Efeu - Die Kulturrundschau

Kniebeugen vor dem Altar

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03.09.2019. Die SZ erzählt, wie Japans Wutbürger das Stück "Aus Mangel an Meinungsfreiheit" aufführen. Die NZZ findet beim Zürcher Theaterspektakel die Avantgarde am Strand und in der Fußgängerzone. SZ und FAZ berichten vom weichen Fall des französischen Schriftstellers Yann Moix, von dem hochgradig antisemitische Schriften aufgetaucht sind. In Venedig sahen die Kritiker Filme von Costa-Gavras und Steven Soderbergh. Und der Standard fürchtet, dass die Kunst bald nicht mehr die Norm attackiert, sondern die Normverletzung.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.09.2019 finden Sie hier

Kunst

Als wäre es ein performativer Akt: Thomas Hahn berichtet in der SZ, wie auch in Japan die Auseinandersetzung um künstlerische Freiheit immer heftiger wird. Anlass ist diesmal die Triennale in Aichi, deren Direktor Daisuke Tsuda die Ausstellung "Aus Mangel an Meinungsfreiheit" ins Programm nahm. Sie zeigt kontroverse Werke, etwa eine Collage mit dem Bild des Kaisers Showa oder die Skulptur einer sogenannten koreanischen Trostfrau, also einer zur Prostituierten gezwungenen Koreanerin. Das mögen nationalistische Japaner nicht. Nach politischem Druck, Telefonterror und Drohungen wurde die Ausstellung geschlossen: "Aus Tsudas ruhiger, sachlicher Erzählung konnte man zweierlei schließen. Erstens: Es gibt in Japan eine starke Gruppe rechter Wutbürger, die gut organisiert und mit vereinten Kräften die Freiheit der Kunst torpedieren, wenn diese etwas aus der Vergangenheit aufgreift, das nicht in ihr Weltbild passt. Zweitens: Diese rechten Wutbürger sind mächtig und treffen in der japanischen Konsensgesellschaft auf ziemlich wenig Widerstand."

Wird die politische Korrektheit zum neuen Konformismus? Im Standard fürchtet nun auch Ronald Pohl, dass die Achtung von Empfindlichkeiten allmählich auf Kosten der Kunst geht: "Auf der Strecke bleiben in einem solchen Klima verschärfter Differenzwahrnehmung nicht notwendigerweise die Privilegien alter, weißer, herrischer Männer. Auf die hauchfeinen Verhältnisse der Ästhetik abgebildet, kann Unduldsamkeit, die sich politisch korrekt dünkt, den Gehalt wertvollster Kunstwerke irreparabel beschädigen. Stefan Grissemann hat im profil unlängst völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass im Bemühen, politische 'Richtigkeit' abzubilden, Kunstwerke unentwegter Überarbeitung bedürften. Am Ende eines solchen Prozesses stünde unterschiedslos ihre völlige Vernichtung. So wird der Normverletzung selbst der Prozess gemacht. Totaler Vergessenheit scheint die Tatsache anheim gefallen, dass die Kunst der Moderne sich einst als diejenige Waffe verstand, die es galt, der Bourgeoisie ins welke, verkommene Fleisch zu jagen."

Weiteres: Der Standard meldet, dass Paris sich mit Jeff Koons auf einen Standort geeinigt hat, an dem er der Stadt seinen zehn Meter hohen und dreißig Tonnen schweren Tulpenstrauß in den Boden rammen darf.
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Bühne

Samara Herschs und Lara Thoms' "We All Know What's Happening". Foto: Zürcher Theaterspektakel

SZ
-Kritiker Egbert Tholl ist hin und weg von der australischen Produktion "We all know what's happening", bei der Jugendlichen beim ohnehin tollen Zürcher Theaterspektakel erzählen, wie Australien die Insel Nauru okkupierte, mit dem Phosphor-Abbau erst unfassbar reich machte, dann in den Ruin trieb und schließlich zu einem Internierungslager für unerwünschte Flüchtlinge umfunktionierte: "Wie die Jugendlichen aus Darstellern der Sorglosigkeit zu Darstellern des allergrößten Zynismus werden, löst eine Beklemmung aus, für die einem wenige Vorbilder einfallen. In ihrem politischen Gehalt verbunden mit subtiler, theatraler Wucht kann man die australische Produktion als paradigmatisch für das Wollen von Matthias von Hartz sehen. 'Wenn man so viel Geld für ein Festival kriegt, muss es die Welt reflektieren und kann nicht nur Kunst sein.'"

