Efeu - Die Kulturrundschau

Es brechen aufregende Zeiten an

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24.08.2019. Noch ganz hypnotisiert sind die Musikkritiker von Kirill Petrenko, der mit Beethovens Neunter seinen Auftakt als neuer Leiter der Berliner Philharmoniker feierte: Petrenko verkörpert die reine Kunst, jubelt der Tagesspiegel. Im Guardian wirft Ai Weiwei den Europäern "moralische Überlegenheit" vor und verzieht sich deshalb nach Großbritannien. Zeit Online heult beim Anblick der Schönheit der Werke von Rebecca Horn in Basel und Metz. Im Standard sehnt sich der Schriftsteller Gustav Ernst nach Literatur, die zum Erwürgen anstiftet. Die SZ ergründet die obskuren Vorlieben von Musikkassetten-Fans.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.08.2019 finden Sie hier

Musik

Kiril Petrenko hat sein offizielles Auftaktkonzert als neuer Leiter der Berliner Philharmoniker gegeben - auf eigenen Wunsch mit Beethovens Neunter. Von stehenden Ovationen berichtet Ulrich Amling im Tagesspiegel, der wohl auch selbst aufgestanden ist: "Petrenko reißt mit großen Dynamiksprüngen ein Menschheitsdrama auf, das bewegt - viel Licht, noch mehr Dunkel, dazwischen die Musik wie ein Pendel, hypnotisch kreisend. Eines ist dieser Beethoven gewiss nicht: allzu leicht fassbar und vorauseilend auf eine Botschaft heruntergebrochen, die twitterfähig wäre. ... Es brechen aufregende Zeiten an." Einen Visionär im Sinne ihrer Orchestergeschichte haben sich die Philharmoniker mit diesem "begnadeten Dirigenten und bedeutenden Interpreten" zwar nicht erwählt, meint Peter Uhling in der Berliner Zeitung. Doch auch er lobt das Konzert: "Petrenko sind jegliche Statements mittlerweile verhasst. Auch diese Neunte Symphonie bezieht ihre Wirkung nicht aus einer interpretatorischen Originalität, deren Verdienste narzisstisch beim Dirigenten verbleiben, sondern aus der energischen Herausarbeitung ihrer Kontraste und tonsprachlichen Eigenheiten."

Im Tagesspiegel-Kommentar glaubt Fredrik Hanssen, dass die Berliner Philharmoniker - unter Simon Rattle längst im Kommunikationszeitalter und in der Mitte der Gesellschaft angekommen - Petrenko vor allem auch deshalb zum neuen Leiter gewählt haben, "weil er die reine Kunst verkörpert. Vermarkten kann sich das basisdemokratisch organisierte Spitzenorchester selber. ... Darum können sie es sich leisten, mit ihrem neuen Chefdirigenten den Blick nach innen zu richten, in die Noten statt in die Kameras."

Weiteres zu den Philharmonikern: Frederik Hanssen blickt im Tagesspiegel zurück auf die Geschichte der Berliner Philharmoniker und ihrer oft komplizierten Dirigentenfindung. Heute Abend spendiert das Orchester den Berlinern einen weiteren Beethoven-Abend, diesmal am Brandenburger Tor (der RBB überträgt live). Zehntausende werden erwartet - für Michael Stallknecht (SZ) ein Indiz dafür, dass es um die Klassik bei weitem nicht so schlecht steht, wie mancher glauben machen mag.

Eher skeptisch blickt SZ-Kritiker Jan Kedves auf das Musikkassetten-Revival, das mancherorts schon ausgerufen wird, weil nun auch Madonna und Konsorten ihre neue Alben auf dem wenig komfortablen Medium (wieder) herausbringen und auch Kleinlabels obskure Veröffentlichungen gerne auf Tape bringen. Dahinter steckt aber vor allem ein Sammlerphänomen, schreibt Kedves: Der Anteil von Kassetten am Gesamtumsatz im Markt sei im Sinken begriffen. Dieses Revival "geht vor allem in die Breite - immer mehr Veröffentlichungen erscheinen auch auf Kassette, aber die Auflagen sind dann oft so gering, dass man von Kleinstauflagen oder gar von Editionen sprechen muss. In den Pop passt das allerdings gut, denn auch wenn man dort auf Rekorde und Nummer-Eins-Platzierungen schaut, ist die Relevanz neuer Pop-Phänomene eben nicht immer mit kalten Zahlen zu belegen - ganz abgesehen davon, dass die Hipster und die Obskurantisten im Pop immer ein ganz besonderes Eckchen für sich gefunden haben."

