Efeu - Die Kulturrundschau

Am Ende marodieren Clownshorden

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02.09.2019. In Venedig jubeln die Filmkritiker über Joaquin Phoenix als "Joker", der bei ihnen geradezu "Taxi-Driver"-Stimmung aufkommen ließ. Artechock fragt sich allerdings, ob in diesem Film nicht der Bürger ausgeschaltet wird.  In der Welt lernt Manuel Brug, dass man dicke Frauen auf der Bühne ausstellen darf, aber nicht über sie schreiben.  Die Nachtkritik erlebt am Deutschen Theater Politikverdruss erster Güte:  Wie Heiner Müller, nur kürzer. Und die FAZ erinnert daran, wie Claude Monet vor 150 Jahren mit breiten Pinselstrich die Konventionen der schönen Malerei hinwegwischte.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.09.2019 finden Sie hier

Film

Joaquin Phoenix ist "Joker"

Joaquin Phoenix hält die Filmkritiker in Venedig als "Joker" in Atem: Keine Popcorn-Blockbuster-Sause über Batmans quirligsten Gegner wurde hier vorgelegt, sondern eine finstere Charakterstudie vor urbaner Kulisse, die an das verfallende New York um 1980 erinnert. Bei diesem "dreckigen, fast haptischen Realismus, der sichtlich vom Kino des New Hollywood inspiriert ist", kommt unweigerlich "Taxi Driver"-Stimmung auf, meint Andreas Busche im Tagesspiegel: Die Titelfigur "wirkt wie arretiert in einem fragilen Bewusstseinszustand, der jederzeit abrupt von einer deliranten Musicaleinlage in Gewalt umschlagen kann. Am Ende marodieren Clownshorden durch Gotham City." Schauspielerisch war es ein Fest, schreibt Tim Caspar Boehme in der taz: "Von seinem anfallartigen, unkontrolliert meckernden Lachen bis zu grandios entrückten Tanzeinlagen inkarniert Joaquin Phoenix die Entwicklung des fragilen Underdogs." Eine "fast schon systemverändernde Sprengkraft" attestiert Tobias Kniebe in der SZ dem Film: Zu sehen gibt es "die Fallstudie eines Mannes, der wirklich bei jeder Gelegenheit brutal in die Fresse kriegt, in einer Stadt voller Hoffungsloser und aggressiver Bullies. ... Dieser Joker ist menschengemacht, er ist auch das Produkt der Budgetkürzungen im Gesundheitswesen, durch die er seine Medikamente verliert, eines durch und durch herzlosen Systems."

Auch Rüdiger Suchsland zeigt sich auf Artechock beeindruckt, äußert aber auch erhebliche Einwände: Der Film "verrät einiges über den Zeitgeist: Rache- und Revolutionsphantasien, vereint durch das in ihnen liegende Wutbürgertum, werden bedient, Verachtung für Rechtsstaat, Medien, Politik sowieso. Das sei doch 'bloß' Unterhaltung, werden jetzt wieder viele einwenden. Eben! Als Konsument schluckt man Dinge bereitwillig, als Bürger ist man innerlich zu gelähmt, um sie zu bekämpfen." Auch Beatrice Behn von Kinozeit sieht in dem Film nicht zuletzt "ein wahres Geschenk an den derzeitigen Populismus, vor allem den der Incels , Maskulinisten, Amokläufer und Rechten, denn er kreiert eine Galionsfigur für ihre Causa und vor allem ihren Blick auf den Rest der Gesellschaft."

Meryl Streep in "The Laundromat"

Außerdem lief Steven Soderberghs für Netflix gedrehtes Korruptionsdrama "The Laundromat" mit Meryl Streep, Antonio Banderas, Gary Oldman und Sharon Stone. Es geht um die Panama Papers, beziehungsweise um deren Leak - dies aber "als bemühte Komödie, die man kaum Satire nennen möchte", erklärt Andreas Busche im Tagesspiegel. "Soderbergh versteht es eigentlich, solche komplexen Narrative dramaturgisch zu verdichten. Aber 'The Laundromat' fehlt sowohl der Witz als auch ein wirkliches  Interesse, die globalen Finanzmärkte mit ihren unübersichtlichen Offshore-Aktivitäten einem Laienpublikum zu erklären."

