Efeu - Die Kulturrundschau

'Ich' sagt das arme Kind

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14.10.2019. In der anhaltenden Debatte um Peter Handke wirft Bora Cosic in der NZZ die Frage auf: Gibt es ein Verbrechen des Denkens? Die NZZ bewundert zudem, wie Helmut Lachenmanns "Mädchen mit den Schwefelhölzern" in Zürich die kalte Realität überwindet. Die SZ lernt in der Alten Nationalgalerie, dass die Kunstgeschichte die größte Feindin der Künstlerin ist. In der FAZ verrät der Pianist Daniil Trifonov, dass sich Rachmaninow am besten unter Wasser übt. Und der Freitag stellt uns den französischen Ken Loach vor: den Regisseur Louis-Julien Petit.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.10.2019 finden Sie hier

Bühne

Dekoration und Transzendenz: Helmut Lachenmann an der Oper Zürich Foto: Gregory Batardon
Zwanzig Jahre hat es gedauert, bis Helmut Lachenmanns "Mädchen mit den Schwefelhölzern auch in der Schweiz gezeigt wird. In der NZZ zeigt sich Elonore Büning als große Bewunderung von Lachenmanns "nichtnarrativer, nichtnachsingbarer, nichtretrospektiver, nichterinnerbarer" Musiksprache von schlichter Klarheit und kraftvoller Schönheit. Überrascht hat sie allerdings, wie gut ihr die luxurierende Arbeit von Christian Spucks Ballett hierbei gefällt: "Kann das überhaupt zusammengehen? Spucks Liebe zur Dekoration und die nichtdekorative Transzendenz Lachenmanns? Diese haptisch-dralle Bildschönheit einer extrem kanonisierten Körpersprache und die Askese der ausgesparten Töne? Natürlich nicht. Es kommt an diesem Abend, wie erwartet, immer wieder zu Reibung, Überfrachtung und Verdopplungen. Aber auch zu Überraschungen. Denn wie uns die Märchenerzählung Hans Christian Andersens - und Lachenmanns Musik dazu - lehrt, entspringt erst aus Reibung das Feuer, das die kalte Realität überwinden kann. 'Ich!', sagt das arme Kind, ausgemustert aus der Gesellschaft der Wohlanständigen, das sich nicht nach Hause traut und kurz vor dem Erfrieren steht, in die Dunkelheit hinein. Und zündet, 'Ritsch!', selbst eines seiner Zündhölzer an."

Besprochen werden Antú Romero Nunes' dunkle Peter-Pan-Version "Neverland" am Thalia Theater Hamburg (Nachtkritik), Heiner Müllers von Sandra Hüller gesprochener Monolog "Hydra" am Bochumer Schauspielhaus (SZ), Ödön von Horvaths Stück Kasimir und Karoline" in Konstanz (NZZ), Roger Vontobels nordisch protestantische Inszenierung von Ibsens "Brand" (Nachtkritik, FR, FAZ), Darius Milhauds Oper "Chistophe Colomb" am Theater Lübeck (FAZ), Heiner Müller "Hamletmaschine in Greifswald (Nachtkritik) und "Don Giovanni" an der Neuköllner Oper (Berliner Zeitung).
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Literatur

Die Debatte um Peter Handkes Literaturnobelpreis hält an (unser erstes Resümee). Stein des Anstoßes bleibt Handkes Engagement für Milosevic. Der serbokroatische Schriftsteller Bora Ćosić vergleicht Handke in der NZZ mit Knut Hamsun, der 1920 den Literaturnobelpreis erhielt, später dann aber offen mit den Nazis sympathisierte. Wie Hamsun habe sich Handke eines "Verbrechen des Denkens" schuldig gemacht - aber Ćosić bleibt ironisch: "Ein halbes Jahrhundert nach Hamsun stand er auf der Seite eines verbrecherischen Staates, vergötterte seinen Führer, eignete sich dessen Ideen an. Er nahm nicht an kriminellen Handlungen teil, schoss nicht aus Kanonen auf Sarajevo, prahlte nicht mit dem abgeschnittenen Ohr eines Kroaten. Er zog angesichts dieser Ereignisse lediglich den Kopf ein, weil er sie für gerecht hielt. Er verneigte sich auch am Grab des verstorbenen Tyrannen wie ein wahrhaft Gläubiger. Wobei er der größte lebende Dichter seines kleinen Landes blieb."