Weiteres: Stephanie Grimm berichtet in der taz vom Berliner Pop-Kultur-Festival, das letzte Nacht zu Ende gegangen ist. Ueli Bernays resümiert in der NZZ das Zürich Openair 2019, wo unter anderem Billi Eilish auftrat. Für die FAZ besucht Jan Brachmann die Richard-Strauss-Villa in Garmisch-Partenkirchen.

Besprochen werden das neue Album von Taylor Swift (SZ, Tagesspiegel, Welt, mehr dazu bereits hier), Igor Levits Auftakt seines Zyklus mit Beethoven-Sonaten (Brugs Klassiker, FAZ), die Memoiren des Wilco-Sängers Jeff Tweedy (Berliner Zeitung), ein Mahler-Abend mit den Wiener Philharmonikern und der Mezzosopranistin Okka unter Daniel Barenboims Dirigat (Standard) und das neue Album von Föllakzoid (The Quietus). Eine düstere Hörprobe:

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Literatur

Sympathisch renitent gibt sich der Schriftsteller und Zeitschriftenherausgeber Gustav Ernst, der gestern 75 Jahre alt geworden ist, im Standard-Gespräch, etwa auf die Frage nach dem Roman als Ware, der hochfrequent durch die Auslagen der Bücherhandlungen gespült wird: "Ich bin gegen diese belletristische Schwemme! Da werden Unmengen von Dingen zusammengeschrieben, G'schicht'ln, in denen nichts Wesentliches stattfindet. Wir plädieren für das Überschreiten der Null-acht-fünfzehn-Form. ... Es ging uns realistischen Autoren darum, Zustände zu beschreiben: durchaus in einer Abfolge, sodass sie zusammen eine gemeinsame Geschichte ergaben. Das Unterhaltende war nicht vordringlich. Es sollten die Verhältnisse zur Kenntlichkeit gebracht werden" und zwar "so, dass man aufspringt, aus der Tür rennt und den nächsten erwürgt!"

Im taz-Interview mit Andreas Fanizadeh spricht der türkische Bürgerrechtler und Schriftsteller Doğan Akhanlı, der nächste Woche mit der Goethe-Medaille ausgezeichnet wird, über den Prozess gegen ihn in der Türkei und über seinen neuen Roman "Madonnas letzter Traum", ein literarisches Echo auf Sabahattin Alis Roman "Madonna im Pelzmantel" von 1943. Akhanlı verspricht "eine Spurensuche in Deutschland, Polen, Rumänien und in der Türkei - von der Gegenwart bis zur NS-Zeit. Ich habe mit mir selbst als 'namenlosen Leser' eine Romanfigur entwickelt und bin Alis jüdischer Protagonistin Maria Puder gefolgt. War Maria Puder nur eine Romanfigur ist, oder hat sie vielleicht wirklich gelebt? ... Ich kann so von verschiedenen Formen der Verfolgung und staatlicher Gewalt in der Geschichte literarisch erzählen. Auch etwa, wie beachtlich die Transformation von der NS-Diktatur zur Demokratie in Deutschland ist, während in der Türkei weiterhin das Vergessen Gesetz ist."

Weiteres: Die Literarische Welt hat die Schauspielerin Sibel Kekilli und den Fantasy-Schriftsteller und "Game of Thrones"-Schöpfer George R.R. Martin zum Gespräch an einen Tisch gesetzt. In der NZZ gratuliert Jan Wilm dem britischen Schriftsteller Martin Amis zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Bücher von und über die Naturschriftstellerin Rachel Carson (NZZ), Robert Macfarlanes "Im Unterland" (FR), Matthias Brandts "Blackbird" (Zeit, Literarische Welt), Peter Brauns "Ilse Schneider-Lengyel. Fotografin, Ethnologin, Dichterin" (Tagesspiegel), Olaf Schmidts "Der Oboist des Königs" (taz), Dana von Suffrins Debütroman "Otto" (SZ), Ilma Rakusas "Mein Alphabet" (NZZ) und Alessandro Pipernos "Wo die Geschichte endet" (FAZ).
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Kunst

Rebecca Horn: Überströmer. 1970. Tate Collection. London.