Mariana Di Girolamo in "Ema"

Dafür hat Pablo Larraíns "Ema" Busche ziemlich umgehauen. Sehr ähnlich sieht das Dietmar Dath (im übrigen auch sehr begeistert von Kristen Stewart als Jean Seberg in "Seberg") im FAZ-Blog: Dieser Film handelt von einem "Feuer, das Menschen frisst, als Sex verkleidet, und eine dämonische Sorte Familiensinn, die dem Spiel Vater-Mutter-Kind tausendmal gefährlicher werden muss als alle antiautoritären Experimente der Achtundsechziger. ... Das Werk ist komplett pervers und Pablo Larraín ein Irrer. Aber ein sehr ruhiger. Ich meine das als Lob", denn "wer den Kopf auf den Boden legt, damit dieser Film drüberfahren kann, wird was ganz Besonderes erleben." Außerdem aus Venedig: Hanns-Georg Rodek (Welt) und Daniel Kothenschulte (FR) schreiben über Roman Polanskis "J'Accuse" (mehr dazu hier).

Weiteres: Andreas Busche legt den Berliner Tagesspiegel-Lesern die Retrospektive Franz Borzage im Kino Arsenal ans Herz. Für critic.de schafft Robert Wagner einen Überblick über die Reihe. In der Welt hofft Peter Huth darauf, dass von der kommenden Serie "The Mandalorian" endlich belebende Impulse für das "Star Wars"-Franchise ausgehen.

Besprochen werden Emma Davies und Peter Mettlers Dokumentarfilm "Becoming Animal" (Freitag), die Ausstellung "Kino der Moderne. Film in der Weimarer Republik" im Museum für Film- und Fernsehen in Berlin (SZ), der auf Heimmedien veröffentlichte "Wakefield" mit Bryan Cranston (SZ), Emily Atefs Frankfurter "Tatort" (ZeitOnline, Welt) und Eckhart Schmidts "Loft" von 1985 (critic.de).
Archiv: Film

Bühne

Kathryn Lewek als Eurydike in Barrie Koskys Inszenierung von Offenbachs "Orpheus in der Unterwelt". Foto: Monika Ritterhaus
In der Welt erzählt Manuel Brug, wie er zum Ziel einer internationalen Empörungswelle wurde. Genervt von Barry Koskys Sexklamottenversion der Offenbach-Operette "Orpheus in der Unterwelt" hatte er in seiner Salzburg-Reportage geschrieben: "Leider läuft der gut geölte Marionetten-Mechanismus schnell leer, immer wieder machen dicke Frauen in engen Korsetten in diversen Separees die Beine breit." Wie konnte er nur! Bodyshaming! Es störte sich daran, wie er schreibt, wie hier das geile, fruchtbare Vollweib als Pornostereotyp in Szene gesetzt wird. "Wie gesagt: Über diese für jeden zu sehende Bühnentatsache habe ich einen Satz geschrieben - und dabei den Regisseur und seinen Interpretationsansatz kritisiert. Der Satz zielte auf dicke Frauen als Prinzip der Inszenierung, denn da waren dicke, als solche betonte Frauen zu sehen. Ohne Namensnennung, denn es ging hier nicht um eine Bühnenfigur im speziellen, sondern das praktizierte Prinzip. Das hat die amerikanische Sängerin der Eurydice offenbar nicht so verstanden, vermutlich kann sie auch kein Deutsch. Nach einiger Inkubationszeit zettelte sie in den sozialen Medien eine grelle Bodyshaming-Kampagne an. Sie sei als 'fett' verachtet worden."

