Efeu - Die Kulturrundschau

Makabres und Groteskes

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22.08.2019. Die Filmkritiker lassen sich in Carolina Hellsgards "Endzeit" von einer Horde Zombies einen Grundkurs in romantischem Sehen erteilen. Claudio Giovannesis "Paranza" über Mafia-Kinder in Neapel gerät ihnen dagegen zu romantisch. Die Presse fliegt lieber zum Mond und entdeckt aquarellierte Frauenköpfe. Die Zeit stellt fest, wie die AfD die Theaterkultur vergiftet. Und eine neue Literaturdebatte bahnt sich an: Karen Köhlers "Miroloi" steht zwar auf der Longlist, wird aber von den Kritikern geschmäht: Der Freitag fordert deshalb einen Kriterienkatalog für Literaturkritik.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.08.2019 finden Sie hier

Film

Bildungsroman statt Zombiehatz: Carolina Hellsgards "Endzeit"

In Carolina Hellsgards auf einem Comic von Olivia Vieweg basierendem Film "Endzeit" werfen wir einen Blick auf ein Deutschland, in dem vor zwei Jahren eine Seuche ausgebrochen ist und zombieartige Wesen auf Menschenhatz gehen - lediglich Weimar und Jena trotzen als gallische Dörfer den Untoten. Das Ganze ist aber weniger ein klassischer Zombiefilm, sondern "eine abenteuerliche, durchaus sympathische Mischung aus Coming-of-Age-Geschichte, Buddy-Movie und Fantasyfilm", schreibt Perlentaucher Michael Kienzl, der den Film zwar nicht in jeder Hinsicht gelungen fand, aber mit "Hoffnung auf mehr unorthodoxes deutsches Genrekino" den Saal verlässt. Zu einer ähnlichen Beobachtung gelangt FAZ-Kritiker Andreas Platthaus in seiner online nachgereichten Besprechung: Weniger Zombie-Splatter sondern vielmehr einem filmischen Bildungsroman sei hier beizuwohnen. Vor allem Leah Strikers Kamera hat ihm imponiert: "Wie sie die thüringische Landschaft einfängt, ist nicht nur eine Augenweide, sondern zudem ein Grundkurs in romantischem Sehen - 'romantisch' verstanden im geistesgeschichtlichen Sinne des Wortes, das ja nicht zuletzt in Jena seinen deutschen Ursprung hat. Und mit dem dialektischen Verhältnis von Heimat und Unheimlichkeit, das der Romantik eigen ist, spielt Carolina Hellsgard so souverän, dass die etwas schlichte ökologische Botschaft (...) nicht mehr unangenehm auffällt." Weitere Besprechungen in taz und SZ.

Drehbuchfunktionen: Jugendliche in "Paranza - Der Clan der Kinder"

Claudio Giovannesi erzählt in "Paranza - Der Clan der Kinder", einer Verfilmung eines Romans von Roberto Saviano, von verarmten Jugendlichen in Neapel, die den "Verlockungen der Camorra" erliegen, schreibt Fabian Tietke in der taz. Mehr als solide ist die Umsetzung allerdings nicht geworden: "Die Figuren sind selten mehr als Funktionen des Drehbuchs, ihre Träume bleiben Gemeinplätze, ihre Pläne schematisch und die Konflikte zwischen den Clans weitgehend angedeutet." Einen Film darüber, wie Jugendliche ihre Unschuld verlieren, hat Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche gesehen: Der Film "dreht sich immer wieder um diesen entscheidenden Moment, was dem Film dramaturgischen Schneid abkauft. Das Ende steht, daran hat sich seit den Gangster-Klassikern nichts geändert, von Beginn an fest. Selbst die Eskalationsstufen sind in das Genre schon eingebaut. Um die Kids aber besser zu verstehen, müsste Giovannesi manchmal hinter ihre Gesichter blicken." Perlentaucherin Anja Seeliger war nach der Berlinale-Premiere des Films auch nicht gerade begeistert: "Oje, diesen Film hätte man so auch in Hollywood drehen können. ... Selbst Neapel ist wunderschön, pittoresk, in warmen Farben gefilmt."

