesehen." FR-Kritiker Daniel Kothenschulte sieht in dem Film immerhin "ein Plädoyer für Nachhaltigkeit im Kinderzimmer" und hat sich für die Welt mit dem Regisseur Josh Cooley unterhalten.

Weiteres: Dirk Peitz schaut für ZeitOnline genau hin, wie Brad Pitt in Quentin Tarantinos "Once upon a Time in Hollywood" (hier unsere Kritik) inszeniert wird. Besprochen werden Angela Schanelecs "Ich war zuhause, aber..." (Welt, mehr dazu bereits hier) sowie Zeek Earls und Christopher Caldwells auf Heimmeiden veröffentlichter "Prospect" (taz).
Archiv: Film