Im Deutschen Theater hat Sebastian Hartmann Shakespeares "Lear" inszeniert, und zuerst macht sich bei Nachtkritiker Christian Rakow und im Publikum "ehrliche Ratlosigkeit", so bleiern war die Szenerie. Aber dann wurde es doch großartig, versichert Rakow: "Hartmann hat diesem 'Lear' noch einen Epilog verpasst. Und von dem wird man noch in Jahren sprechen, mein Wort drauf. Wolfram Lotz hat ein neunundneunzigseitiges Poem verfasst, "Die Politiker" betitelt, und wenn man's so liest, meint man erst: Das hat Heiner Müller aber kürzer hingekriegt - 'Ich war Hamlet. Ich stand an der Küste und redete mit der Brandung BLABLA, im Rücken die Ruinen von Europa'. Bei Lotz hingegen neunundneunzig locker bedruckte Seiten Politikverdruss, mit allem, was die gute Timeline in Social Media-Zeiten thematisch hergibt, samt privaten Einschüben, Schreibreflexionen, Literatenwitz. Alles bewusst flächig und sprunghaft."

Weiteres: SZ-Kritikerin Theresa Hein besucht den Dramatiker Wolfram Lotz im Elsass. In der Berliner Zeitung meldet Ulrich Seidler, dass die Münchner Kammerspiele unter dem allerdings bereits geschassten Intendanten Matthias Lilienthal zum Theater des Jahres gekürt wurden.

Besprochen werden Jette Stekels Inszenierung von Nino Haratischwilis Roman "Die Katze und der General" im Hamburger Thalia Theater (SZ, Nachtkritik). Valentin Schwarz' Inszenierung von Puccinis "Turandot" in Darmstadt (FR, FAZ).
Archiv: Bühne

Kunst

Claude Monet: Der Froschteich / National Gallery London


In der FAZ erinnert Karlheinz Lüdeking an die Geburtsstunde des Impressionismus vor 150 Jahren, die er auf den September 1869 datiert, als Monet und Renoir im Ausflusgslokal La Grenouillère die geleckte Malweise der École des Beaux-Arts aufgaben: "Monet benutzte, anders als Renoir, keine dünnen und spitzen Pinsel, sondern breite mit gleichlangen Borsten. Winzige Details kann man damit schlecht wiedergeben, wohl aber übergreifende Strukturen wie die Licht- und Schattenpartien eines Baumes. Tatsächlich zeigt Monets Bild eher dasjenige, was sich schon einem ganz kurzen Blick auf die dargestellte Szene darbietet. Ein solcher Blick entspricht genau der Art und Weise, in der sich die Beteiligen selbst über das Geschehen orientieren. Wer selbst teilnimmt, kann gar nicht alles genau erfassen. Viel wichtiger ist es, aus der verwirrenden Vielfalt der Eindrücke konstante Muster herauszulesen, die in der ständigen Veränderung ihre Kontinuität bewahren."

Bereist in der vorigen Woche sah Kritiker Johannes Wendland in der FR die Hamburger Kunsthalle in einer Krise: Erst läuft ihr der Chef davon, dann floppt die geplante Blockbusterschau zum englischen Maler Thomas Gainsborough und jetzt gerät die Jubiläumsausstellung "Beständig. Kontrovers. Neu." zum 150-jährigen Bestehen zum reinen Leseparcours: "Wer Infografiken mag, kann hier Übersichten über alle Öffnungszeiten, Eintrittspreise und Diebstähle seit dem Gründungsjahr finden. Eine Wand voller Stifterporträts zeigt, wie wesentlich Schenkungen für ein Kunstmuseum in einer Bürgerstadt sind. Die spannenden Geschichten dahinter werden aber nicht erzählt."

Besprochen wird die Schau "Garten der irdischen Freuden" im Martin-Gropius-Bau (FAZ).
Archiv: Kunst

Literatur

Dlf Kultur und die FAS präsentieren die besten Krimis des Monats - auf der Spitzenposition: "Kaltes Licht" von Garry Disher. In der FAZ erinnert Martin Kämpchen an Hermann Keyserlings vor 100 Jahren erschienenes "Reisetagebuch eines Philosophen", das seinerzeit eine erhebliche Indien-Begeisterung auslöste.

