Efeu - Die Kulturrundschau

Demagogie der Bilder

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.09.2019. Die FR erliegt in Venedig der Liebe des chinesischen Regisseurs Yonfan für den französischen Schwarzweißfilm. Die NZZ fragt sich, ob Antisemitismus im Literaturbetrieb nur noch verkaufsförderndes Spektaktel ist. Die SZ skizziert die Probleme bei Bewahrung postmoderner Architektur, die der Denkmalschutz selbst schuf. Die FAZ schwärmt von 13 DDR-Malern. Der Standard feiert die Malerin Maria Lassnig. Zeit online hört die Musik eines Untoten.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.09.2019 finden Sie hier

Film

Wehmut nach dem alten Hongkong: Yonfans Animationsfilm "No. 7 Cherry Lane"

Der Hongkong-Chinese Yonfan hat mit seinem in Venedig gezeigten, farblich offenbar an die Filme von Wong Kar-wai angelehnten Animationsfilm "No. 7 Cherry Lane" FR-Kritiker Daniel Kothenschulte schon allein mit seiner cinephilen Geschichte überzeugen können: Es geht um einen charismatischen Lehrer, der mit seiner Mutter gerne französische Schwarzweißfilme schaut. Das "erinnert nicht allein an eine untergegangene Kinokultur. Die Wehmut, die dieses unwiderstehliche Melodram im Zuschauer wecken wird, gilt vor allem einem Hongkong, das spätestens mit der Übernahme durch die Volksrepublik China Geschichte war. ... Regieveteran Yonfan, der mit seinen romantischen Hongkong-Klassikern der achtziger Jahre zwischen westlicher und östlicher Popkultur vermittelte, bezeugt hier eine unbesungene Jugendkultur."

Tazler Tim Caspar Boehme hat derweil den chinesischen Wettbewerbsfilm "Saturday Fiction" von Ye Lou gesehen, ein im Schanghai des Jahres 1941 angesiedeltes Spionagedrama: "In historisch passendem Schwarz-Weiß gehalten, zeichnet Ye Lou so ein Porträt seiner Stadt, auch wenn diese nur in Ausschnitten zu sehen ist." Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche zeichnet das gesellschaftspolitische Spannungsverhältnis nach, in dem sich der schwarze US-Regisseur Nate Parker derzeit bewegt, der am Lido seinen neuen Film "American Skin" präsentiert hat: In den Neunzigern wegen einer Vergewaltigung angeklagt und freigesprochen, bewegt sich der Filmemacher heute zwischen #BlackLivesMatter-Aktivismus und #MeToo-Vorwürfen. Sehr begeistert hat Artechock-Kritiker Rüdiger Suchsland in Venedig die neue, diesmal chronologisch konzipierte Schnittfassung von Gaspar Noés ursprünglich rückwärts erzähltem Film "Irréversible" (2002) gesehen.

Weiteres: Angesichts einiger vielversprechender deutscher Filmdebüts, die in diesem Herbst in die Kinos kommen, ruft Jens Balkenborg in epdFilm das "Jahr der Newcomer" aus. Im Filmdienst spricht Filmemacher Asif Kapadia über seinen Dokumentarfilm "Diego Maradona" (mehr dazu bereits hier, eine weitere Besprechung im Filmbulletin). Peter Kremski porträtiert im Filmdienst den Kölner Filmkünstler Christoph Böll.

Besprochen werden die dritte Staffel der Serie "Der Report der Magd", die in den USA längst als "gesellschaftskritischer Kommentar" aufgefasst wird, wie Marietta Steinhart auf ZeitOnline schreibt, Nadav Lapids Berlinale-Gewinner "Synonymes" (Sissy Mag, Tagesspiegel, unsere Kritik hier) und Michael Kliers "Idioten der Familie" (critic.de).
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Literatur

Mit äußerster Skepsis hat sich NZZ-Kritiker Jürgen Ritte Yann Moix' Reue-Demonstrationen in einer französischen Fernsehsendung angesehen: Von dem heute 51-jährigen französischen Autor waren vor kurzem antisemitische Cartoons und Texte aufgetaucht, die er als Student in einer rechtsextremen Zeitung veröffentlicht hatte (unser Resümee). Der französische Kulturbetrieb hat Moix indes die Absolution erteilt: "Dass in einer grundsätzlich auf Tumult getrimmten Talkshow des öffentlichen Fernsehens, in der auch so dezidiert rechtsextreme Publizisten wie Erik Zemmour regelmäßig Auftritte hatten, über antisemitische Ausfälle wie über einen Seitensprung aus dem Ehebett verhandelt wird, zeigt, dass Antisemitismus inzwischen als Teil des Spektakels eine lediglich lässliche Sünde zu sein scheint - und irgendwie auch verkaufsfördernd wirkt."

Weiteres: Vor der Frankfurter Buchmesse, wo Norwegen Gastland sein wird, wirft Erle Marie Sørheim für den Tagesspiegel einen Blick in die norwegische Comicszene.