Weiteres: Dem Kino läuft zwar das Publikum davon, aber die Zahl der Säle und insbesondere die Zahl der gezeigten Filme steigt, stellt Urs Bühler in der NZZ fest. Im Zeit-Interview mit Katja Nicodemus spricht Diane Kruger über ihren neuen Film "Die Agentin", über die Arbeit mit Quentin Tarantino und ihre Arbeit in Deutschland und Frankreich.

Besprochen werden Kitarô Kôsakas Animationsfilm "Okko's Inn" (Perlentaucher), Gurinder Chadhas "Blinded by the Light" (taz, Presse), Sebastián Lelios Drama "Gloria" mit Julianne Moore (Tagesspiegel, Welt), Isabella Eklöfs Thriller "Holiday" (SZ), der kolumbianische Film "Monos" von Alejandro Landes (NZZ), Grant Sputores Science-Fiction-Film "I Am Mother" (SZ) sowie Eduard Schreibers und Regine Kühns im Berliner Kino Krokodil aus Anlass des 25. Jahrestags des Abzugs der sowjetischen Armee aus Deutschland gezeigte Langzeitdokumentation "Lange nach der Schlacht" von 1995 (taz).
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Literatur

Marlen Hobrack rezensiert im Freitag weniger Karen Köhlers "Miroloi", sondern eher die Rezensionen einiger ihrer Kollegen, die dem für den Deutschen Buchpreis nominierten Roman wenig abgewinnen konnten und ihn in die Ecke "irgendwie feministische Schmonzette für Frauen" schoben. "Es mangelt an Kriterien, so scheint es. Doch wenn ein Kriterienkatalog zur Einordnung von Texten wie 'Miroloi' fehlt (...), wäre es dann nicht Aufgabe der Literaturkritik, ihn einzuführen? Sei es auch nur, um die eigene Daseinsberechtigung zu unterstreichen?" Und "warum gruselt es uns Kritikerinnen und Autorinnen so sehr vor Texten von Frauen, die vielleicht tatsächlich eher von Frauen gelesen werden und Frauenthemen behandeln? Weil das Desinteresse von Männern an dieser Literatur ein allgemeines Werturteil bedeutet? Weil wir die Konnotation von 'minderwertig', die mit dem Wort "Frauen" verbunden ist, so stark verinnerlicht haben?"

Weiteres: Im Freitag spricht Jan C. Behmann mit der Autorin Christiane Tramitz, die unter Bedingungen teilnehmender Beobachtung ein Buch über den als trist verschrienen Berliner Stadtteil Marzahn geschrieben hat. Axel Weidemann hat für die FAZ die World Science Fiction Convention in Dublin besucht, wo der Hugo Award für die besten Science-Fiction-Romane und -Kurzgeschichten verliehen wurde (hier alle ausgezeichneten Arbeiten im Überblick).

Besprochen werden unter anderem Pauline Delabroy-Allards "Es ist Sarah" (online nachgereicht von der Welt), Norbert Scheuers "Winterbienen" (online nachgereicht von der FAZ), David Wagners "Der vergessliche Riese" (Berliner Zeitung) und neue estnische Romane von Viivi Luik und Karl Ristikivi (FAZ).
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Kunst