Angesichts der großartigen Festivals könnte NZZ-Kritikerin Daniele Musiconico es glatt für eine gute Idee halten, die Theater zu schließen. Denn nicht nur in Zürich. sonder auch bei der Ruhrtriennale, fanden die besten Aufführungen außerhalb statt: in der Fußgängerzone, an der Uni oder am Strand: "Was passiert hier? Kunst ist sich nicht zu fein, Vermittlung zu leisten. Die Festivalleitung spricht von 'Avantgarde'. Ironisch, eigentlich. Kunst, die für ein Publikum gemacht sein soll, versteht sich als Avantgarde, wenn sie die Augenhöhe ihrer Adressaten sucht. Denn so wie in Bochum funktioniert die Öffnung des Theaterbegriffs. Und so wie in Zürich verschafft sich Theater in einer Stadt ein zeitgenössisches Bild. Es scheint, als ob diesen Sommer an den Festivals die Demokratisierung und Popularisierung des Theaters ein wichtiges Stück vorangekommen ist."

Zum Abschluss des Tanz im August moniert Astrid Kaminski in der taz eine recht "repräsentative und kulinarische" Auswahl. Ihren Kritikerkollegen, die mit partizipativeren Theaterformen ihre Selbstabschaffung fürchten, empfiehlt sie übrigens Laurent de Sutters Essay "Postcritique", dem es um ein neues Verständnis der Kritik geht: "Um, wie de Sutter es nennt, eine Kritik am 'Triumph des Gedankens über das, was er denkt'." In der FAZ fand Wiebke Hüster das Festival dagegen zu "theoriefern und zeitgeistgelenkt".
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Literatur

Von einem Skandal im französischen Literaturbetrieb berichten heute Joseph Hanimann (SZ) und Niklas Bender (FAZ): Von dem für seine derben Provokation bekannten Schriftsteller Yann Moix - heute als großer Israel-Freund bekannt - sind offenbar hochgradig antisemitische Comics und Texte aufgetaucht, die der heute 51-Jährige als junger Zwanzigjähriger in in einer rechtsextremen Studentenzeitschrift veröffentlicht hat. "Nach anfänglich verstockten Teilgeständnissen steht er jetzt zu fast allem, zieht mit zerknirschter Miene durch die Fernsehstudios und bittet um Vergebung", berichtet Hanimann. "Er sei damals ein widerlicher, verwirrter, sich selbst hassender Typ gewesen, dem er heute ins Gesicht spucken würde, erklärt er." Im übrigen hätten auch sein Verleger und sein Freund Bernhard-Henri Lévy - seinerzeit ebenfalls Gegenstand von Moix' Attacken - von den Zeichnungen gewusst. Der Betrieb zeigt sich im Allgemeinen versöhnlich, schreibt Hanimann: "Der Literaturbetrieb demonstriert, wie gut er sich zu schützen vermag, sofern der Reumütige im Rampenlicht der Öffentlichkeit genügend Kniebeugen vor dem Altar der aus dem Unsäglichen ins Positive gespiegelten Selbststilisierung zustande bringt." Wir erinnern allerdings auch daran, dass der SZ ganz ohne "Kniebeugen vor dem Altar" manche antisemitisch anmutende Karikatur verziehen wurde.

Niklas Bender ist in der FAZ von Moix öffentlichen Entschuldigungen nicht überzeugt. Er rückt "die Wahrheit nur scheibchenweise heraus, gab erst die Zeichnungen zu, dann die Texte und sprach in der Sendung dennoch nur von 'antisemitischen Comics', obwohl die der eher harmlose Teil sind. Belastend hinzu kommen neuere Fakten: Freundschaften mit den Rechtsextremen Marc-Edouard Nabe und Paul-Éric Blanrue etwa, die heutzutage zwar Vergangenheit sind, aber doch weit über die Jugendtage von Moix hinausreichten, wie Le Monde betont: bis 2013 nämlich. Schließlich wird Moix' Vorwort für eine Anthologie antisemitischer Texte von 2007 neu diskutiert. Wie verhält sich Moix dem gegenüber? Klärt die Fragen nicht und spekuliert lieber, wer ihm schaden wolle."