Für Jagoda Marinić ist diese Auszeichnung "ein Schlag ins Gesicht, nicht nur für die Betroffenen der Massaker in Bosnien", schreibt die Schriftstellerin in der taz. "Es ist ein Schlag ins Gesicht all jener, die an Menschenrechte und Fakten glauben. Es geht beim Nobelpreis nicht nur darum, ob Handke Prosa schreiben kann, die preiswürdig ist. Es geht darum, ob sein Werk als Ganzes den Nobelpreis verdient" und "mit dem Jugoslawienkrieg trat auch in seine Texte die Geschichtsleugnung und Unbelehrbarkeit, für die er als Person umstritten ist."

Ed Vulliamy hatte in den neunziger Jahren vom Balkan berichtet. Im Guardian zeigt er sich fassungslos: "Mit seinem Buch 'Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina' und seiner Rede bei Miloševićs Beerdigung brachte Handke nicht nur seine Meinung zum Ausdruck, sondern er unternahm hohe Anstrengungen, einem Massenmörder und in diesem Kontext Lügen Glaubwürdigkeit zu verleihen. Er bot an, für Milošević in Den Haag auszusagen. Wäre es so weit gekommen, hätten wir uns wohl getroffen - auf gegnerischen Seiten."

Das Feuilleton der FAZ drückt sich vornehm vor der Debatte. Einen Kommentar zum Thema findet man auf der Meinungsseite der gestrigen FAS: Diese Auszeichnung ist ein Fehler und die Abwiegelungen in deutscher Politik und im Feuilleton sind "schlicht", meint Michael Martens. "Für die Opfer jener Politik, die Handke poetisiert hat, birgt die Stockholmer Entscheidung eine andere Botschaft. Für Hinterbliebene des Massakers von Srebrenica zum Beispiel, bei dem 1995 etwa 7.000 Muslime ermordet wurden." Die SZ meldet unterdessen, dass die schwedische Literaturwissenschaftlerin und frühere Akademiepräsidenten Sara Danius gestorben ist.

Peter Maas spannt in The Intercept einen Bogen des serbischen Nationalismus zur heutigen gespenstischen Wiederkehr des Nationalismus: "Stockholm mag weit weg liegen von Bosnien, aber nicht so weit von Norwegen, wo der Terrorist Anders Breivik 2011 77 Menschen umbrachte, viele davon Kinder in einem Ferienlager. Breivik war vom Balkan besessen und pries die serbischen Nationalisten, Miloševics Marionetten. Die Serben, die durch Bosnien wüteten, zu verteidigen, ist in unserer heutigen Kultur kein harmloser Akt der Ignoranz, mit dem zu hantieren ein Preise vergebendes Kommittee keine Verantwortung hätte. Solche völkermord-freundlichen Meinungen nähren eine Welle der Gewalt, die uns konkret betrifft."

Der Standard, der sich kurz nach der Bekanntgabe besonders mit relativierenden Positionen hervorgetan hat, lässt nun Adelheid Wölfl kritische Stimmen zu dieser Auszeichnung sammeln. Außerdem twittert der Schriftsteller Saša Stanišić weiterhin fast ausschließlich zum Thema.

Heute wird zudem der Deutsche Buchpreis verliehen. Ein vor kurzem in der Presse veröffentlichter Bericht der Jurorin und Petra Hartlieb, die sich vor allem über mangelnde Verkaufbarkeit mancher nominierter Titel beschwert hatte (unser Resümee), "ist dem Renommee des Deutschen Buchpreises (...) nicht förderlich", kommentiert Gerrit Bartels im Tagesspiegel. Dass der Preis sich bis dahin von dem Eindruck, es handle sich um eine verkaufsförderliche Werbemaßnahme des Börsenvereins, emanzipiert hatte, lag vor allem an den "weitgehend klugen Entscheidungen" bisheriger Jurys, meint Carsten Otte in der taz. "Die Frage ist nur, ob die Aufmerksamkeit schwindet, wenn der Preis irgendwann so wahrgenommen wird, wie die Buchhändlerin Hartlieb es sich wünscht: 'Der Roman, der hier gekürt werden wird und danach hoffentlich in großen Mengen über den Ladentisch geht, soll für viele Leute lesbar sein und sie vielleicht sogar dazu animieren, öfter zum Buch zu greifen.' Das ist natürlich Unsinn, weil nicht einmal der Börsenverein von seiner Jury verlangt, die Titel müssten leicht zu lesen und gut verkäuflich sein. Dennoch distanziert sich der Preisstifter auch auf Nachfrage keineswegs von solchen Äußerungen." Die Welt hat ihr Gespräch mit den Debüt-Autorinnen und -Autoren aus der Shortlist des Buchpreises online gestellt.