Dona Jalufka, Phases, 2016 (c) Dona Jalufka 


Gleich zwei österreichische Museen beschäftigen sich aktuell mit der Mondlandung, wobei Almuth Spiegler in der Presse die Schau "Ticket to the Moon" in der Kunsthalle Krems der Ausstellung "Fly Me to the Moon" im Salzburger Museum der Moderne vorzieht. Während ihr letztere wie eine "kuratorische Rumpelkammer" erscheint, erkennt sie in Krems: "Ein bisschen 'Space', ein bisschen mehr Raum zwischen den Arbeiten tut dem künstlichen Mondzauber eindeutig gut. Den malerischen Fake-Geister-Begegnungen etwa, die Thomas Riess den Astronauten mit ein paar Pinselstrichen ins sonst fotorealistische Bild zaubert. Den fantastischen Raketenentwürfen, die Andreas Werner mit Bleistift groß auf Papier setzt. Der weiblichen Inbesitznahme von (falschen) Mondmythen der Nives Widauer, prominent in beiden Ausstellungen vertreten - mit Bildteppichen und aquarellierten Frauenköpfen, denen sie Monde als Augen einpasst. Oder Herbert Brandls schneller Ölskizze des Plakats, das in seinem Kinderzimmer hing: Darauf der 'second man on the moon', Buzz Aldrin, in voller Montur. Man merkt: Nostalgie und Retro-Feeling herrschen vor in der Mondbetrachtung der Künstler heute."

Im Tagesspiegel-Interview mit Nicola Kuhn spricht Slivia Fehrmann, Leiterin des DAAD-Künstlerprogramms über den Rassismus, dem ihre Stipendiaten zunehmend in Berlin ausgesetzt sind: "Den Künstlern fällt auf, dass sich die Stimmung insgesamt in Deutschland verändert hat, dass es in Europa rechtsradikale Gruppierungen gibt, die an Sichtbarkeit gewonnen haben. Das bereitet allen große Sorge. Berlin bleibt weiterhin beliebt, weil es hier im Vergleich zu anderen Städten immer noch ein sehr plurales, heterogenes Leben gibt."

Weiteres: Udo Kittelmann, Direktor der Nationalgalerie verlässt seine Position auf eigenen Wunsch zum 31. Oktober 2020, meldet die Berliner Zeitung. Besprochen wird das Ausstellungsprojekt "Licht Luft Scheiße" im Botanischen Garten, in der NGBK und im Prinzessinnengarten (taz) und die Ausstellung "Museum" im Frankfurter Museum für Moderne Kunst (Zeit).
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Architektur

In der SZ schreibt Gerhard Matzig einen Nachruf auf den Münchner Architekten Andreas Meck, der im Alter von 59 Jahren verstarb: "Seine Bauten sind fehlerfrei. Makellos und bedeutsam darüber hinaus aber werden sie durch eine andere Bedeutung des Wortes 'gestimmt': Sie sind, wie präzise gestimmte Musikinstrumente, mit sich im Einklang."
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Stichwörter: Meck Architekten

Musik

Die Berliner Philharmoniker freuen sich auf ihren neuen Chef Kirill Petrenko, hat der Tagesspiegel herausgefunden. Und auch Federik Hanssen notiert im Blatt: "So viel Euphorie war selten." In der NMZ analysiert Arno Lücker den 209. der 335 Takte aus Beethovens Klaviersonate c-Moll op. 111 und bricht darüber in Frohlockungen der besonderen Art aus: "Oh Gott, Beethoven muss wirklich herrlich geistesgestört gewesen sein! Takt 209 ist allein schon optisch der wohl expressivste Takt bisher in dieser Sonate!" Im Standard schreibt Ljubisa Tosic über den Jazzkomponisten Christian Muthspiel, der in Wien sein neues Projekt "Orjazztra Vienna" vorstellt.
   
Besprochen werden Leonidas Kavakos' und Yuja Wangs Konzerte beim Lucerne Festival (NZZ) und der Berliner Auftritt des Hardcore-Punk-Urgesteins Flipper (taz).
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Bühne

Szene aus "Die Empörten". Bild: Ruth Walz.