Weiteres: Im Tagesspiegel spricht Gerrit Bartels mit der in der DDR als Tochter eines schwarzen Vaters aufgewachsenen Schriftstellerin Jackie Thomae über ihre Erfahrungen, die sie in dem Roman "Brüder" verdichtet hat.

Außerdem ist eine neue Ausgabe des CrimeMag erschienen - im Editorial der Überblick mit allen Artikeln, Kolumnen und Rezensionen. Besonders die epischen Autorengespräche stechen diesmal heraus: Johannes Groschupf erklärt Sonja Hartl etwa, dass ihn die Arbeit als Kommentarspalten-Moderator im Netz zu seinem Thriller "Berlin Prepper" (unsere Kritik) inspiriert hat. Thomas Adcock erzählt Thomas Wörtche, warum er seinen Job als Polizeireporter aufgegeben hat, um Thrillerautor zu werden. Max Annas erzählt Marcus Müntefering wie es dazu kam, dass er in den achtziger Jahren einige Zeit in der DDR verbracht hat - wo auch sein neuer Roman "Morduntersuchungskommission" (unsere Kritik) angesiedelt ist. Und Andreas Pflüger und sein Fachberater Professor Dr. Bernhard Sabel sprechen unter anderem über die Verbindung von Literatur und Hirnforschung. Und für den Klassiker-Check holt Thomas Wörchte seinen gesammelten Anthony Price aus dem Schrank.

Besprochen werden unter anderem Steffen Kopetzkys "Propaganda" (Zeit, CrimeMag), Ivy Pochodas "Wonder Valley" (CrimeMag), Peter Kurzecks postumer Band "Der vorige Sommer und der Sommer davor. Das alte Jahrhundert 7" (Freitag), Richard Swartz' "Austern in Prag. Leben nach dem Frühling" (NZZ), Alain Claude Sulzers "Unhaltbare Zustände" (SZ), der Band "We Are Not Numbers. Junge Stimmen aus Gaza" (NZZ) und Jérôme Ferraris "Nach seinem Bilde" (FAZ).
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Film

Getanzte Verhandlungen: Costa-Gavras' "Adults in the Room"

Ziemlich desillusioniert verließ Dietmar Dath Costa-Gavras' beim Filmfestival in Venedig gezeigten Film "Adults in the Room". Die auf einem Buch von Yanis Varoufakis basierende Darstellung der Griechenlandkrise vor einigen Jahren ist ein "platter Aufklärschinken", ja schlimmer noch: "ein Debakel voll völlig richtiger Feststellungen und aufklärender Analyse-Ansätze", schreibt der Kritiker im FAZ-Blog. In der FR widerspricht Daniel Kothenschulte ganz energisch: Costa-Gavras "Adults in the Room" sei ein kleines Meisterwerk: "Es sagt schon einiges aus über die Hollywoodnähe dieses Festivals, dass der falsche Glanz von 'Joker' um den Goldenen Löwen konkurriert, während man einen echten Costa-Gavras nur außer Konkurrenz zu sehen bekommt."

Halblustig: Steven Soderberghs "Panama Papers"

Viel besser fand Dath Steven Soderberghs wohl ziemlich schwarze Panama-Papers-Komödie "The Laundromat", die "vom Konkreten zum Abstrakten" und wieder zurück findet. Taz-Kritiker Tim Caspar Boehme ist von Soderbergh nicht überzeugt: "Soderbergh macht aus dem Material eine halbtheatralische Form von Edutainment. ... Komplexe Themen nachvollziehbar in Szene gesetzt, weiteres Nachdenken bleibt einem freigestellt. Netflix, der Produzent des Films, soll bei seinen eigenen Steuern übrigens auch getrickst haben." Auch bei Olivier Assayas' "Wasp Network" hat er im übrigen gegähnt.