Schwenk nach Norwegen, dem diesjähigen Gastland der Frankfurter Buchmesse. Die FAZ hat Matthias Hannemanns Gespräch mit dem norwegischen Literaturkritiker Bernhard Ellefsen online nachgereicht. Den Begriff "Wirklichkeitsliteratur", mit dem die Bücher seines Landes derzeit oft beschrieben werden, mag er nicht sonderlich - auch wenn er einräumt, dass der autobiografische Roman derzeit einen "literarischen Raum" darstellt, "zu dem die Türen weit offen stehen." Die norwegische Kronprinzessin Mette-Marit wird die Frankfurter Buchmesse besuchen, schreibt Aldo Keel in der NZZ. Mit der Literatur Norwegens befasst sich Peter Urban-Halle im Feature für Dlf Kultur. Außerdem bringt der Sender eine Lange Nacht, in der sechs Autorinnen und Autoren aus Norwegen ihre Bücher vorstellen.

Weiteres: Für den Standard hat Bert Rebhandl ein großes Gespräch mit dem rumänischen Schriftsteller Mircea Cartarescu geführt. Alex Rühle denkt in der SZ über Nature Writing nach - passend dazu hat sich Catrin Lorch mit dem Schriftsteller Robert Macfarlane unterhalten. In seiner "Lahme Literaten"-Kolumne in der Jungle World nimmt sich Magnus Klaue diesmal den schreibenden Rechtsanwalt Ferdinand von Schirach vor. Nachrufe auf Sara Danius, die von 2015 bis 2017 als Ständige Sekretärin der Schwedischen Akademie vorstand, schreiben Matthias Hannemann (FAZ) und Thomas Steinfeld (SZ).

Besprochen werden Nora Bossongs "Schutzzone" (Freitag), Norbert Scheuers Tagebuch-Roman "Winterbienen" (Zeit, NZZ), Miku Sophie Kühmels "Kintsugi" (Zeit, Dlf Kultur),Lisa McInerneys Krimi "Blutwunder" (Presse), Lene Albrechts Debütroman "Wir, im Fenster" (Freitag), neu übersetzte Bücher des norwegischen Schriftstellers Agnar Mykle (Freitag), Ulrike Draesners "Kanalschwimmer" (Freitag), Dietmar Daths neuer Science-Fiction-Roman "Neptunation" (Freitag), Tonio Schachingers für den Deutschen Buchpreis nominierter Fußballroman "Nicht wie ihr" (taz), neue Übersetzungen von Romanen des norwegischen Schriftstellers Dag Solstad (taz) und Alain Mabanckous "Petit Piment" (SZ).

Archiv: Literatur

Kunst

Sabine Lepsius, Selbstbildnis, 1885 © Nationalgalerie Berlin / Jörg P. Anders
Eigentlich hätte eine Ausstellung wie "Kampf um Sichtbarkeit" in der Alten Nationalgalerie längst überholt sein müssen, die einfach nur Künstlerinnen und Bildhauerinnen verschiedener Stilrichtungen zusammenbringt, nur weil sie Frauen sind, seufzt Kia Vahland in der SZ. Ist sie leider nicht, das Museum muss erst einmal seine eigenen Bestände aufarbeiten, weiß Vahland und erzählt: "Um 1900 bemühten männliche Theoretiker das Konstrukt, Frauen könnten nur nachschöpfen, nicht erfinden. Es war die Zeit, in der manch ein Mann zugleich dem Fantasma der femme fatale anhing. Das Weibliche galt als potenziell gefährlich, besonders da, wo es als nicht mehr kontrollierbar erschien. Die größte Feindin der malenden und meißelnden Frauen war am Ende die Kunstgeschichte. Etliche der ausgestellten Künstlerinnen, darunter die russische Avantgardistin Natalja Gontscharowa, galten in ihrer Zeit als Stars, wurden aber im späteren 20. Jahrhundert als nachrangig herabgewürdigt. Das trifft selbst die Ausnahmekünstlerin der Schau, Paula Modersohn-Becker."