Besprochen werden unter anderem der Roman "Lass uns mit den Toten tanzen" der Sea-Watch-Kapitänin Pia Klemp (ZeitOnline), die Neuauflage von Horst Krügers "Das zerbrochene Haus" (Zeit), Peter Kurzecks postum veröffentlichter Roman "Der vorige Sommer und der Sommer davor" (FR), Frank Heiberts Neuübersetzung von Raymond Queneaus "Zazie in der Metro" (Freitag), C. Bernd Suchers "Mamsi und ich. Die Geschichte einer Befreiung" (Tagesspiegel), Jo Nesbøs "Messer - Ein Fall für Harry Hole" (Presse), Ulrich Woelks "Der Sommer meiner Mutter" (online nachgereicht von der FAZ) und neue Krimis, darunter Tawni O'Dells "Wenn Engel brennen" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Arne Rautenberg über Emmy Ball-Hennings' "Ätherstrophen":

"Jetzt muss ich aus der großen Kugel fallen.
Dabei ist in Paris ein großes Fest.
..."
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Architektur

In der FAZ ärgert sich Gertrude Cepl-Kaufmann über die Stilisierung des Bauhauses zum "einzigartigen" Projekt der Moderne, denn es gab zuvor schon die Reformbewegung von Henry van de Velde, den Werkbund in Köln oder Bruno Tauts Architektenbund "Gläserne Kette".
Archiv: Architektur
Stichwörter: Bauhaus, Taut, Bruno

Musik

Oh weh, ein Freudenfest der Orginalität scheint Missy Elliotts Comeback-EP "Iconology" nicht gerade zu sein, wenn man Stephen Kearse auf Pitchfork glauben kann: "Auf dieser EP wird nichts gerappt oder gesungen, was nicht an Missys Vergangenheit geknüpft ist. 'Throw it Back' is ein lauwarmer Nostalgietrip, der wenig unternimmt, um den Mangel an Inspiration zu kaschieren. Im Rückblick auf ihren Werdegang recycelt Missy müde Reimschemata und stopft ihre Verse mit trockenen Anspielungen auf ihre Hits aus. Die Anspielungen auf ihre glorreichen Zeiten sind so kunstlos und halbgar, dass es sich fast schon um Anmerkungen von der Plattform Genius handeln könnte. ...  Der Fokus auf Ikonografie frustriert gerade darin, dass Missys weitgreifender Einfluss auf das letzte Jahrzehnt (Missys DNA findet man bei Tierra Whack, Tyler, the Creator, Azealia Banks, M.I.A., FKA Twigs, J. Cole und vielen anderen) und ihre vielbesungenen Leistungen unberücksichtigt bleiben." Wir wagen trotzdem einen Versuch:



Im Standard stampft Karl Fluch den Alpenrocker Andreas Gabalier, der die Camouflage rechter Inhalte unter dem Gewand unverbindlicher Gaudi ziemlich gut versteht, in Grund und Boden: "Rock'n'Roll war ein Ausbruch aus dem Reaktionären, während Gabalier für einen Einbruch ins Reaktionäre steht, indem er seine Lieder mit Gefühlen aus dem Heimatfilm der 1950er auflädt. Und Rock'n'Roll ist sein glatter Mainstream-Rock natürlich keiner. Gabalier klingt eher wie eine Art Bauern-Bon-Jovi, den seine Ansichten und Ansagen als Bon Chauvi ausweisen, so wie er auf Herkunft, Tradition und der vermeintlichen Norm herumreitet. Derlei verbohrte Wesenszüge als die eines 'stinknormalen Steirerbuam' auszugeben, ist eine von vielen Anmaßungen, wie sie im Feuchtgebiet von Minderwertigkeitskomplex, Größenwahn und Damenspitz leider öfter einmal gedeihen."

Weiteres: Für den Tagesspiegel experimentiert Christian Vooren mit der Musiker-App "Fiverr". Besprochen werden Kirill Petrenkos Antrittskonzert bei den Berliner Philharmonikern ("was eine Ode an die Freude sein soll, ist noch allzu sehr ein wütender Kraftakt", meint Michael Jäger in seiner online nachgereichten Besprechung im Freitag), Christoph Eschenbachs Antrittskonzert als Chefdirigent des Konzerthausorchesters (Tagesspiegel), ein neues Album von P. P. Arnold (FR), das Berliner Konzert der Pastels (taz) und ein Konzert von AnnenMayKantereit (Tagesspiegel).

In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Katharina Cichosch über "Loser" von Beck:

Archiv: Musik