Zur Festivalhalbzeit macht sich Andreas Busche im Tagesspiegel schon mal Gedanken über mögliche Löwenkandidaten: "Kein Konsenskandidat, aber ein starkes Statement (auch für das lateinamerikanische Kino) wäre Pablo Larraíns 'Ema', dessen erratische Energie viele Kritikerinnen und Kritiker positiv verwirrt zurückgelassen hat." Auch auch Pietro Marcellos von Jack London inspiriertem "Martin Eden" rechnet er gute Chancen aus. Zu Larraíns Fans zählte Artechock-Kritiker Rüdiger Suchsland bislang übrigens nicht - aber "Ema" hat ihn überraschenderweise umso mehr gepackt: "Endlich mal ein Film, der nicht nach 20 Minuten verstanden und vorhersehbar ist, nicht glatt ist, sondern gegenwärtig, rau und unklar. Larraín erzählt in Facetten, in unzusammenhängenden Szenen und immer wieder überraschenden Bildern. Ein Film, der aus der unübersichtlichen Gegenwart nicht Nihilismus schöpft, sondern Freiheit."

Weiteres: Geri Krebs trauert in der NZZ um den Zürcher Filmverleih Look Now, der sich nach 31 Jahren aus dem Geschäft zurückzieht. Besprochen wird die Fantasyserie "Carnival Row" (Welt).
Archiv: Film

Design

Die Ausstellung "Bulgari. The Story. The Dream" im Palazzo Venezia und im Castel Sant'Angelo über die italienische Luxus-Schmuck-Schmiede Bulgari regt taz-Kritikerin Brigitte Werneburg zu philosophischen Meditationen an: "Die metaphysischen Lasten von Schmuck, der die Menschheit von Anbeginn begleitete, besonders aber von - mit Heiligkeit und Transzendenz assoziiertem - Gold und Juwelen, hat auch die kapitalistische Marktgesellschaft nicht restlos suspendiert. Dass Bulgari sie in den ästhetischen und konstruktiven Mitteln jener Moderne aufhebt, die wir gerade im Bauhausjahr feiern, im Modul, im Raster und im Materialmix, machte das Unternehmen groß."

Außerdem bespricht Tania Martini einen Bildband über Chanel.
Archiv: Design
Stichwörter: Bulgari, Schmuck, Juwelen, Chanel, Luxus

Musik

Vor sechzig Jahren erschien Miles Davis' "Kind of Blue", schreibt Pierre Monot in der Zeit. Der utopische Charakter des Albums wirkt heute, unter dem Eindruck der politischen und gesellschaftlichen Verschiebungen der letzten Jahre, "etwas sehr weltentrückt", meint er: "1959 war die Moderne amerikanisch, und jeder hätte es wissen können. Heute kann man darüber rätseln, wie solch eine romantische, politisierte, raffinierte und spartanische Platte überhaupt entstehen konnte." Und natürlich passt dieses Album auch ganz hervorragend zum Herbst, der langsam um die Ecke schaut:



Weiteres: In der NZZ schreibt Thomas Schacher über Diana Lehnert, die seit April in Zürich für die klassische Musik zuständig ist. Besprochen werden Diana Ringelsieps und Felix Bundschuhs Reportageband "A Global Mess" über die Punkrock-Szene Südostasiens (taz), das neue Album von Lana del Rey (Pitchfork, mehr dazu hier), das Comeback-Album von Tool (Standard, mehr dazu bereits hier), die Konzerte der Lucerne Festival Academy (NZZ), das neue Album des Disco-Pop-Dups Lower Dens (Jungle World), der Saisonauftakt des Berliner Rundfunk-Sinfonieorchesters unter Vladimir Jurowski (Tagesspiegel), ein Gesprächsband mit dem Dirigenten Bernard Haitink (FAZ) und neue Klassikveröffentlichungen, darunter ein Streichoktett von Reinhold Gliè aus der Reihe von Live-Aufnahmen des Heimbacher Kammermusikfestivals Spannungen (SZ).
Archiv: Musik