"Heulen" angesichts der Schönheit der Werke von Rebecca Horn möchte Tim Ackermann (Zeit Online) nachdem er sowohl die Basler Schau "Körperphantasien" im Museum Tinguely als auch die Ausstellung "Theater der Metamorphosen" im Centre Pompidou Metz gesehen hat - wobei ihn erste in ihrer "wohltuenden" Klarheit noch stärker berührt hat: "Fast 50 Arbeiten wurden hier nach vier Bewegungstypen - 'Flügel schlagen', 'Zirkulieren', 'Einschreiben' und 'Tasten' - in einem Parcours geordnet, der Horns pure poetische Kraft offenbart. Mit unverminderter Wucht trifft etwa ihr Kurzfilm Bleistiftmaske (1972), zu sehen im Einschreiben-Kapitel: Horns Gesicht ist von einem Geschirr eingeschnürt, das mit spitzen Bleistiftenden zunächst eher wehrhaft wirkt. Doch dann tritt die Künstlerin mit dem Ausdruck einer Verdammten vor ein an der Wand hängendes leeres Blatt, an dem sie sich in wütender Kopfschüttel-Bewegung im wahrsten Sinne des Wortes "abreibt". Dieses Werk ist mannigfaltig deutbar, gehört aber zweifelsfrei zu den bewegendsten Beispielen feministischer Kunst."

Ulrike Ottinger: Allen Ginsberg, 1966, Puzzle, Acryl auf Pressspan, 85 × 115 cm. Foto: Francis von Stechow


Angeregt flaniert Friederike Horstmann im Tagesspiegel durch die Ulrike-Ottinger-Ausstellung "Paris Calligrammes" im Berliner Haus der Kulturen der Welt, die ihr in Filmfragmenten, Fotografien, Plakaten, Faksimilies, Büchern und kolonialen Bildpostkarten die geschichtsträchtige "Erinnerungslandschaft" der Künstlerin eröffnet: "Beim Betreten springen die leuchtenden Farben der Wandteppiche vor ultramarinblauen Wänden sofort ins Auge. Für die Ausstellung hat Ottinger ihre frühen, in den 1960er Jahren entstandenen Siebdrucke als Wandteppiche nähen lassen: In knalligen Farben bezieht sich die Bildererzählung 'Journée d'un G.I.' auf den Vietnamkrieg. In textlosen Sprechblasen übt die episodenartige Erzählung humorvoll Kritik an Gewalt, Sexismus und kultureller Vormachtstellung. Darüber hinaus zeigt die comicstripartige Serie Ottingers frühes Interesse am nichtlinearen Erzählen und an ausdrucksstarken Bildkompositionen. Der textile Ausgriff in die dritte Dimension mit Pailletten und Perlen, mit Filz, Fell und Flokati lässt das Verspielte und Verschmitzte noch stärker in den Vordergrund treten."

Ai Weiwei wird mit Partnerin und Kind nach Cambridge ziehen, meldet der Guardian, dem gegenüber der chinesische Künstler jetzt nochmal nachlegte: "Die Europäer sollten nicht das Privileg der moralischen Überlegenheit haben. Dass man Dank von denen erwartet, die am verzweifeltsten kämpfen und unter Gewalt und Armut leiden, macht mich krank."

Besprochen wird die Ausstellung "Wandler" von Nadja Schöllhammer in der Berliner Galerie Nord (taz).
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Film

Solo für Julianne Moore: "Gloria"

Schon einigermaßen kurios ist Sebastián Lelio "Gloria", mit dem der Chilene den in seiner Heimat gedrehten Berlinale-Erfolgsfilm von 2013 (unsere Festivalkritik) in Los Angeles einfach neu gedreht und mit Julianne Moore in der Titelrolle besetzt hat. Sie spielt eine Frau mittleren Alters, die im Leben gestrandet zu sein scheint. Zwar ist der Film "ein großes Solo" für die Hauptdarstellerin, die den Film auch produziert hat, schreibt Bert Rebhandl in der FAZ. Doch für ihn zeichnen sich mit der Neuverfilmung vor allem "die Logiken der medialen Weltgesellschaft" ab: "Das chilenische Original ist in jeder Hinsicht interessanter, spezifischer, man lernt Menschen kennen, von denen man sonst wenig wüsste. Die amerikanische Version ist hingegen eher eine Wiederbegegnung mit einer Frau, die ein globales Image hat und die es hier im Wesentlichen bekräftigt."

Weiteres: Für den Filmdienst hat Margret Köhler mit Roberto Saviano gesprochen, dessen Roman "Der Clan der Kinder" gerade fürs Kino adaptiert wurde (mehr zur Verfilmung hier). Andrey Arnold wirft in der Presse einen ersten Blick ins Programm der Viennale, die am 24. Oktober beginnt.