Michael Skasa (Zeit Online) schätzt Theresia Walser ja durchaus für ihre "Cocktails aus Makabrem und Groteskem", aber ihr von Burkhard Kosminski für die Salzburger Festspiele inszeniertes Populismus-Dramolett "Die Empörten" über eine Bürgermeisterin, die im Wahlkampf gegen Rechtspopulisten antritt und eine Leiche verschwinden lassen muss, gerät ihm dann doch zu flach: Kominski ist "nichts eingefallen, seine Wortregie, die doch die Walser-typischen Dialogfetzen gewitzt hätte verstricken müssen, scheitert komplett; aus den wenigen Angeboten der Autorin für Späße und Slapstick macht er nichts (auch nicht aus der Leichenkiste als Objekt der Neugier), nicht mal aus Silke Bodenbender als aggressiv-rechter Heimatschützerin: sie ist lieb und hübsch und fehlbesetzt; kein Vergleich mit unseren realen, höhnisch versauerten Blondies von der Rechten!" Einen "matten Politboulevardtheaterabend" erlebt auch Christine Dössel in der SZ.

Peter Sellars Kürzungen des "Idomeneo" - und vor allem seine Aussage, er würde die Arie "No, la morte io non pavento" hassen (Unser Resümee), beschäftigten die Kritiker mehr als die eigentliche Salzburger Aufführung. Auch vier Wochen später schnappt Laurenz Lütteken in der NZZ noch nach Luft:  "Wie oft ist behauptet worden, Äußerungen wie die von Sellars seien lediglich bloße Provokation? Doch Provokation durch Hassbekundung, wie lax auch immer sie formuliert sei, pflegen heutzutage auch dubiose Anhänger von Fake-News oder wütende 'Lügenpresse'-Skandierer. Eine verantwortliche Theaterpraxis sollte sich zweifellos wahrnehmbar von solchen Dunkelzonen unterscheiden, allemal nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts."

Im Juni 2019 forderte die baden-württembergische AfD-Landtagsfraktion Auskunft darüber, wie viele Künstler der Staatstheater Stuttgart keinen deutschen Pass haben, erinnert Peter Kümmel und kommentiert für die Zeit die Reaktion des Personalrats der Staatstheater, Klaus Schrankenmüller: "'Solche Listen, auf denen Menschen in Deutsche und Nichtdeutsche eingeteilt wurden, gab es vor 80 Jahren schon einmal.' Wer solche Daten sammele, suggerierte der Personalrat, wolle sie auch nutzen. Das mag ein drastischer Schluss sein. Aber unplausibel ist er nicht. Vor allem dann nicht, wenn man das theaterpolitische Vokabular der AfD - Theaterkultur muss die Nation stärken; Bühnenensembles haben dem Kernvolk vorzuführen, was es empfinden soll - mit den Argumentationsmustern der deutschen Theaterkritik nach 1933 vergleicht."

Weitere Artikel: Von einem Krieg hinter den Kulissen der Salzburger Osterfestspiele erzählt Ljubisa Tosic im Standard: Dirigent Christian Thielemann möchte 2022 "Lohengrin" und 2023 "Elektra" aufführen, Nikolaus Bacher, Widersacher und ab 2020 geschäftsführender Intendant, blockiert die Pläne: "Es drängt sich das Gefühl auf, Thielemann solle womöglich die Lust an seiner Salzburger Tätigkeit verlieren und mit seiner Sächsische Staatskapelle Dresden abwandern." In der FAZ meint Jürgen Kesting: "Es ist ein singulärer Vorgang in einer zum Weltwarenhaus erniedrigten 'Hochkultur', dass es unter dem Protektorat einer Politbanditengesellschaft einem zum künstlerischen Leiter ernannten Dirigenten verwehrt - gar verboten - wird, seine Programmvorstellungen zu verwirklichen." In der taz kommentiert Astrid Kaminski das Urteil des Landesarbeitsgericht, das die Kündigung der Intendantin des Tanztheaters Wuppertal, Adolphe Binder, für unwirksam erklärte: "Ende gut, alles schlimm".

Besprochen wird Ruth Beckermanns James-Joyce-Installation "Joyful Joyce" bei den Salzburger Festspielen (Standard), Feridun Zaimoglus "Siegfried. Ein Monolog" bei den Bayreuther Festspielen (Tagesspiegel) und das Zürcher Theater Spektakel (FAZ).
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