Besprochen werden Ulrike Ottingers Schau "Paris Caligrammes" im Berliner Haus der Kulturen der Welt (taz), Nora Bossongs "Schutzzone" (Zeit), Terézia Moras "Auf dem Seil" (NZZ, Tagesspiegel), Patrizia Schlossers "Im Untergrund. Der Arsch von Franz Josef Strauß, die RAF, mein Vater und ich" (Freitag), Denise Minas Kriminalroman "Klare Sache" (FR), Jan Peter Bremers "Der junge Doktorand" (Tagesspiegel), und Norbert Scheuers "Winterbienen" (SZ).
Archiv: Literatur

Architektur

Am Sonntag ist Tag des offenen Denkmals. Zeit, endlich mal über den Denkmalschutz für die Bauten der späten Moderne zu sprechen, meint Ira Mazzoni in der SZ, die stark vernachlässigt würden. "Die Bauten der Boomzeit stellen die Denkmalpflege auf eine harte Probe. Die Denkmalschutzgesetze wurden in Abwehr der Bauten formuliert, die sie jetzt - eine Generation später - beschützen sollen. Die legendäre Wanderausstellung zum Europäischen Denkmalschutzjahr 1975 forderte nachdrücklich eine 'Zukunft für unsere Vergangenheit' indem sie Fotos von üppigen Gründerzeitfassaden mit Hochhausbaustellen kontrastierte. Kritisiert wurden 'Kahlschlagsanierungen', Reißbrett-Ideologie und der Funktionalismus ganz allgemein. Die Nachfolger stehen jetzt vor der schwierigen Aufgabe, die Demagogie der Bilder zu brechen, die halfen, die Institution Denkmalpflege zu festigen."

Besprochen wird außerdem die Ausstellung "original bauhaus" in der Berlinischen Galerie (die SZ-Kritiker Jens Bisky "überraschend gut gelungen" findet).
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Kunst

Maria Lassnig: Woman Laokoon, 1976. Neue Galerie Graz, Universalmuseum Joanneum © Maria Lassnig Stiftung. Foto © N. Lackner/UMJ
Unbedingt sehenswert findet Standard-Kritiker Michael Wurmitzer die Maria-Lassnig-Ausstellung, die jetzt pünktlich zum 100. Geburtstag in der Wiener Albertina eröffnet hat: "Schonungslos ehrlich, verletzlich und verletzt, aber bestimmt sind ihre Bilder. Lassnig hat immer wieder männliche Inhalte der Kulturgeschichte auf sich selbst gemünzt. Während ihrer Jahre in New York ab 1968 entstanden Bilder, die noch in Zeiten von #MeToo Statements abgeben. Als antiker 'Woman Laokoon' kämpft sie erhobenen Hauptes gegen die Schlange. An der Wand gegenüber in der Albertina schlingt sich ihr unterdessen ein Telefonkabel um den Hals: kommunikative Last für den scheuen Geist. Lassnig legt sogar ihre Lebensentscheidungen vor uns nieder. Dass sie nie eine Familie gegründet hat, bereut sie ein Stück weit in Bildern wie 'Illusion von der versäumten Mutterschaft' und 'Illusion von den versäumten Heiraten', auf dem sie der vertanen Chance zwar nicht nachhängt, aber grübelt. Sie hat sich ja nicht unreflektiert gegen Heirat entschieden, sondern gewusst, dass eine solche zulasten ihrer Kunst gehen würde. Wohl will sich deshalb auf 'Froschkönigin' zwischen ihr und dem Tier keine Verbundenheit einstellen. Sie drückt es nackt an ihren Schritt. Diese Bilder bilden in der Albertina ein Triptychon verpasster Gelegenheiten. 'Drastisch' nannte Lassnig ihre Explizitheit."

Elisabeth Voigt | Der rote Stier, 1944-1961, Museum der bildenden Künste Leipzig © Nachlass Elisabeth Voigt, Foto: bpk / Museum der bildenden Künste, Leipzig / Michael Ehritt


Dass DDR-Maler im Westen oft als Staatskünstler kritisiert und ihre figürliche Malerei nicht ernst genommen wurde, findet FAZ-Kritiker Jürgen Kaube nach dem Besuch der Ausstellung "Utopie und Untergang" mit Werken von 13 DDR-Künstlern im Kunstpalast Düsseldorf nicht gerechtfertigt: "Die bis in diese Tage wiederholte Behauptung, man habe in der DDR so malen müssen wie Willi Sitte, an dessen Werk nicht viel zu retten ist, Bernhard Heisig, Tübke oder eben Mattheuer, und das allein beweise die Unfreiheit, ist schon dadurch kurios, dass keiner von ihnen so malte wie der andere. Außerdem zeigt die Ausstellung, dass eine ganze Reihe von Malern und Malerinnen dann eben die Einsamkeit - oder im SED-Jargon: 'die gesellschaftliche Selbstisolierung', die aber auch Mattheuer vorgeworfen wurde - der Anerkennung vorzogen."