Besprochen werden Brian de Palmas auf DVD veröffentlichter Film "Domino" (critic.de), Gene Stupnitskys High-School-Film "Good Boys" (Film Bulletin, FR), Gurinder Chadhas "Blinded By The Light" (Freitag, Standard), Alexandre Ajas Krokodil-Horrorfilm "Crawl" (SZ) und eine BluRay-Neuauflage von Richard Linklaters "Dazed and Confused" (Filmdienst).
Archiv: Film

Bühne

Szene aus "All the Good". Foto: Maarten Vanden Abeele


Noch "viel fantastischer, lustiger und befreiender" als die Netflix-Serie "How to Sell Drugs Online (Fast)" findet Wiebke Hüster in der FAZ das Ruhrtriennalen-Stück "All the Good" der belgischen Needcompany, das ihr in einem Mix aus Schauspiel, Tanz, Konzert und Vortrag von Sex, Kunst und Politik erzählt: "Stellvertretend für tabuisierte Handlungen wird auf der Bühne in zwei Stunden Nacktheit spielerisch, zärtlich, gewalttätig und manchmal obszön ausgestellt. Sexualität und Liebe sind Gegenstand von Gesprächen zwischen Kindern und Eltern. Gezeigt wird der gelungene Übergang in eine neue Stufe von familiärer Intimität: all das Gute eben. Nur scheinbar nebenbei werden Fragen militärischer Konflikte erörtert." Nachtkritiker Martin Krumbholz sind indes Vagina und Penis in Nahaufnahme zu groß, der Sex zu explizit und der ganze Abend zu wirr.

Besprochen werden Christoph Marthalers Stück "Nach den letzten Tagen. Ein Spätabend" (Der Abend will zu viel, Marthalers politischer Scharfsinn, der sonst aus Alltagsbeobachtungen wächst, will hier nicht greifen, meint Regine Müller in der taz), Nora Chipaumires Stück "#PUNK 100% POP *N!GGA" beim Festival Theaterformen in Hannover (nachtkritik), Lignas Inszenierung "Schafft zwei, drei, viele Gänge" auf Kampnagel in Hamburg (nachtkritik).
Archiv: Bühne

Architektur

Die Werke des 1988 gestorbenen, mit dem Pritzker-Preis ausgezeichneten Luis Barragan stehen ausschließlich in Mexiko, der geistige Nachlass des berühmtesten mexikanischen Architekten ist indes über Umwege bereits 1995 in der Schweiz gelandet, wo Rolf Fehlbaum, einst Vitra-Chef, die Barragan-Foundation gründete, seine Frau Federica Zanco zur Direktorin machte und den Zugang zum Nachlass verweigert, schreibt Frank Steinhofer in der SZ. Die Mexikaner werfen der Foundation "kulturelle Aneignung" vor, auch weil die Bildrechte an den Bauwerken bei der Foundation liegen: "Eigentum bedeutet nicht geistiges Eigentum. Zumindest in Ländern wie Deutschland und Mexiko. Im Fall von Barragán liegen die Nutzungsrechte bei der Barragan Foundation. Doch wie nimmt man die Rechte eines Verstorbenen wahr? In welchem Geist legt man sie aus? Strittige Fragen. Sie führen an Grenzen, was rechtens ist und als gerecht erscheint. Der deutsche Dokumentarfilmer Heinz Emigholz wollte 2012 für seine Reihe 'Aufbruch der Moderne' Gebäude von Barragán filmen - und sollte einen Betrag in Höhe von 30 000 Euro aufwenden. 'Logischer Unsinn' sei das, Rechte für Bilder zu bezahlen, die noch gar nicht existieren. Emigholz spricht von 'Bildzensur durch Kapitalisierung imaginärer Rechte'."

Von Carl ha - eigenes Werk, CC BY-SA 4.0. Quelle: Wikipedia


Für die NZZ ist Sabine von Fischer an die Côte d'Azur gereist, um in Roquebrune-Cap Martin der legendären Geschichte des Hauses E1027 nachzuspüren, das Le Corbusier zugeschrieben und von ihm umgestaltet wurde, tatsächlich aber von der irischen Designerin Eileen Gray entworfen wurde. "Defense de rire" pinselte Gray in das Haus: "Wer würde hier denn lachen? Die offene, helle Architektur mit raffinierten Übergängen von einem Raum in den andern verzaubert und fasziniert. Die Räume schwimmen eher in der Landschaft, als dass sie stehen; wie ein Schiff, das allen Widerwärtigkeiten trotzen und davontreiben könnte, wenn es dann einmal wollte. Doch als es später widerwärtig wurde, blieb das Haus stehen und dem Zerfall überlassen."
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