Im Tagesspiegel betont Simone Reber: "Die Künstlerinnen waren keineswegs unsichtbar, ihre Werke wurden auch von der Nationalgalerie angekauft. Die meisten Bilder dieser Ausstellung aber waren bisher noch nie auf der Museumsinsel zu sehen. Offenbar verlieh das Museum Bilder von Malerinnen besonders gern als Wandschmuck an öffentliche Institutionen. Um sich einen Namen zu machen, konnten sich die Künstlerinnen also nicht auf das Prestige der Museumsausstellung verlassen."

Weiteres: Offenbar durften jetzt auch nicht-amerikanische Kritiker das umgebaute Moma besichtigen. Im Tagesspiegel berichtet Bernhard Schulz, in der FAZ Frauke Steffens von der Verjüngung und Diversifizierung der Bestände (unser Resümee).

Besprochen werden Elizabeth Peytons Schau "Aire and Angels" in der National Portrait Gallery in London (deren Künstlerinnen-Porträts Bidisha im Observer wie ein Mode-Shooting aus den Neunzigern vorkam: "Alle sind weiß und keine lächelt.") und die Alfred-Schmeller-Ausstellung "Das Museum als Unruheherd" im Wiener Mumok (Standard).
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Film

Straßenerfahrung und Improvisation: "Der Glanz der Unsichtbaren"

Louis-Julien Petit ist der französische Ken Loach, erklärt Barbara Schweizerhof im Freitag: Wie der britische Kollege macht er ehrliches, handfestes Kino in Solidarität mit den Ausgestoßenen und Marginalisierten der Gesellschaft. In "Der Glanz der Unsichtbaren" widmet er sich nun einer Gruppe obdachloser Frauen, die mit Mut zur Selbsthilfe kurzerhand ein leerstehendes Haus besetzen. Dem Regisseur "gelingt etwas Einmaliges: ein Film von ansteckender Leichtigkeit, der sein niederschmetterndes Thema dennoch ernst nimmt; ein Film, der gute Gefühle macht, aber tiefer geht als die konfektionierten Emotionen eines Feelgoodmovies. ... Die obdachlosen Frauen werden von Laien verkörpert, die meist selbst Straßenerfahrung haben. Sie füllen hier nicht nur die Rollen am Rand aus, sondern sind durch viele in Improvisation entstandene Szenen das eigentliche Herz des Films." Die FAZ hat Bert Rebhandls Besprechung online nachgereicht.

Weiteres: Daniela Sannwald berichtet im Tagesspiegel vom Filmfestival im türkischen Ayvalik. Kurze Nachrufe auf den Schauspieler Robert Forster schreiben Verena Lueken (FAZ) und Tobias Kniebe (SZ). Besprochen wird der japanische Netflix-Film "The Forest of Love" (SZ).
Archiv: Film

Musik

Für die FAZ hat Jan Brachmann ein großes Gespräch mit dem Pianisten Daniil Trifonov über dessen anhaltende Auseinandersetzung mit Rachmaninow geführt. Das Werk des russischen Komponisten ist eine beträchtliche Herausforderung, erfahren wir. Denn "es gibt Passagen in seiner Musik, die - wenn man sie zu früh spielt - zur Verinnerlichung schlechter Angewohnheiten führen können", etwa "mit den Schultern herumzutanzen. Man braucht für Rachmaninows Musik verschiedene pianistische Techniken, die herauszufinden mich selbst einige Zeit gekostet hat. Ich übe sein zweites Klavierkonzert bis heute gern unter Wasser, im Swimmingpool. Der Klang in dem Konzert muss Wärme haben und zugleich leuchten. Es darf keine allzu scharfen Attacken geben. Ich brauche dazu feiner abgestufte Körperbewegungen. Da hilft das Üben unter Wasser. Sie aktivieren andere Muskelschichten dabei, spielen auch stärker aus der Wirbelsäule und den Schulterblättern heraus. "

Weiteres: Jan Paersch plaudert in der taz mit Leif Nüske, der in den Neunzigern den legendären Hamburger "Mojo Club" gründete. In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Katharina Cichosch über "True Love Will Find You in the End" des kürzlich verstorbenen Indiemusikers Daniel Johnston.

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