Weiteres: Im Interview mit der taz spricht die Berliner Künstlerin Ilgen-Nur über ihre Inspirationen und über #metoo: "Cis-Frauen-Feminismus regt mich auf." Besprochen wird außerdem die Maria-Lassnig-Ausstellung in der Wiener  (Standard)
Archiv: Kunst

Bühne

"Orlando" an der Schaubühne. Foto: Stephen Cummiskey

An der Schaubühne hat Katie Mitchell Virginia Woolfs "Orlando" als Komödie auf die Bühne gebracht. Nachtkritikerin Anne Peter gefällt das gar nicht: "Der 300-Seiten-Roman, der schon bei Woolf ein schwindelerregender Ritt durch die Jahrhunderte ist, wird bei Mitchell/Birch mit Vorspultaste in weniger als zwei Stunden durchrast und dabei verschiedene Insignien der Jetztzeit hineingewirbelt: Da koksen die elisabethanischen Dichter und werden Tampons entpackt. Hier rutscht ein herzhaftes 'Fuck!', dort ein 'Du Fotze!' hinein, und auf den Adelspartys des 18. Jahrhunderts zucken Perückenköpfe zu Techno. Dadurch verschwimmen die Grenzen der Epochen einmal mehr und der Woolf'sche Effekt, die historische Bedingtheit der jeweiligen Konventionen hervorzukehren, geht ziemlich unter. Die verschiedenen Zeiten sind somit weniger Erkenntnismotor als bloßer Anlass für den schnellen Frisurenwechsel oder das hastige Anlegen eines Korsetts. Eine Verkleidungsshow mit angeblich 89 Kostümwechseln, an der man das reibungslose Abspulen bewundern kann, die sich aber inhaltlich schnell erschöpft."

Weiteres: Tierschützer haben vorgeschlagen, bei den Oberammergauer Festspielen Jesus auf einem Scooter statt auf einem Esel in Jerusalem einziehen zu lassen, meldet der Tagesspiegel. Die Festspiele haben das zurückgewiesen: "Die Passionsspiele stünden in einem historischen Kontext, in dem es noch keine Elektrofahrzeuge gegeben habe." In der FAZ berichtet Ana Popescu über das Enescu-Musik- und Kunstfestival, das in elf Städten Rumäniens gleichzeitig stattfindet. In der NZZ stellt Corina Kolbe Aviel Cahn vor, den neuen Intendanten am Grand Théâtre de Genève

Besprochen werden Lucas De Mans "In Search Of Democracy 3.0" am Staatstheater Mainz (nachtkritik) und Offenbachs "Hoffmanns Erzählungen" am Staatstheater Mainz (FR).
Archiv: Bühne

Musik

Eine Kostbarkeit aus dem Fundus unveröffentlichter Miles-Davis-Musik scheint mit "Rubberband" nun wirklich nicht gehoben worden zu sein, wenn man Ulrich Stock von ZeitOnline glauben kann: Man könne jedenfalls rasch zu der Ansicht gelangen, dass mit diesen Mitte der Achtziger entstandenen, seinerzeit aber unvollendet gebliebenen Aufnahmen "das unnötigste und peinlichste Album" des Trompeters erscheint. Doch handelt es sich sich im Grunde genommen um gar kein wirkliches Davis-Album: "'Rubberband' ist die Musik eines Untoten, die von Wegbegleitern und Nachfahren tiefergelegt wurde und nun unters Jungvolk geschoben wird, um dem großen Meister ein neues Publikum zu verschaffen." Dabei  "muss Davis nicht adaptiert werden. Man malt der Mona Lisa ja auch kein Handy in die Hand." Davis' Versuch, sich den damals neuen Klangtexturen von Hip-Hop und Pop anzunähern, schlug gründlich fehl, meint auch Andrian Kreye in der SZ: "Rückblickend waren der Drumcomputer Roland TR-808 oder das Yamaha Keyboard DX7 so etwas wie musikalische Schulterpolster." Davis' "Trompete bleibt ein Fremdkörper. Fast unsicher sucht er im viel zu mathematischen Raster der Musik den Weg für den Strahl seines Instruments. Beherrschte er den Funk-Brutalismus seiner Siebzigerjahre-Bands noch souverän von oben, so scheint er da die Kontrolle zu verlieren über eine musikalische Entwicklung, die er verstehen, aber nicht beherrschen konnte." Wir finden, es groovt:



Weiteres: An der Berliner Staatsoper herrsche weiterhin ein Betriebsklima der Angst, behauptet Frederik Hanssen im Tagesspiegel, nachdem im Van Magazine erneut Vorwürfe gegen Daniel Barenboim bekräftigt wurden, dass der Dirigent einen körperlich übergriffigen Führungsstil pflege. Ana Popescu berichtet in der FAZ vom Enescu-Festival, das sich mittlerweile über elf rumänische Städte erstreckt.

Besprochen werden neue Alben von Iggy Pop ("In Würde altern - so könnte es aussehen", meint Nadine Lange im Tagesspiegel, mehr dazu im gestrigen Efeu) und Lana del Rey (NZZ, taz, Standard, mehr dazu hier). Im Video zu "Doin' Time" tritt del Rey als Wiederkehr der "50 Foot Woman" aus dem Horrorkino der Fünfziger auf und lustwandelt in eigenen Höhen durch die Stadt:

Archiv: Musik